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Die »Ereignismeldungen UdSSR« 1941


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die ergänzende Quellen gesicherte Erkenntnisse bieten, nicht nachprüfbar. Wunschdenken und Eigeninteresse der EM-Autoren sind in jedem Fall aber in Rechnung zu stellen und müssen umso stärker veranschlagt werden, je näher ein Sachverhalt im Zentrum sicherheitspolizeilich sensibler Politikfelder stand.

      Das herausragendste Merkmal der EM findet sich in der Berichterstattung zur „Judenfrage“ und leitet gleichzeitig über zu einigen Bemerkungen über die historische Relevanz dieser Quelle. Auf deren Auskoppelung aus dem „Volkstums“-bezogenen Berichtskontext und ihre Einbettung in den „Gegner“-Zusammenhang wie auch auf den Versuch, das Mordgeschehen durch die Wegstreichung beschreibender Textpassagen aus den Berichten zu beschönigen, sowie auf die Reduktion des Sachverhalts auf das numerische Ergebnis wurde bereits hingewiesen. Signifikant ist auch, daß für die ersten sechs Wochen des Ostfeldzuges in den EM zwar zahlreiche Exekutionen jüdischer Menschen gemeldet wurden, man jedoch offensichtlich bewußt den Eindruck vermied, es handele sich lediglich um Erschießungen aus rassischen Gründen. Statt dessen verortete man sich in jenem Rahmen, den Heydrich in seinem Schreiben an die vier HSSPF am 2. Juli vorgegeben hatte. Erst etwa Mitte August verzichtete man in den EM mehr und mehr auf die Angabe von Gründen für die Mordaktionen. Dies deutet darauf hin, daß der rassische Gesichtspunkt allgemein ausschlaggebend geworden war und durch Begriffe wie „judenfrei“ auch nicht mehr verschleiert wurde. Auffällig an den EM ist darüber hinaus, daß in ihnen der Konnex zwischen „Judenfrage“ – d. h. der ideologischen und parteiprogrammatischen Stilisierung der Thematik zum Hauptproblem der NS-Politik – und der jüdischen Bevölkerung im sowjetischen Besatzungsgebiet erst relativ spät, im zeitlichen Umfeld der Umstellung des Berichtsformats Ende Oktober, deutlich gemacht wurde. Statt dessen präsentierten die EM gerade in der Frühphase deutscher Okkupation vorgeschobene, widersprüchliche und selbst dem gutgläubigsten Leser leicht als konstruiert erkennbare Gründe für die Ermordung jüdischer Zivilisten. Von Wohnungsmangel über sanitäre Gefahren, Renitenz und Widerstand der Juden bis hin zum Partisanenkrieg reichten die Begründungszusammenhänge, während legitimatorische Hinweise auf die seit Jahren angestrebte und gerade von Heydrichs Männern maßgeblich mitbetriebene „Endlösung der Judenfrage“ weitgehend fehlten.105

      Hans Mommsen hat darauf hingewiesen, daß angesichts der „chiliastische[n] Dimension“ von Hitlers Antisemitismus den Vorwänden, die die Einsatzgruppen für die Ermordung der jüdischen Bevölkerung anführten, besondere Bedeutung zukommt als Ausdruck des Bedürfnisses nach „Rechtfertigung des Verbrechens, die über den rassenbiologischen Begründungszusammenhang hinausreichte“.106 Da sich die Einsatzgruppenführer wie gezeigt auf keinen formalen Befehl berufen konnten und die NS-Programmatik zu vage blieb, um jenseits der bekannten, oft wiederholten und vielzitierten „Prophezeiung“ Hitlers einer „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ im Falle eines erneuten Weltkrieges konkrete Handlungsanweisungen zu enthalten, bemühten Heydrichs Männer Phantasieargumente, die sie einerseits aus dem ideologisch überformten militärisch-politischen Konzept des Vernichtungskrieges, andererseits aus Gegnerstereotypen entlehnten, wie sie insbesondere in der SS seit Ende der 1930er Jahre zum festen Bestandteil institutioneller Kultur gehörten. Mommsen, der das „Klischee vom ‚jüdischen Bolschewismus‘ und den Juden als Unruheherd“ als entscheidenden Faktor für die „Einübung einer immer rücksichtsloseren Gewaltanwendung und die Ausweitung des Personenkreises“ durch die Einsatzgruppen identifizierte,107 verwies damit auf einen zentralen Aspekt für die Vernichtungsdynamik der ersten Monate des Rußlandfeldzugs. Seine These, „daß die Judenverfolgung und -vernichtung sich in einem zunehmend imaginären Raum, gleichsam politikfrei, abspielte und sich weithin sprachlos vollzog“,108 wird durch die EM allerdings insofern widerlegt, als in ihnen Sprache, Politik und Aktionismus eine funktionale Einheit bilden. Was Gerhard Paul zu den Einsatzbefehlen des RSHA-Amts IV schrieb – sie hätten „den allgemeinen Handlungsrahmen der Mordpraxis der Einsatzgruppen“ festgelegt, „so daß es eines Initialfunkens und einer Steuerung von oben gar nicht bedurfte“109 –, gilt auch für die EM. Indem die Berliner Zentrale die von den Einsatzgruppen verantwortete Mordpraxis anhand der stupenden Erschießungszahlen jüdischer Zivilisten jedem Leser der EM klar vor Augen führte, gleichzeitig aber andere Gründe anführte und dabei die fixe Idee einer „Endlösung der Judenfrage“ bestenfalls beiläufig bemühte, zeigte sie, daß unter den Bedingungen des Ostkriegs Maßnahmen möglich waren, die bislang als ausgeschlossen und nicht legitimierbar galten, ohne daß die Berichtsrhetorik diesem Dammbruch Rechnung trug.

      Daß die Aktivisten des Judenmords in den Reihen der Einsatzgruppen in dieser Phase selbst dort nicht als Exekutoren einer umfassenden „Endlösung“ erscheinen wollten, wo sie ganze Gemeinden auslöschten und flächendeckende „Entjudung“ betrieben, verweist auf ihre Ausrichtung am jeweils konkret Machbaren, noch nicht an der Realisierung eines weiterhin als utopisch angesehenen und von der obersten Führung auch so propagierten Ziels der „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“. Zahlreiche Fallstudien haben nachgewiesen, was die EM in den entscheidenden Monaten des Jahres 1941 verdeutlichen: Die Aktivisten an der Peripherie – und zwar nicht nur die der Einsatzgruppen, sondern auch anderer Einheiten – überschritten bereits die Trennlinie zum Genozid, während die Führung in propagandistisch kaschiertem Attentismus verharrte und „eine gewisse Unsicherheit“ an den Tag legte, „wie in der ‚Judenfrage‘ verfahren werden solle“.110 So erklärt sich auch die „völlige Uneinheitlichkeit des Vorgehens, die über Monate hinweg selbst innerhalb einer Einsatzgruppe festzustellen ist“.111 Diese Zwischenzone beschrieben Einschätzungen wie jene der Einsatzgruppe C, die in Umkehrung der realen Verhältnisse Anfang November behauptete, es bestehe „schon heute Klarheit darüber, dass damit eine Lösung des Judenproblems nicht möglich sein wird“.112 Nach dem Übergang zum Völkermord erschien es den Kommandos aus der Rückschau allerdings wie selbstverständlich, daß sie von Anfang an eine „radikale Lösung des Judenproblems durch die Exekution aller Juden“ angestrebt hätten.113

      Die „quantitative Entgrenzung“ ging einher mit einem „qualitativen Sprung“ infolge „sukzessiver Übererfüllung“ der Vorgaben, und die EM fungierten dabei als „ausgesprochene Erfolgsbilanzen“, als „Produktionsstatistiken eines Mordunternehmens“.114 Als Teil des Lern- und Radikalisierungsprozesses, den die Einsatzgruppen maßgeblich mitforcierten, hatten die Meldungen historische Bedeutung aufgrund ihrer Scharnierfunktion für den Umschlag von Verfolgung und punktueller Ermordung in Massenvernichtung und Genozid. Ronald Headland verwies auf die allmähliche Bedeutungserweitung der EM von der Information der Führung in Richtung „self-serving machinations of the reporters themselves“.115 Die EM reflektierten kumulative Radikalisierung nicht nur, sondern ermöglichten sie auch: Sie „dienten längst nicht nur der Unterrichtung nach ‚oben‘. Da sie zumindest auch an die Chefs der Einsatzgruppen und deren Stäbe gingen, installierten sie gleichzeitig auch einen Wettlauf um die höchsten Quoten. Denn sie konfrontierten die einzelnen Kommandoführer mit den Zahlen der anderen Einheiten und ermöglichten so den Vergleich, signalisierten den Stellenwert der eigenen Ergebnisse und schürten die Angst vor dem Zurückbleiben. […] Daß in diesem Klima bald schon ‚Zigeuner‘, die Insassen psychiatrischer Anstalten, selbst ‚asiatisch Minderwertige‘ in den Vernichtungsprozeß einbezogen wurden, ohne daß dafür ein zentraler Befehl vorlag, entsprach der Logik dieser Radikalisierungsspirale.“116

      Aus der Erkenntnis der zentralen Bedeutung der Frühphase des „Unternehmens Barbarossa“ ergibt sich zum einen die Unterscheidung zwischen „Teilvernichtungen des osteuropäischen Judentums und der systematischen ‚Endlösung‘ der ‚europäischen Judenfrage‘“, zum anderen die Notwendigkeit, den Übergang zum Massenmord in die Kausalitätsund Ereigniskette kumulativer Radikalisierung einzugliedern und nach ihren Triebkräften zu suchen. Die in der besetzten Sowjetunion sowie in Teilen des Generalgouvernements, insbesondere den Distrikten Galizien und Lublin, gängige „Politik der vollendeten Tatsachen“ bewirkte, daß gegen Ende 1941 „Nahziel und Fernziel immer mehr zur Deckung“ gelangten. Die nachfolgende „grenzenlose Eskalation der Gewalt“ hielt bis zur militärischen Niederlage 1945 ungebrochen an.117 Die Dynamik dieses Prozesses erwuchs aus dem „Wechselspiel zwischen der Zentrale und den lokalen Vernichtungsinitiativen vor Ort“ in einer „arbeitsteiligen Automatik“ als „endlose Kette von Improvisationen“,