ist die Grundlage, damit der Fortschritt in der Gesellschaft ankommt und von ihr weitergetragen wird. Das betrifft Ärzte und Patienten gleichermaßen, denn beide Gruppen eint, dass sie häufig ein verzerrtes Bild von Zukunftsmedizin haben. Mit übertriebener Sorge vor möglichen Gefahren wie Datenmissbrauch und wenig Ideen, wie sie selbst von digitalen Produkten profitieren können.
7.2 Mehr Menschlichkeit in der Pflege statt „Terminator“
Wie sieht unser Bild von der Medizin der Zukunft heute aus? Wie stellen wir uns eine Medizin vor, in der der Einsatz von Robotern, Künstlicher Intelligenz und Datenauswertung so alltäglich ist wie das Abhören mit dem Stethoskop? Wenn ich nach den Rückmeldungen der Teilnehmer meiner Vorträge gehe, herrschen bei diesem Thema Gefühle wie Unbehagen oder gar Angst vor. Eine Teilnehmerin sagte mir kürzlich, ihre Mutter sei jetzt über 80 Jahre alt. Der Umzug ins Altenheim stehe an. Der Gedanke, dass dort in einigen Jahren nur noch Roboter auf den Gängen herumfahren und die alten Menschen versorgen, sei für sie eine Horrorvorstellung. Solche und ähnliche Bilder tauchen in den Köpfen vieler Menschen auf, wenn sie an Zukunftsmedizin denken. Tatsächlich ist unsere Vorstellung von Künstlicher Intelligenz stark geprägt von Science-Fiction-Filmen wie „Star Wars“ oder „Terminator“. Das fand eine Studie des Meinungsforschungsinstitut Allensbach im Jahr 2019 heraus. Können wir uns den freundlichen R2D2 noch als Hausgenossen vorstellen, rührt der Terminator an unserer Ur-Angst der dem Menschen überlegenen Technik, die sich am Ende gegen ihn wendet.
Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz im realen Pflegeheimalltag sieht hingegen folgendermaßen aus: Pflegekräfte im Altenheim verbringen heute rund 30 Prozent ihrer Arbeitszeit mit Dokumentation. Drei junge Informatikstudenten kamen auf eine clevere Idee: Genauso wie wir per Alexa bei Amazon einkaufen, können künftig Pflegende die zu dokumentierenden Informationen in ein Smartphone sprechen statt sie am Schreibtisch in den Computer tippen. Nach diesem Prinzip funktioniert die App, den die Gründer in ihrer Firma Voize entwickelten. Der Sprachassistent ist speziell auf die Bedürfnisse im Medizinbereich zugeschnitten. Er muss keinen großen Wortschatz haben, dafür medizinische Fachbegriffe erkennen. Die App muss offline funktionieren, da nicht alle Einrichtungen flächendeckend über WLAN verfügen. Und der Datenschutz muss natürlich gewährleistet sein. Dazu verarbeitet das Gerät den Text direkt auf dem Gerät, statt über den Umweg einer Cloud, wie es Siri oder Alexa tun. Einzig beim Übertragen der Daten in die Pflegesoftware wird WLAN benötigt. Verschlüsselt sind die Daten selbstverständlich auch. Langfristig soll diese Art der Dokumentation den Pflegenden mehr Zeit für die Bewohner verschaffen: für ein Gespräch, einen Spaziergang, gemeinsames Lachen. Kurz: Für mehr Menschlichkeit.
7.3 Wir brauchen eine inspirierende Kommunikation über Zukunftsmedizin
Wir werden diese digitalen Helfer in naher Zukunft brauchen. Eine Umfrage des DGB aus dem Jahr 2018 hat ergeben, dass 69 Prozent aller Pflegenden gestresst sind. 80 Prozent sagen laut Umfrage sogar voraus, dass sie ihren Beruf nicht bis zur Rente ausüben werden. Wenn digitale Produkte unter diesen Voraussetzungen Pflegende in ihrem Berufsalltag unterstützen, ist dies eine positive Nachricht, die wir auf allen Kanälen verbreiten sollten. Denn darum geht es beim Einsatz der Instrumente der digitalen Medizin: Ärzte und Pflegende bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Sie hat das Potenzial, Medizin und alle die darin arbeiten, wieder näher an die Bedürfnisse von Patienten und Bewohnern zu bringen und den Arbeitsalltag zu erleichtern.
Viele Menschen haben ein völlig verzerrtes Bild davon, wie der Einsatz von digitaler Medizin im Alltag konkret aussieht. Der Grund dafür liegt meiner Meinung nach darin, dass die Kommunikation über die neuen Technologien häufig an den Menschen vorbei geht. Ein Beispiel ist die Corona-App. Anfangs gab es eine große Kampagne, die durchaus wirksam war. Über 18 Millionen Downloads konnte die App in kurzer Zeit verzeichnen. Das war ein gutes Ergebnis. Doch dann brach die Kommunikation einfach ab. Anstatt am Ball zu bleiben und eine Vision zu erschaffen, wieviel Freiheit wir erlangen, wenn wir sie richtig nutzen, wurden die Menschen allein gelassen. Nur durch den bloßen Download kann eine solche App ihre Kraft nicht entfalten. Aber da bleibt das Sprechen über die Möglichkeiten von Technik zu technokratisch, zu bürokratisch.
Wir brauchen eine neue Kommunikation über Zukunftsmedizin, die uns inspiriert. Die eine Vision bietet, was für uns als Individuum und als Gesellschaft möglich sein wird, wenn wir neue Technologien in unserem Alltag integrieren. Es hilft dem Fortschritt nicht, bedrohliche Zukunftsszenarien zu zeichnen, die manches mal mehr mit Science Fiction zu tun haben als mit der Realität.
Alles, was wir tun, jede Technik, die wir verwenden, ist – theoretisch – mit Risiken verbunden. Wir wissen alle, dass Häuser einstürzen können, deswegen lassen wir uns jedoch nicht vor Betreten eines Gebäudes vom Baustatiker ein Gutachten über die Statik zeigen. Wir als Fachleute im Bereich Medizin müssen lernen, so über die Neuheiten in unserem Fach zu kommunizieren, dass Patienten ein echtes von einem rein gefühlten Risiko unterscheiden können. Nur so werden wir auf breiter Basis Akzeptanz für das Thema schaffen.
Das betrifft nicht Patienten allein. Ein Vertreter für Medizintechnik erzählte mir neulich, dass einige Ärzte nicht einmal einen Internetanschluss in ihrer Praxis haben aus Angst vor Datenmissbrauch. Viele Ärzte wissen gar nicht, wieviel Zeit und Geld sie sparen können, wenn sie digitale Instrumente nutzen.
Datenschutz ist in diesem Zusammenhang ein gutes Beispiel. Natürlich, Gesundheitsdaten müssen sicher sein. Aber wir müssen Patienten wie Ärzten klar machen, dass Daten nicht nur missbraucht, sondern auch genutzt werden können. Denn wer sie nicht nutzt, kann auch nicht von ihnen profitieren. Meines Erachtens wissen Patienten wie Ärzte bisher viel zu wenig darüber, wie sie von neuen Technologien profitieren können. Wüssten sie dies, würden sie viel häufiger die Entscheidung zugunsten eines medizinischen Produkts stellen. Die Frage nach dem Datenschutz wäre ganz schnell nur noch eine unter vielen. Unser Bundesgesundheitsminister hat den Ausspruch geprägt: „Datenschutz ist etwas für Gesunde.“ (Spahn et al. 2016, S. 25). Auch wenn Datenschützer ihm schnell Zynismus unterstellen, ist da viel Wahres dran. Wenn Sie bewusstlos auf der Straße liegen, ist Ihnen der Datenschutz egal. Dann wollen Sie die bestmögliche medizinische Behandlung. Mit einer Elektronischen Patientenakte, in der aktuelle Medikamente, Werte, Untersuchungen und Erkrankungen aufgeführt sind, könnte ein Notarzt Sie im akuten Fall deutlich sicherer behandeln als heute.
Die Begeisterung für Technik kommt nicht von allein.
Darüber müssen wir uns im Klaren sein. Die eingangs zitierte Studie sah interessanterweise als einen der Gründe für das schlechte Abschneiden Deutschlands bei der Digitalisierung die Einstellung der Deutschen an. Eine alternde und immer älter werdende Gesellschaft richtet natürlicherweise den Fokus auf die Bestandswahrung und weniger auf die Gestaltung der Zukunft (vgl. Steingarts Morning Briefing). Gesellschaften wie unsere reagieren auf Veränderungen typischerweise in der Reihenfolge der drei A’s: Angst, Ablehnung, Adaption. Wir sehen, dass es ein weiter Weg ist, bis das Neue im Alltag ankommt. In einer Zeit, in der Fortschritt exponentiell verläuft, kommt die Adaption in diesem Modell hoffnungslos zu spät.
7.4Nicht bloß Wissen vermitteln, sondern Begeisterung
Für uns als Fachleute ist es wichtig, um diese Grundvoraussetzung zu wissen, wenn wir Neues kommunizieren. Wenn wir eine Neuerung vorstellen und als erstes über Dinge sprechen, die diese Ängste und Ablehnung weiter verstärken – wie zum Beispiel über die theoretische Möglichkeit eines Datenmissbrauchs – werden Patienten schwerlich bereit sein, überhaupt etwas auszuprobieren. Dieses Ausprobieren, neugierig sein, sich einlassen ist jedoch essenziell, um Entwicklungen voranzutreiben. Medizin der Zukunft lebt zumindest zum Teil davon, dass wir als Ärzte und Patienten uns als „User“ verstehen. Natürlich sind auch digitale Medizinprodukte mit validen Studien hinterlegt. Aber im Alltag leben sie wie alle digitalen Devices davon, dass sie im Gebrauch weiterentwickelt werden. Hersteller sind auf unsere Rückmeldungen angewiesen. Was wir nicht nutzen, verschwindet wieder