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Die »Ereignismeldungen UdSSR« 1941


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wonach „am 24. Juni 1941 in Garsden 201 Personen (einschl. 1 Frau), am 25. Juni 1941 in Krottingen 214 Personen (einschl. 1 Frau)“ und „am 27. Juni 1941 in Polangen 111 Personen erschossen“ wurden. Es handelte sich hierbei um drei der frühesten Massenexekutionen nach dem Überfall auf die Sowjetunion.36 Für die hier zu untersuchende Frage sind einige Textpassagen zum Ablauf der Verbrechen wichtig. Im Bericht heißt es: „In Garsden unterstützte die jüdische Bevölkerung die russische Grenzwacht bei der Abwehr der deutschen Angriffe. In Krottingen wurden in der Nacht nach der Besetzung 1 Offizier und 2 Quartiermacher von der Bevölkerung heimtückisch erschossen. In Polangen wurde 1 Offizier am Tage nach der Besetzung ebenfalls von der Bevölkerung hinterhältig erschossen. Bei allen drei Großeinsätzen wurden vorwiegend Juden liquidiert. Es befanden sich darunter jedoch auch bolschewistische Funktionäre und Heckenschützen, die zum Teil als solche von der Wehrmacht der Sicherheitspolizei übergeben worden waren.“ Es folgten nähere Angaben zur Durchführung der drei Aktionen in Verbindung mit Einheiten von Ordnungspolizei und Wehrmacht nach Absprache mit dem Chef der Einsatzgruppe A, Dr. Walter Stahlecker, „der grundsätzlich sein Einverständnis zu den Säuberungsaktionen in der Nähe der deutschen Grenze erklärte“. Gegen Ende erwähnt der Bericht noch weitere „Strafaktionen“ im litauischen Augustowo durch Angehörige des Grenzpolizeikommissariats Sudauen mit dem Zusatz: „Der Reichsführer-SS und der Gruppenführer [Heydrich], die dort zufällig anwesend waren, ließen sich über die von der Staatspolizeistelle Tilsit eingeleiteten Maßnahmen unterrichten und billigten diese in vollem Umfang.“37

      Ein Vergleich dieses Rapports aus dem ostpreußischen Tilsit mit den im RSHA zusammengestellten Meldungen erbringt einige interessante Aufschlüsse. Der als Einschreiben übersandte Bericht brauchte immerhin mehrere Tage, bis er in Berlin verarbeitet werden konnte. EM 11 vom 3. Juli brachte (unter der falschen Rubrik „Einsatzgruppe D“) zwar den Hinweis, daß verschiedenen Sipo- und SD-Instanzen in Grenznähe – BdS Krakau, Stapo-Stellen Tilsit und Allenstein – die „Genehmigung“ erteilt worden sei, „durch zusätzliche vorübergehend wirkende Einsatzkommandos die ihren Grenzabschnitten gegenüberliegenden neu besetzten Gebiete sicherheitspolizeilich zu bearbeiten und zu säubern“, um den Einsatzgruppen „größtmöglichste Bewegungsfreiheit“ zu sichern. Es fehlte jedoch jeder Hinweis auf die aus Tilsit gemeldeten Massenerschießungen. Das änderte sich am 4. Juli mit EM 12, doch wurde die bisherige Opferzahl mit 200 viel zu niedrig angesetzt. Zudem fehlten die aus Tilsit übermittelten Angaben zu den Gründen und zur Durchführung mit der in Augustowo erteilten Billigung durch Himmler und Heydrich als wichtigstem Aspekt. Erst am 6. Juli fanden mit EM 14 die drei „Großsäuberungsaktionen“ der Tilsiter Dienststelle Erwähnung, wobei der Wortlaut zu den Zahlen und zur Begründung weitgehend mit dem des Tilsiter Berichts vom 1. Juli übereinstimmt. Dennoch fehlten auch hier wiederum Hinweise auf Durchführungsmodalitäten, die Erschießungen in Augustowo und auf die Besprechung mit Himmler und Heydrich. Im „Tätigkeits- und Lagebericht Nr. 1“ vom 31. Juli 1941 ist nur en passant und ohne weitere Information zu den Beteiligten davon die Rede, daß in Garsden, Krottingen und Polangen „insgesamt fünfhundert Juden und Heckenschützen liquidiert“ worden seien.38

      Auffällig an der Berichtskette von Tilsit nach Berlin und weiter zu den Empfängern der EM und Sammelberichte ist zum einen die relativ große zeitliche Distanz zwischen Absendedatum und fertiggestellten RSHA-Meldungen. Mag die Übermittlungsform – mittels Einschreiben ohne Geheimhaltungsstufe von der Peripherie in die Hauptstadt – hier eine verzögernde Rolle gespielt haben, so ist andererseits anzunehmen, daß eine Dienststelle im Reichsgebiet, um die es sich bei der Stapo-Stelle Tilsit ja handelte, schneller nach Berlin berichten konnte als frontnahe Einheiten, denen oft ein stabiles Kommunikationsnetz fehlte. Zum anderen scheint der substantielle Informationsverlust bemerkenswert, der sich in der Diskrepanz zwischen dem Tilsiter Bericht und den erwähnten RSHA-Meldungen spiegelt. Zwar erwähnten Müllers Männer die Erschießungen der Stapo-Stelle Tilsit nach drei Tagen in einer EM, doch fehlten zentrale Passagen aus Böhmes Bericht, die auch in den folgenden Meldungen nur fragmentarisch nachgeliefert wurden. Gerade das Herausedieren von Böhmes Passage zum „zufälligen“ Zusammentreffen mit Himmler und Heydrich sowie zum Austausch mit Stahlecker befremdet, gehörten die Genannten doch auch zu den EM-Adressaten. Zudem mußte die Mehrfachnennung der gleichen Ereignisse verwirrend wirken, gerade was die Zahl der Erschießungsopfer angeht: Waren die in EM 12 genannten 200 Erschossenen den drei „Aktionen“ in Garsden, Krottingen und Polangen zuzuordnen oder handelte es sich um die Opfer anderer Exekutionen, etwa denen in Augustowo, die in Böhmes überliefertem Bericht vom 1. Juli nicht quantifiziert wurden? Warum nannte der „Tätigkeits- und Lagebericht Nr. 1“ eine offenbar gerundete Gesamtopferzahl von 500, wo doch die aus Tilsit gemeldete Zahl höher war? Inwieweit lag der von Ronald Headland an anderen Beispielen verdeutlichten „selectivity and pruning“39 im Umgang des RSHA mit den eingehenden Meldungen lediglich die von Fumy nach dem Krieg erwähnte „Flüchtigkeit“ und mangelnde Akkuratesse der Berliner Bürokraten zugrunde? Und in welchen Fällen wurde von der Zentrale absichtsvoll gekürzt, gerundet oder anderweitig abstrahiert?

      Noch deutlicher wird der Unterschied zwischen dem von der Peripherie Gemeldeten und den Berliner Sammelmeldungen, wenn man andere Überlieferungen der Einsatzgruppe A hinzuzieht. Die Forschung verfügt hier mit den vom Einsatzkommando 3 unter SS-Standartenführer Karl Jäger für den Zeitraum zwischen Anfang September 1941 und Februar 1942 erstellten vier Berichten bzw. Berichtsfragmenten sowie den „Gesamtberichten“ Stahleckers von Mitte Oktober 1941 und Anfang Februar 1942 über einzigartige, in ihrer Aussagekraft kaum zu übertreffende Dokumente, die an dieser Stelle nur hinsichtlich ihrer Abweichungen im Informationsgehalt betrachtet werden sollen.40 Jägers unerträgliche Problemlösungsphraseologie – in der „Gesamtaufstellung“ vom Dezember ist im Zusammenhang mit dem Massenmord an Zehntausenden von Juden von „Organisationsfrage“, „gründliche[r] Vorbereitung“, „nervenaufreibende[r] Arbeit“, „geschickte[r] Ausnutzung der Zeit“ und „Paradeschießen“ die Rede – schnitten die Redaktionsscheren sowohl im Einsatzgruppenstab wie auch im RSHA heraus und beließen es bei quantitativen Bilanzen.41 Schon aufgrund dessen, was sie bezeichneten, konnten die Zahlen nicht nüchtern sein; in der Abstraktion von der Realität scheint bisweilen mehr auf als die bloße Summierung: Anfang Februar 1942 übernahm Stahlecker die Gesamtzahl der von Jägers Kommando erschossenen Juden – 136421 Männer, Frauen und Kinder – in seinen Bericht ans RSHA und fügte eine Landkarte bei, die die Exekutionsziffern im Gebiet der Einsatzgruppe A zusammen mit Sargsymbolen verzeichnete.42

      Bei aller Undurchschaubarkeit und Willkür des redaktionellen Verfahrens im RSHA verdeutlichen diese Beispiele den Trend zur inhaltlichen Reduktion der exekutiven Tätigkeit der Einsatzgruppen auf das quantifizierbar Wesentliche und zur Ausblendung interner Kommunikations- und Entscheidungsabläufe. Wie aber ist, über die Frage nach Informationsverlusten auf dem Weg von den Einheiten zu den EM hinaus, die Genauigkeit und Aussagekraft von Zahlenangaben zu beurteilen? Flüchtigkeits- und andere unbeabsichtigte Fehler waren wohl unvermeidlich. Wichtiger sind dagegen bewußte Falschmeldungen, die aus der raison d’être der EM resultierten – Hervorhebung der eigenen Leistung, sowohl gegenüber anderen Sipo- und SD-Einheiten, als auch rivalisierenden Instanzen – und durch Angabe exakt aussehender, aber empirisch nicht abgesicherter Schätzungen (sogenannter Hausnummern) die Illusion genauer Buchführung beim Massenmord suggerierten. Sie lassen sich teilweise aufgrund widersprüchlicher Angaben in verschiedenen EM, häufiger anhand anderer Quellen im Einzelfall nachweisen. Die Anmerkungen in diesem Band geben hierzu nähere Aufschlüsse, ohne daß die Herausgeber beanspruchen können, jede Diskrepanz nachgewiesen zu haben.43 Die von Hans-Heinrich Wilhelm auf 10 Prozent geschätzte Fehlerquote bei Zahlenangaben in den EM dürfte zu niedrig gegriffen sein; sie läßt sich angesichts des Fehlens verläßlicherer Alternativen aber nicht durch einen realistischeren Wert ersetzen. In den letzten Jahren haben Exhumierungen von Massengräbern in den deutsch besetzten Teilen der Sowjetunion Möglichkeiten eröffnet, bei der Quantifizierung des Genozids einen Schritt weiterzukommen.44 Letztlich wird es jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit für einen Großteil der in den EM genannten Massenmorde bei Annäherungswerten zu den Opferzahlen bleiben müssen. Gegenüber Ereignissen, die nicht mit dem Mord an Juden und anderen Zivilisten in Zusammenhang standen und die in den EM ohne Zahlen- oder andere überprüfbare Angaben