Sinne. Wir sind immer ausgebucht. Gerade haben wir eine fantastische neue Lehrerin für Kurse in Hormon Yoga gefunden. Also, alles gut. Aber sag mal, ich wollte vor allem fragen, wo deine Schwester steckt?«
»Das kann ich dir leider nicht sagen. Mia hat auch schon geklagt, dass Karoline sich nicht meldet …«
»Und mir hatte sie eigentlich für Sonntag ihren Besuch angekündigt. Nach fast zwei Jahren immerhin. Aber sie ist hier nicht aufgetaucht und hat auch sonst nichts hören lassen.«
»Hatte sie denn fest zugesagt?«
»Na ja, nicht so ganz. Wenn sie es schafft, kommt sie mal kurz vorbei, hat sie geschrieben. Ich hab ein paar Mal vergeblich versucht, sie anzurufen, und auf meine Nachrichten hat sie auch nicht reagiert.«
»Dann ist doch alles wie immer, Bente. Unsere Influencerin arbeitet an ihrer Karriere. Soweit ich weiß, wollte sie für Modeaufnahmen nach Dänemark. Sie hätten eine super Location gefunden, hat sie am Sonntag an Mia geschrieben.«
»Weißt du, mit wem sie unterwegs ist?«
»Keine Ahnung. Ich kenne kaum jemanden von Karolines Leuten. Vielleicht mit einem Fotografen. Aber mach dir keine Sorgen. Ihre Karriere ist ihr heilig, da vergisst sie alles andere, auch dich und Mia und mich.«
»Nein, ich sorge mich nicht. Ich kenne deine Schwester ja auch ein bisschen. War schön, dich zu hören, aber ich muss jetzt los, treffe mich gleich mit einer Freundin auf ein Glas Wein. Wann kommst du mich denn mal wieder besuchen?«
»Oh, ich würde so gerne kommen! Im Moment stecke ich in Prüfungsvorbereitungen und schaffe das nicht. Aber sobald ich kann, bin ich da, ich versprech’s!«
»Es wäre mir eine solche Freude, dich mal wieder in meine Arme zu schließen, min skat!«
Nach einer verregneten Nacht war der Mittwoch grau, Feuchtigkeit hing in der Luft, und es war kalt. Wie schon die ganzen Wochen seit Angermüllers Rückkunft, gestaltete sich auch dieser Tag im K1 ruhig und unaufgeregt. Sie waren seit Jahresbeginn zu keinem größeren Einsatz gerufen worden und beschäftigten sich vor allem mit der Aufarbeitung alter Fälle. Alles war fast wie früher. Jansen und Angermüller saßen jeder in seinem engen überheizten Büro, bei geöffneten Türen, sodass sie sich über den Verbindungsflur unterhalten konnten, ohne ihre Schreibtische verlassen zu müssen.
Nur eines war anders: Neben dem betagten Filterkaffeeautomaten, der in ihrem kleinen Flur stets leise vor sich hin gurgelte, produzierte jetzt eine ziemlich luxuriöse Espressomaschine aromatische heiße Shots und herrlich dichten Milchschaum. Jansen hatte sich in ihrer Zweiergemeinschaft all die Jahre für die Zubereitung des Kaffees zuständig gefühlt. Er trank das gefilterte Gebräu in rauen Mengen, und ab und zu nahm Angermüller das Angebot seines Teampartners an und ließ sich ebenfalls eine Tasse servieren. Er bereute es jedes Mal. Mit Kaffee hatte die dunkle Flüssigkeit nicht allzu viel zu tun.
Das chromblitzende Teil, das auch die meisten Kollegen gern und häufig nutzten, war die Hinterlassenschaft von Sebastian Eichhorn, der Angermüller während seiner Auszeit vertreten hatte. Der junge Mann hatte sich eine noch luxuriösere Ausgabe zugelegt, als er sich seiner neuen Freundin wegen überraschend nach Kiel versetzen ließ. Seine alte Espressomaschine hatte er großzügig dem Team vom K1 vermacht.
Hinter vorgehaltener Hand und mit einem Grinsen schilderte man Angermüller, wie Jansen dem jungen Kollegen, als der den Filterkaffeeautomaten gerade ausmustern wollte, das Gerät kurzerhand weggenommen hatte. Er hatte es auf seinen gewohnten Platz gestellt und geknurrt: »Ich will keinen Caffè Crema, oder wie dat Zeug heißt, ich will einfach nur einen stinknormalen Kaffee. Verstanden?«
Seither existierten die beiden Teile nebeneinander, und Jansen war und blieb der Einzige, der den altersschwachen Kaffeebereiter nutzte. Nie wieder sprach er das Thema an, aber er brachte der neuen Maschine sture Missachtung entgegen. Und er sah gnädig darüber hinweg, dass Angermüller sich mittlerweile fast täglich am Nachmittag eine große Tasse schaumigen Milchkaffee genehmigte.
»Hallo, Derya, dich wollte ich auch schon anrufen.«
Angermüller ging mit seinem Handy hinaus in den Etagenflur.
»Heute kein Großauftrag? Hast du etwa mal wieder Zeit für dein Privatleben? Und für mich?«
Tatsächlich, seine Freundin wollte heute Abend vorbeikommen.
»Prima, das freut mich! Ich koch uns was Schönes. Worauf hast du Lust? Oder soll ich dich überraschen?«
Er müsse doch nicht extra was kochen, meinte Derya, ein Glas Wein wäre ausreichend.
»Aber ich mach das doch gern, für dich sowieso! Und wenn ich mal die Gelegenheit habe, nach Feierabend noch was einkaufen zu gehen, sollte man das ausnutzen. Also, ich denk mir was Schönes aus, dann sehen wir uns gegen sieben Uhr. Bis dahin – ich freu mich!«
Irgendwie komisch, dass Derya das Essen heute nicht so wichtig war. Das hatte er bisher fast nie bei ihr erlebt. War sie krank? Oder mal wieder auf Diät? Egal, ihm würde schon was einfallen, womit er ihren Appetit wecken konnte. Ja, er freute sich auf den gemeinsamen Genuss und fing sofort an zu überlegen, womit er sie verwöhnen könnte.
Es dämmerte. Versonnen sah Angermüller nach draußen. In ungefähr einer halben Stunde würde er Feierabend machen und anschließend ein paar nette Sachen besorgen, aus denen er ein schönes Abendessen für sie beide zaubern würde. Beim Gedanken an gebratene Nudeln mit Rindfleisch und Pak Choi, kräftig gewürzt mit Sojasoße, Knoblauch und Ingwer, wässerte ihm schon jetzt der Mund. Ein lautes Klingeln des Telefons auf seinem Schreibtisch unterbrach ihn in seinen Küchenfantasien.
»Moin, Angermüller, hier Ahrens vom Kriminaldauerdienst! Schluss mit der Gemütlichkeit. Die Streife aus Scharbeutz meldet einen Leichenfund am Pönitzer See. Das kann ich dann wohl direkt an euch weiterleiten. Die Kriminaltechnik hab ich auch schon alarmiert«, teilte der Kollege mit, »gratuliere, geht ja gleich in die Vollen für dich, Angermüller.«
»Wieso, was meinst du?«
»Überraschung! Schön medium«, kicherte Ahrens, »frohes Schaffen!«
Mit einem knappen »Tschüs« legte Angermüller auf. Einige Minuten später saß er auf dem Beifahrersitz des Golf 7, den sie zurzeit als Dienstwagen nutzten, während sich Jansen durch den Lübecker Feierabendverkehr in Richtung Autobahn kämpfte, dabei jede Lücke und jede Möglichkeit zum Überholen gnadenlos nutzend. Endlich erreichten sie die A1, und Jansen trat das Gaspedal durch.
»Überraschung, hat dieser Ahrens gesagt. Komischen Humor hat der. Ich liebe keine Überraschungen, bei Leichenfunden schon gar nicht«, murmelte Angermüller halb zu sich selbst, während draußen die Landschaft vorbeiflog, über die sich nun die Dunkelheit senkte. Leichenfunde waren immer irgendwie Überraschungen, die aber grundsätzlich keine Freude bereiteten. Trotz jahrelanger Erfahrung berührte Georg der Anblick der gewaltsam zu Tode Gekommenen jedes Mal tief in seinem Inneren, und tröstlich war nur der Gedanke, zumindest die aufzuspüren und zur Rechenschaft zu ziehen, die jenes Leben ausgelöscht hatten.
Jansen sagte nichts, sah nur aufmerksam in den Rückspiegel, blieb konsequent auf der linken Spur und ließ alle anderen Fahrzeuge weit hinter sich. Angermüllers erster großer Einsatz seit einem Dreivierteljahr. Er verspürte eine merkwürdige Anspannung, fast so etwas wie Lampenfieber. Nach ungefähr 20 Minuten wechselten sie von der Autobahn auf eine Bundesstraße, bis sie schließlich auf einer schmalen Landstraße landeten, die durch einen dichten Laubwald führte. Als rechts vor ihnen ein heller Lichtschein durch die Bäume schimmerte, hatten sie ihr Ziel erreicht.
Jansen lenkte ihren Wagen an den Straßenrand hinter die bereits hier parkenden Fahrzeuge, und die Kommissare stiegen aus. In den hohen, winterkahlen Bäumen rauschte leise der Wind. Es roch nach feuchter Erde und moderndem Laub. »Seebadeanstalt« stand auf einem Schild. Sie folgten dem unbefestigten Weg, und nach ein paar Schritten tauchten vor ihnen mehrere Flachbauten auf, in deren Mitte sich ein Durchgang öffnete, der mit Flatterband versperrt war. Zwei uniformierte Kollegen hielten Wache, um Unbefugte am Betreten des Geländes zu hindern. Vor ihnen stand ein einzelner Mann mit einem Hund an der Leine,