Ella Danz

Trugbilder


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sie zur Tür ging. Auch der beachtete sie nicht, war er doch voll damit beschäftigt, sich die nächste schwer beladene Gabel mit Fleisch und Kartoffeln in den Mund zu schieben.

      Vor der Haustür schlang sich Vicky ihren kuscheligen Schal um den Hals, zog den Reißverschluss des Parkas bis ganz nach oben und zog ihre dicken Fingerhandschuhe aus Wolle über. Es wehte immer noch ein unangenehm kalter Wind, und erste feine Tropfen segelten vom Himmel. Sie setzte den Helm auf, stieg auf ihr Rad und blickte zurück zum Haus, das mit seinen erleuchteten Fenstern Wärme und Gemütlichkeit ausstrahlte. Es war das kleinste in seiner Nachbarschaft, bescheiden und bodenständig zwischen zum Teil recht klotzig wirkenden Bauten.

      Vicky fuhr los. Vom Neubaugebiet am Bornkamp waren es knapp 20 Minuten bis zu ihrer Wohnung in der Innenstadt. Warum nur fiel es ihr so schwer, schlicht und einfach einen schönen Abend mit Mia und Ralf zu verbringen? Sie liebte ihre Mutter, aber es tat ihr in der Seele weh, wie sie sich für alle anderen aufribbelte, sich von Ralf kommandieren ließ, wie Karoline sie ausnutzte – und Mia nahm das einfach alles hin und wehrte sich nicht. Das machte Vicky so unglaublich wütend, und Mia schien nicht einmal zu bemerken, wie die anderen mit ihr umsprangen. Auch die Chefin des Cafés, für das sie in den Sommermonaten leckere Torten, Kuchen und andere Backwaren fertigte und wo sie manchmal als Bedienung aushalf, beutete sie nach Vickys Meinung aus und zahlte ihr ein absolut lächerliches Geld.

      »Aber ich hab doch viel Spaß dran! Das Geld ist mir dabei gar nicht so wichtig«, sagte Mia immer nur, wenn man sie darauf ansprach.

      Dabei konnten sie das Geld gut gebrauchen. Auch wenn Ralf stets den Eindruck erweckte, Geld spiele für ihn keine Rolle, war das Häuschen, in das sie vor fünf Jahren gezogen waren, natürlich noch nicht abbezahlt, und seine Pension war ausreichend, aber nicht üppig. Außerdem ging ein Großteil davon für seinen alten Hummer Geländewagen drauf, den er ehrfurchtsvoll »der General« nannte, und den er mit teuren Originalersatzteilen am Leben erhielt. Fast täglich putzte oder bastelte er daran herum. Okay, jeder hatte das Recht auf ein noch so bescheuertes Hobby, doch mit diesem Spritschlucker tagein tagaus sinnlos durch die Landschaft zu kurven, war allein aus ökologischen Gründen nicht mehr akzeptabel.

      Womit Vicky aber überhaupt nicht klar kam, war Ralfs Mackergehabe. Allein wie er mit herausgedrückter Brust stolzierte, statt zu gehen, wie dröhnend er sprach, als ob er Befehle erteilte, das alles rief ihren Widerspruch hervor. Frauen schien er ohnehin keiner vernünftigen Unterhaltung für fähig zu halten. Entweder er flachste nur herum mit blöden Zweideutigkeiten, oder er erklärte ihnen, wo es langging, benahm sich wie der Boss, dem seine Frau und die beiden Stieftöchter sich unterordnen sollten. Natürlich konnte er mit beiden Methoden bei Vicky nicht landen.

      Nach dem Unfalltod des Vaters von Vicky und Karoline gab es in Dänemark bis auf ihre Schwiegermutter, zu der sie aber ein recht distanziertes Verhältnis hatte, keine familiären Bindungen mehr für Mia. Also war sie mit ihren Töchtern nach Deutschland gezogen, wo ihr Bruder schon seit mehreren Jahren in Lübeck lebte. Als junge Witwe mit einer vier- und einer sechsjährigen Tochter glaubte sie, nie mehr einen Mann zu finden. Doch dann lernte sie nach ein paar Jahren Ralf Ziegner kennen.

      Vicky war neun, als er in ihrem Leben auftauchte. Anfangs kam er nur zu Besuch, und das Kind Vicky fand es merkwürdig, dass man mit diesem Mann überhaupt nicht spielen konnte. Er sagte immer so merkwürdige Erwachsenensachen, die sie nicht verstand, die er aber für lustig hielt, denn er lachte dabei dröhnend, sodass Vicky jedes Mal einen Schrecken bekam. Von Anfang an wahrte sie lieber eine gewisse Distanz diesem eigenartigen Menschen gegenüber.

      Nicht, dass Karoline von Mias neuem Freund begeistert gewesen wäre, aber sie behielt für sich, was sie an ihm störte, begegnete ihm stets freundlich, gab keine Widerworte und machte trotzdem, was sie wollte. Das konnte Vicky nicht. Sie sagte schon immer, was sie dachte. Und als Mia und Ralf schließlich heirateten, behielt sie ihre Ablehnung nicht für sich. Es wurde auch genauso schlimm, oder schlimmer, als sie es sich vorgestellt hatte. Er mischte sich in alles ein, war der Herr im Haus, und Mia wurde immer unselbstständiger, überließ ihm in allem die Regie. Je länger Vicky mit Mia und dem Stiefvater zusammenleben musste, desto mehr sehnte sie sich nach dem Tag, an dem sie endlich volljährig wurde und ausziehen konnte. Karoline war nach dem 18. Geburtstag zu ihrem damaligen Freund gezogen, zu Marten, der … Aber daran wollte Vicky jetzt nicht auch noch denken. Jedenfalls wurde es für sie als Zurückbleibende nicht einfacher. So verschieden sie auch waren, zuweilen fehlte ihr Karoline. Vicky liebte ja ihre Schwester – manchmal – irgendwie jedenfalls.

      Tief in ihre Gedanken versunken, trat sie kräftig in die Pedale, auch weil sich der Regen mittlerweile verstärkt hatte. Als plötzlich das Klinkergebäude in der Krähenstraße vor ihr auftauchte, wo sie sich unter dem Dach eine Wohnung mit zwei jungen Frauen teilte, war Vicky überrascht, schon zu Hause angekommen zu sein.

      Kaum war sie 18 geworden, hatte Vicky die Schule abgebrochen. Das Lernen von Lateinvokabeln und das Pauken von Matheformeln waren ihr so sinnlos vorgekommen. Sie hatte das Haus am Bornkamp verlassen und war zu ihrer Oma Bente nach Kopenhagen geflohen. Natürlich machte Mia sich Sorgen, wie es mit Vicky weitergehen sollte. Ralf Ziegner dagegen, den das nun wirklich gar nichts anging, regte sich nur mächtig auf, wie sie so dämlich sein konnte, kurz vor dem Abi die Schule zu schmeißen.

      »Hau doch ab zu deiner Hippie-Oma! Du wirst schon sehen, wo du noch landest! Aber komm bloß nicht hier an, wenn du Kohle brauchst. Von mir kriegst du nämlich keinen Cent, damit das klar ist!«

      Da brauchte sich der Arsch wirklich keine Sorgen zu machen. Niemals würde sie einen wie ihn auch nur um ein Glas Wasser bitten – selbst in der Wüste nicht. Er hatte Oma Bente nie getroffen, schien sie aber für eine heruntergekommene Kifferin zu halten, da sie in den 70ern mit ihrem kleinen Sohn ein paar Jahre unter Besetzern in der Freistadt Christiania gelebt hatte.

      Ziegner hatte keine Ahnung! Bente hatte ein in ganz Kopenhagen bekanntes Yoga-Studio, lebte im bunt durchmischten Nørrebro in einer geschmackvoll und gemütlich eingerichteten Wohnung und war eine Frau mit klaren Vorstellungen und Ansagen.

      Hatte die Enkelin die ersten Wochen in Kopenhagen ziemlich planlos dahingelebt, lenkte ihre Großmutter immer wieder sehr geschickt ihre Gespräche auf mögliche Perspektiven für ihre Zukunft, ließ Vicky sich selbst befragen, was sie wirklich wollte. Und das war gar nicht so einfach, wenn man gerade mal 18 war. Vicky brauchte eine Weile, doch dann kristallisierte sich heraus, dass sie ein freiwilliges soziales Jahr machen würde, was sicher eine Entscheidungshilfe für ihren weiteren Weg bringen würde.

      Vickys Telefon klingelte.

      »Hej, Bente! Grade hab ich an dich gedacht.«

      »Hej! Na hoffentlich waren es gute Gedanken! Wie geht es dir, min slangekrøller?«

      Bente sagte oft »mein Löckchen« zu ihrer Enkelin, genau wie früher zu ihrem Sohn Viggo, von dem Vicky die weißblonde Lockenpracht geerbt hatte. Ihre nicht sehr große und etwas stämmige Statur dagegen hatte sie eher Mia zu verdanken, zu ihrem Leidwesen.

      »Ach, alles gut eigentlich. Warte bitte mal einen Moment, es pladdert hier grade wie aus Eimern.«

      Schnell schob Vicky ihr Rad in den Hausflur.

      »So, da bin ich wieder. Ich war gerade bei Mia zum Essen, wie meistens am Dienstag. Und sonst passiert außer Arbeiten und Lernen nicht viel.«

      »Flittige pige! War es nett mit Mia?«

      »Geht so. Er war leider auch da.«

      »Du scheinst den Mann ja wirklich überhaupt nicht leiden zu können. Ist er wirklich so schlimm? Ich kenne ihn ja nicht.«

      »Da hast du auch nichts verpasst.«

      »Karoline scheint aber ganz gut mit ihm auszukommen.«

      »Wenn Karoline will, und vor allem, wenn es ihr nutzt, kommt sie doch mit allen Menschen aus.«

      Vicky merkte, wie sie das Thema aufbrachte. Sie wollte diese negativen Gefühle eigentlich nicht, nicht gegenüber ihrer Schwester und schon gar nicht bei einem Telefonat mit Bente.

      »Aber lass uns von was anderem reden, Bente. Wie läuft’s bei dir? Was