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Die »Ereignismeldungen UdSSR« 1941


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Streim, stießen bei etablierten Zeitgeschichtlern auch dann noch auf Skepsis, als sich die Haltlosigkeit anderslautender Aussagen ehemaliger Einsatzgruppenangehöriger erwiesen hatte und Quellen der NS-Zeit immer stärker nahelegten, „daß die Kommandos ihren Spielraum von Anfang an extrem ausnutzten, ihn zunehmend überdehnten und somit die Befehlslage hinter sich ließen“.86

      Natürlich ist es wichtig zu wissen, inwieweit Hitler, Himmler und Heydrich die Aktionen der Einsatzgruppen direkt beeinflußten. Die für die Forschung zum Massenmord an den europäischen Juden lange Zeit dominierende, bis heute nicht ganz überwundene Obsession, eindeutige, gar schriftlich fixierte Anweisungen der Führungsspitze zu finden, zielt indes ins Leere: zum einen, weil es solche Weisungen nur in Ausnahmefällen gab; zum anderen, weil der Nationalsozialismus nicht nach der simplen Mechanik von Befehl und Gehorsam funktionierte, sondern eine stark von der Peripherie vorangetriebene Radikalisierungsdynamik erzeugte.87 Dies zeigen Heydrichs Schreiben an die HSSPF vom 2. Juli 1941 ebenso wie der zitierte Bericht des Tilsiter Stapo-Leiters Böhme darüber, wie sich Himmler und Heydrich über die ersten Exekutionen jenseits der deutsch-litauischen Grenze unterrichten ließen. Warum sollten beide große Planungssorgfalt in die Auswahl ihrer Kommandoführer investieren, wenn sie sie nach Kriegsbeginn an der kurzen Leine halten wollten? Welche konkreten Befehle konnte die Berliner Zentrale sinnvoll erteilen in rasch wechselnden, im Vorfeld nicht vorhersehbaren Situationen, die zudem von örtlichen Faktoren beeinflußt wurden? Flexible Richtlinien, operative Handlungsfreiheit und grobe, ideologisch überformte Zielvorgaben waren vielmehr das, was die Einheitsführer von der Spitze erwarteten und auch bekamen: „Mit ihrer im Prozeß der Selbstermächtigung kulminierenden Interpretationsleistung schufen die Kommandoführer Fakten, hinter denen die Regimespitze weder zurückbleiben konnte noch wollte.“88 Den Einheitsführern gegenüber blieb der Zentrale nur noch Billigung, Lob oder – sofern die Entwicklung vor Ort in die falsche Richtung zu tendieren schien – Tadel.

      Vor Beginn des „Unternehmens Barbarossa“ gab es daher wenig, was die SS-Spitze den Einsatzgruppenangehörigen mitzuteilen hatte.89 Es scheint einigermaßen gesichert, daß die in Pretzsch sowie in den benachbarten Orten Düben und Bad Schmiedeberg zusammengezogenen Männer neben dem Abhalten von Gelände- und anderen Übungen mit der „Sonderfahndungsliste UdSSR“ aus dem RSHA vertraut gemacht wurden. Ob sie dort allerdings auch Kenntnis des „Kommissarbefehls“ und des „Gerichtsbarkeitserlasses“ der Wehrmacht erhielten, läßt sich nicht eindeutig belegen.90 Aus der Rückschau spielte für die Tätigkeit der Einsatzgruppen die teilweise auf veralteten oder falschen Informationen beruhende Fahndungsliste eine unbedeutende Rolle. Das Gegenteil gilt allerdings für die zu Recht so bezeichneten „verbrecherischen Befehle“. Wie Hans Mommsen feststellte, ließen sich die Judenmorde in der besetzten Sowjetunion „unter dem Vorwand der Sicherung des rückwärtigen Kampfgebietes als unerläßlicher Bestandteil des von Hitler von vornherein als Vernichtungskrieg deklarierten Rußlandfeldzuges kaschieren“, wofür „Kommissarbefehl“ und „Gerichtsbarkeitserlaß“ die beste Voraussetzung boten.91 Die Akzeptanz einer derartigen Legitimation beruhte allerdings weniger auf der Kenntnis der „verbrecherischen Befehle“ als „auf einem tradierten, fest verankerten Konsens, einem Konglomerat ideologisch geprägter, sich wechselseitig stützender Axiome“ mit dem Phantom des „jüdischen Bolschewismus“ im Mittelpunkt.92 Die EM, deren thematische und stilistische Merkmale im folgenden Abschnitt eingehender analysiert werden, demonstrieren diesen Konsens und seine Folgewirkungen in besonderer Deutlichkeit.

      Über ihre Eigenschaft als Schlüsselquelle zum Völkermord hinaus dokumentieren die EM die Hauptaspekte deutscher Besatzungspolitik aus der Sicht von Sipo und SD. Ausschlaggebend für die thematische Vielfalt der EM war neben dem Ziel, beide Institutionen in möglichst vorteilhaftem Licht zu präsentieren, vor allem die amorphe, in ihrer potentiellen Ausdehnung auf alle „Lebensgebiete“ entgrenzte Aufgabenstellung von Heydrichs Apparat. Der Zwecksetzung der Einsatzgruppen entsprechend spiegeln die EM auch das Bestreben der Kommandeure, ihren Ermessens- und Handlungsspielraum den vor Ort herrschenden Umständen entsprechend zu nutzen, um das eroberte Gebiet rasch, nachhaltig und entsprechend der Vorgaben der Regimespitze zu „befrieden“. Sie zeigen zudem, wie die SS-Führung ihre Absicht umsetzte, eigene Inhalte und Interessen nach innen und nach außen zu vermitteln: intern zum Zwecke der Koordination und Integration, extern als Teil des Ringens um Kompetenzwahrung und -ausdehnung. Der Entstehungszusammenhang des Materials setzt seiner historischen Aussagekraft jedoch Grenzen. Wo die Berichte der Truppe, die den EM zugrundelagen, fehlen und somit unklar bleibt, welche Passagen direkt im Besatzungsgebiet verfaßt und wie sie in Berlin überarbeitet wurden, macht detaillierte Textinterpretation kaum Sinn. Für eine systematische Behandlung der Themen analog zu den nach „Lebensgebieten“ gegliederten „Meldungen aus dem Reich“ der Jahre 1940 bis 1943 wiederum sind die EM mit ihren groben Rubriken „Politische Ereignisse“, „Meldungen der Einsatzgruppen und -kommandos“ und „Militärische Ereignisse“ zu wenig strukturiert, ist die Streuung des Berichteten zu breit. Es lassen sich dennoch einige inhaltliche und stilistische Aussagen treffen, die für die Bewertung der EM als Quelle zur Geschichte deutscher Herrschaft in der besetzten Sowjetunion von Belang sind.

      Die thematische Bandbreite des Berichteten scheint der bereits erwähnten Tendenz der EM zu widersprechen, Mordaktionen auf Zahlen zu reduzieren und interne Entscheidungsabläufe auszublenden, wie sie etwa anläßlich der Massenerschießungen im deutschlitauischen Grenzgebiet im Sommer 1941 nachweisbar sind. Ganz offensichtlich hielt man es im RSHA jedoch für sinnvoll, wenn schon nicht systematisch die Liste der im Hause bearbeiteten „Lebensgebiete“ abzudecken, was gerade in der Anfangszeit angesichts der hohen Frequenz der Meldungen, der Fülle der Veränderungen und des schnellen Vormarschs kaum möglich war, so doch wenigstens von Zeit zu Zeit ausführlich auf potentiell relevante Themen einzugehen. Relevanz definierte man „SD-mäßig“ umfassend, wobei die Wahrnehmung der Situation im Besatzungsgebiet und das Gespür für die sich dort bietenden Möglichkeiten dynamischer Kompetenzausweitung eine ebenso wichtige Rolle spielten wie die vorangegangenen Erfahrungen im Reich. Ob Angaben zur Versorgungslage und zum Unmut der Bevölkerung, zu Partisanentätigkeit, zu den Nachwirkungen sowjetischer Herrschaft oder zur Haltung einzelner Geistlicher und anderer Angehöriger einheimischer Führungsgruppen: Kein Thema schien zu groß oder zu klein, um nicht in den EM zumindest erwähnt, gelegentlich – als Anhang oder in einer anderen aus der Reihe fallenden Form – bis ins Detail ausgewalzt zu werden. Das Bemühen, empirisch begründeten Sachverstand zu demonstrieren und die Unmöglichkeit, angesichts der erratischen NS-Entscheidungsabläufe mit Sicherheit ausschließen zu können, daß ein marginaler Sachverhalt nicht vielleicht doch wichtig werden würde, sowie der unvermeidliche Zufallscharakter der Informationsgewinnung spielten hier ebenso eine Rolle wie institutionelle Interessen und Ideosynkrasien, das Festhalten der Berichterstatter an Lieblingsthemen oder eingeübten Berichtsroutinen.

      Und vielleicht breiten die EM gerade deswegen für den Forscher, der zur deutschen Besatzungspolitik in der UdSSR arbeitet, ein ganzes Kaleidoskop an Themen aus. Mag man zur Kirchengeschichte oder zu den deutschen Militäroperationen recherchieren, man wird sicherlich Neues, ja Überraschendes finden. Der mit der Historie des Stalinismus Vertraute mag interessante Details – aus der Sicht des Weltanschauungsgegners – über die andere große Diktatur erfahren und Beutedokumente präsentiert bekommen,93 die bis zur Perestroika in den sowjetischen Archiven unter Verschluß gehalten wurden. Sie sind zugleich ein wahrer Fundus zur Kollaborations- bzw. Kooperationsforschung. Ähnlich dürfte der Ertrag ausfallen, wenn man sich dem Problem der deutschen Bündnispolitik durch die ‚Brille‘ des SD nähert. Hier wird ersichtlich, wie durch Berichterstattung Politik betrieben und der Sinn geschlossener Allianzen in Zweifel gezogen wird, um so eine Neuausrichtung zu befördern. Besonders deutlich wird dies an der harschen Kritik am rumänischen Verbündeten – hier geschickt kombiniert mit der als unzureichend bewerteten „Judenpolitik“ des Antonescu-Regimes –, aber auch an der Ungarns. Dagegen präsentieren die EM die ukrainischen Nationalisten, trotz aller separatistischen Versuche Banderas und seiner Anhänger, als zunächst idealen Partner.94 Mehr als sonst verlassen die EM hier die gewünschte Form einer „objektiven“ Berichterstattung und sind eher als Kampfschrift des RSHA zu verstehen.