Michael Borgolte

Weltgeschichte als Stiftungsgeschichte


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der jüngeren Forschung ist die Behauptung aufgestellt worden, mit dem Aufkommen der Fegefeuerlehre im 12. Jahrhundert seien Stiftungen für das Seelenheil eher unattraktiv geworden; es sei nämlich jetzt weniger auf dauernde Fürbitten und ‚ewige Messen‘ als auf kurzfristige Gebets- und Opferhilfe durch die Nachlebenden zugunsten des Verstorbenen angekommen. Die These hatte der französische Mediävist Jacques Chiffoleau auf der Grundlage der testamentarischen Überlieferung aus Avignon entwickelt.260 In Auseinandersetzung mit ihm hat inzwischen der Historiker Ralf Lusiardi die letztwilligen Verfügungen der Hansestadt Stralsund ausgewertet und Chiffoleau eindrucksvoll widerlegt.261 Offenbar wurde die Vorstellung von einem endzeitlichen Gericht durch die Lehre vom Partikulargericht und Fegefeuer niemals nachhaltig verdrängt oder relativiert. Testatoren, die es sich leisten konnten, sorgten für unbegrenzte Messreihen ebenso wie für kurzfristigere liturgische Hilfen für das Seelenheil.

      Ins griechische Christentum ist die Lehre vom Fegefeuer niemals eingedrungen; als die orthodoxen Theologen mit ihr konfrontiert wurden, vor allem nach der Eroberung Konstantinopels durch westliche ‚Kreuzfahrer‘ (1204), reagierten sie eher mit Unverständnis als durch Abwehr.262 Ihre Eschatologie blieb auf das Endgericht fixiert und bot den Gläubigen wenige Anhaltspunkte für das Jenseits zwischen dem Tod des Einzelnen und dem allgemeinen Tag der Auferstehung. Deren Phantasie und depressive Erwartung konnten vorchristliche Ideen vom Schattenreich des Hades als einem freud- und hoffnungslosen Ort der Verstorbenen besetzen, weil sich die Kirchenführer agnostisch verhielten und fast alle Antworten schuldig blieben. Die Thesen einer mentalitätsgeschichtlichen Studie aus den 70er Jahren, dass die kirchliche Botschaft vom Letzten Gericht, von Himmel und Hölle kaum tief ins religiöse Bewusstsein der Byzantiner eingedrungen sein soll,263 gelten allerdings als überzogen.264 In Wort und Bild verbreitet waren nämlich die Vorstellungen vom Kampf der Engel und Dämonen um die Seele der Verstorbenen und von der Passage der Seele durch 22 Zollstationen, an denen die guten Werke gegen die ungebüßten Sünden abzuwiegen waren;265 die jüngere Forschung hat auch den Wert hagiographischer Texte für die Erkenntnis volkstümlicher Bilder vom Jenseits herausgearbeitet.266 Nicht zuletzt argumentierte man mit der Verbreitung von Seelenheilstiftungen für die Toten, besonders durch die Errichtung von Klöstern, um die Verbreitung der kirchlichen Lehre über Jenseits und Rechtfertigung vor dem höchsten Richter zu belegen.267 Einer von wenigen Autoren, die sich im Mittelalter um eine Begründung für Stiftung und Memoria bemühten, war der Historiker, Theologe und Mathematiker Michael Glykas (12. Jh.). Befragt, ob die Verrichtung guter Werke die Sünden der Verstorbenen ganz auslöschen könnte, verwies er auf ein Gebet des heiligen Basilius: „Nicht die Toten preisen dich, o Herr, noch sind sie in der Lage, dir aus dem Hades ein Bekenntnis abzulegen, aber wir, die Lebenden, verrichten Bittgebete für ihre Seelen.“268 Glykas hob in diesem Zusammenhang die Praxis des Totengedächtnisses am dritten, neunten und vierzigsten Tag sowie am Jahrtag hervor und führte dazu die Autorität der Apostel an, doch könnten Gebetsinterventionen der Lebenden nur gegen lässliche und nicht gegen Todsünden wirksam werden.

      Den unklaren und sonst auf das Endgericht fixierten Vorstellungen der Byzantiner über das Jenseits entsprach es, dass bei religiösen Stiftungen immer wieder betont wird, sie sollten „auf ewig“ oder „bis zum Ende der Zeiten“ dauern.269 Bevorzugte Orte des Gebets im Gedenken an die Toten (mnemosyna),270 „solange der Welt besteht“, wurden in der Tat die Klöster; sie vor allem traten das Erbe der heidnischen Stiftungen in der Antike an.271 Johannes Chrysostomos, Bischof von Konstantinopel (398–404), hatte noch darüber zu klagen, dass viele Reiche Märkte und Bäder anstelle von Kirchen gründeten. Diejenigen aber, die auf dem Lande Kirchen erbauten, würden durch ihre Erwähnung in unaufhörlichen Gebeten und durch Hymnen beim sonntäglichen Gottesdienst geistlichen Lohn, aber auch weltliche Gegengaben (Spenden) erhalten.272 Im Mittelalter standen, bedingt auch durch die Überlieferungslage, Klöster so sehr im Vordergrund der Stiftungsgeschichte, dass beides manchmal geradezu in eins gesetzt wird. Natürlich betraf dies vor allem vornehme und reiche Fromme und ihre Familien, die sich von den an Gott, Maria oder die Heiligen beziehungsweise an Mönche und Nonnen adressierten Gaben Gnade, Hilfen und Gebetsbeistand erwarteten.273 Aber auch weniger Begüterte konnten mit Spenden an die Kirche ein Anrecht auf Gebetshilfe erwerben. Die Wohltäter ließen ihre Namen und oft auch die Namen ihrer Angehörigen bereits zu Lebzeiten in Diptychen eintragen, die das Gebetsgedenken für Lebende und Verstorbene in der Messliturgie ermöglichen sollten. In den klösterlichen Gründungsurkunden und Lebensordnungen, den sogenannten typika, bedingten sich die Stifter detaillierte Memorialleistungen aus.274

      Ein anderes, mit der Memoria eng verflochtenes Motiv byzantinischer Stifter war die Wohltätigkeit. Zur Zeit des Johannes Chrysostomos scheint die Armensorge gegenüber der Stiftung von Kirchen sogar noch im Vordergrund gestanden zu haben; bereits um 350 u. Z. soll nach den Ergebnissen neuer Forschungen in Anatolien auch das christliche Spital als Einrichtung der Fürsorge erfunden worden sein.275 Diese christlichen Wohltätigkeitsanstalten scheinen sich seit der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts durchgesetzt zu haben; im Codex Theodosianus, dem Gesetzbuch Kaiser Theodosius II. von 438, werden sie noch nicht erwähnt, während der Codex Iustinianus von 534 ihre große Bedeutung im Byzantinischen Reich belegt.276 Im Unterschied zu den Verhältnissen im klassischen römischen Recht waren sie selbstständig; in den Quellen findet sich zwar keine gemeinsame Bezeichnung, doch spricht die Forschung nach dem häufig belegten Motiv der frommen Gesinnung von piae causae („frommen Angelegenheiten“), sonst zur Betonung des kirchlichen Charakters von venerabiles domus („ehrwürdigen Häusern“).277 Im Einzelnen werden bei den Spitälern in der Überlieferung Fremdenhäuser, also Xenodochien, Armenhäuser, Krankenhäuser, Waisenhäuser, Findelhäuser und Altenheime unterschieden. Die idealtypische Begründung und Beschreibung dieser Stiftungen hatte bereits Kaiser Justinian (gest. 565) gegeben: „Einem jeden Menschen ist vom Schöpfer nur der Lauf eines einzigen Lebens gegeben, an dessen Ende der Tod steht. Nicht aber ziemt es, den ehrwürdigen Häusern und ihren Kongregationen, die als unsterblich unter Gottes Schutz stehen, ein Ende zu setzen, auch nicht in ihren Gütern. Sondern solange die ehrwürdigen Häuser bestehen – und sie werden in Ewigkeit bestehen, ja bis ans Ende der Tage, solange der Name ‚Christen‘ bei den Menschen gilt und verehrt wird –, ist es gerecht und billig, dass auch die ihnen auf Ewigkeit zugewandten Spenden und Einkünfte ewig dauern, damit sie unaufhörlich dienen den nie erlöschenden frommen Werken.“278 Den Empfängern der Wohltaten sagte man eine besondere Nähe zu Gott nach; Leprakranke, Waisen, Arme, Kranke oder Witwen wurden deshalb als Gegenleistung für ihre Unterstützung in die Fürbitten zugunsten der Stifter einbezogen. In mittelalterlicher Überlieferung begegnen die Armen und die Wohltätigkeitseinrichtungen fast immer als Angehörige und Bestandteile der klösterlichen Anlagen.

      Die typika als wichtigste Zeugnisse für das byzantinische Stiftungswesen zeigen bei aller Gleichförmigkeit eine erstaunliche Vielfalt in der Narration der Stiftungsgeschichte und bei den Normen für das künftige Leben der klösterlichen Insassen.279 Die Verfügungen des Senators, Richters und Geschichtsschreibers Michael Attaleiates vom März 1077 enthalten in diesem Sinne neben Typischem auch viel unverwechselbar Besonderes.280 Nach seinen eigenen Worten stammte er aus „einem fremden Land“, dem Namen nach aus Antalya an der Südküste Anatoliens, also dem Expansionsraum der islamisierten Türken (Seldschuken).281 Seinen Erbbesitz hatte er aber seinen Schwestern überlassen und bei seinem Aufstieg aus bescheidenen Verhältnissen in der entfernten Provinz reiche Güter in der Hauptstadt und in Rhaidestos (türk. Tekirdağ) am Marmarameer erworben. Seine Frau war bereits verstorben, als er über die Wohltaten Gottes nachdachte und seiner vielen schweren Sünden wegen mit sich haderte. Er wolle jedoch alle Hoffnung für sein Heil auf Gott setzen und einen Teil seiner Besitzungen für gute Werke aufwenden. In Rhaidestos und Konstantinopel schuf er ein Armenhaus, dem er zur geistlichen Betreuung ein Kloster zuordnete. „Dir, o Herr“, so heißt es in seinem dem Rechtstext inserierten Gebet, „biete ich diese Gabe dar, weil ich meinen Besitz durch deine Großzügigkeit erhalten habe, damit es dem Vorhaben deiner Liebe diene. Denn in deiner Güte hast du jene, die eine fromme Rettung erstreben, mit Gaben beschenkt, indem du erklärtest, dass der Reichtum jedes Mannes als Lösegeld für seine Seele dienen kann. Möge deine große und allmächtige Rechte diese Gaben halten und sie in Ewigkeit bewahren (…). Jeder Kaiser, Adlige und Dynast sowie alle Diener des heiligen Sanktuariums, Bischöfe sowohl als auch Priester, und jeder, der in politische und kirchliche