der Ungläubigen als schwarze Vögel in der Nachbarschaft der Hölle. Die Grabesstrafen dauerten al-Ğauzīya zufolge zwischen sieben und vierzig Tagen an und hielten die Seele in der Umgebung des Grabes gefangen. In dieser Zeitspanne könnten die Verstorbenen noch mit ihren Hinterbliebenen kommunizieren, die ihnen durch Gebete und Koranrezitationen beistehen, aber auch im Traum begegnen mochten.
Die Geltung theologischer Diskurse wie bei al-Ğauzīya über Diesseits, Jenseits und Zwischenzustand der Verstorbenen für ein allgemeines Todesverständnis im Islam hat vor einiger Zeit Thomas Bauer mit beachtlichen Argumenten relativiert. Er wies darauf hin, dass die Vorstellungen von Paradies und Hölle im Unterschied zum Koran in der Gesamtheit des klassischen arabischen Schrifttums erstaunlich wenig präsent gewesen seien.325 Suche man die Todesdiskurse in anderen als den gelehrten Texten auf, dann zeige sich, dass das Grab die Menschen mehr beschäftigt habe als das Jenseits.326 Wie zwanzig Jahre zuvor ein Byzantinist327 machte auch der Islamwissenschaftler und Arabist den Versuch, mit einer mentalitätsgeschichtlichen (oder wissenssoziologischen) Fragestellung einen vorheilsgeschichtlichen Erfahrungs- und Erwartungsraum der größeren Population gegenüber dem Denken der Wissenschaft zu erschließen. Er testete die Validität seiner Skepsis an der Biographiensammlung des al-Qifṭī von 1235 u. Z. Zwar folge auch dieser dem Muster anderer Erzählungen, in denen Verstorbene den Nachlebenden in Träumen davon berichteten, Gott habe ihnen vergeben und sie seien im Paradies angelangt.328 Wenn aber von Dichtern und ihren Werken die Rede sei, erschienen die Traditionen des vorislamischen poetischen Todesdiskurses als ungemein vital. Bei den Trauerdichtungen (marṭiya) werde entgegen den Normen des Korans der Schmerz nicht gezügelt und mit dem Tod bei hemmungslosem Weinen gehadert. Die islamische Hoffnung auf ein Weiterleben im Jenseits spiele so gut wie gar keine Rolle zugunsten eines Nachlebens im Diesseits mit dem Ruhm unvergänglicher Leistungen. So zitiere al-Qifṭī einen Vers des Ibn Sīd al-Baṭalyawsī: „Der Wissende lebt, lebt ewig nach seinem Tod, während seine Gelenke unter der Erde vermodern.“329 Der mit Abstand wichtigste, immer wiederkehrende Trost der Trauerpoesie sei die Erkenntnis, dass alle Menschen sterben müssen; dies habe die arabische Poesie mit der gleichzeitigen christlich-mittelalterlichen gemein und stehe in scharfem Kontrast zur Wertung der Heutigen, die in der Allgemeinheit des Todesschicksals keinerlei Entlastung finden können.330
Sicher lassen sich die verschiedenen Diskurse nicht strikt separierten Menschengruppen zuordnen, sondern dürften sich im Denken und Handeln derselben Personen durchdrungen haben. Heidnische Traditionen emphatischer Diesseitigkeit behaupteten sich neben der Offenbarung des schaffenden und richtenden Gottes, der Höllenstrafen und der Paradiesesfreuden. Kein Zweifel besteht aber daran, dass auch im Islam die heilsbezogene Sorge für die Toten durch Gebet und Wohltätigkeit weitverbreitet war. Schon in zahlreichen Ḥadīten werden Verwandten und Freunden verschiedene Hinweise gegeben, wie sie dem Verstorbenen seinen Aufenthalt im Grab angenehmer machen könnten.331 Generell unterschieden wurden zwei Kategorien, nämlich das Weinen um die Toten und das Gebet beziehungsweise Almosengeben zu ihren Gunsten.332 Die gemeinten Gebete konnten nicht nur bei der Bestattung und am Grab selbst, sondern überall gesprochen werden. Wenn grundsätzlich argumentiert wurde, galt lautes Trauergeschrei als anstößig. Die Fürbitte, also die Gebetsintervention (du‘a’), konnte auch den Lebenden zugutekommen,333 galt aber vor allem als sehr hilfreich für die Verstorbenen.
Im volkstümlichen ‚Totenbuch des Islam‘ (‚Mohammedanische Eschatologie‘) wird der Weg des Verstorbenen vom Hinaustragen der Bahre aus seinem Haus bis zur Bestattung geschildert, wobei sich der Tote wiederholt hilfesuchend an die Anwesenden wendet: „,Sehet, ich überlasse alles, was ich angesammelt, meinen Erben, sie aber haben nichts von meinen Sünden zu tragen, und der Richter wird mich zur Rechenschaft ziehen, während ihr meiner Leiche folget. Betet daher für mich!‘ Wenn sie nun an seiner Bahre gebetet und einige seiner Hausgenossen und Freunde, die das Gebet verrichtet haben, (von der Bahre) fortgehen, dann sagt er: ‚Bei Gott, o meine Brüder, ich weiß gar wohl, dass der Tote vergessen wird, aber wollt doch in dieser Stunde nicht eher euch von hier wenden, als bis ihr mich zur Erde bestattet habt (…)!‘ Und wenn sie ihn an sein Grab setzen, spricht er: ‚Bei Gott, o meine Brüder, ich weiß, dass ihr von mir Nutzen haben werdet, während ich in dem Dunkel des Grabes mich befinden werde, und ihr lasst mich nun einsam zurück in dem Schrecken; darum bitte ich euch, um Hilfe euch anrufend.‘ Wenn sie ihn dann ins Grab legen, so spricht er: ‚Bei Gott, o meine Erben, das große Vermögen, das ich in der Welt gesammelt, hinterlasse ich euch, vergesset mich daher nicht, (sondern gedenkt meiner) durch große Freigebigkeit. Ich habe euch ja den Koran und gute Sitten gelehrt, und seht, heute bedarf ich eurer; vergesst meiner nicht in euren Gebeten!‘“
Der anonyme Verfasser fügt noch eine Geschichte über die Wirksamkeit der Lebendenhilfe für die Verstorbenen an. Von Abu Ḳilâba werde Folgendes überliefert: „Er sah im Traume einen Gottesacker (und es kam ihm vor), als wenn die Gräber desselben leer und die Toten aus ihnen hervorgegangen wären und sich auf den Grabesrand gesetzt hätten. Vor einem jeden von ihnen war eine Lichthülle; unter ihnen jedoch sah er einen Mann von seinen Nachbarn, vor welchem er kein Licht bemerkte, und er fragte ihn nach seinem Zustande, indem er sprach: ‚Warum sehe ich vor dir kein Licht?‘ Da antwortete der Tote: ‚Diese da haben Kinder und Freunde, die für sie beten und um ihretwillen milde Gaben spenden, und dieses Licht ist (erzeugt) von dem, was sie ihnen zukommen lassen; ich aber habe einen Sohn, der nicht fromm ist; er betet nicht für mich und übt meinetwegen keine Wohltaten aus; deshalb habe ich kein Licht, und ich bin beschämt unter meinen Nachbarn.‘ Als nun Abu Ḳilâba erwachte, ließ er den Sohn zu sich rufen und erzählte ihm, was er gesehen. Da sagte der Sohn: ‚Ich bin bekehrt durch dich und will nicht mehr zu dem, wobei ich bisher verharrte, zurückkehren.‘ Und er beschäftigte sich nun fortwährend mit frommen Werken und Gebeten für seinen Vater und mit Wohltätigkeit zum Heile desselben. Nach einiger Zeit sah Abu Ḳilâba diesen Begräbnisplatz wieder im Traume und zwar in seinem früheren Zustande, den (erwähnten) Mann aber mit einem Lichte geschmückt, heller als die Sonne und größer als das seiner Genossen, und dieser sprach: ‚O Abu Ḳilâba, möge dir Gott für das, was du an mir getan, Gutes zuteilwerden lassen; denn durch dein (mahnendes) Wort bin ich von dem Höllenfeuer und auch von der Scham vor meinen Nachbarn befreit worden.‘“334
Der Koran schärft zwar ein, dass jeder Einzelne im Endgericht für seine Taten und seinen Glauben Rechenschaft schulde, dass es nun zu spät sei, neue gute Werke zu verrichten, und ihm niemand zu Hilfe kommen könne;335 doch wurde schon in sunnitischer Überlieferung festgestellt, dass zu Lebzeiten vollzogene gute Werke auch nach dem Tod weiterwirken und das Schicksal des Wohltäters günstig beeinflussen könnten. Kanonische Bedeutung erlangte eine von Abū Hurayra überlieferte Äußerung des Propheten: „Wenn ein Mann stirbt, kommen alle seine Handlungen an ein Ende, mit Ausnahme dieser drei: des wiederkehrenden Werkes der Barmherzigkeit, der Werke des Wissens sowie einer frommen Nachkommenschaft, die für ihn betet.“336 Ein anderer Ḥadīt präzisiert: „Es gibt sieben Taten, deren Belohnung einem Diener Gottes über den Tod hinaus zugutekommen, wenn er schon im Grabe ruht: die Pflege des Wissens, das Ausheben einer Fahrrinne im Strom, der Bau eines Bewässerungskanals, die Pflanzung eines Baumes, der Bau einer Moschee, die Vererbung eines Buchs mit dem Koran oder die Zeugung eines Sohnes, der für seine Sündenvergebung betet.“337 Auch wenn die Konzession postmortaler Handlungsmacht in theologisch-systematischer Hinsicht als „marginale Ausnahme“ bezeichnet worden ist,338 gelten doch die angeblichen Äußerungen des Propheten als gedankliche Grundlage des muslimischen Stiftungswesens überhaupt. Dementsprechend wird der Ḥadīt in den waqf-Urkunden zitiert.339
Die Ḥadīt-Sammlungen ordnen die Errichtung einer Stiftung (waqf) als ṣadaqa ein, ein Wort, das ursprünglich jede gute Tat bezeichnet.340 Erst im frühen 9. Jahrhundert taucht die Definition eines „unwiderruflichen Almosens“ (ṣadaqa batta) für den (Familien)waqf auf und im 11. Jahrhundert unterstreicht aš-Šīrāzī, dass die Stiftung als unzerstörbares und dauerndes Almosen zu betrachten sei. Durch ihren ewigen Bestand könne die Stiftung nach Meinung der muslimischen Juristen als eine gottwohlgefällige Tat gelten, die den Stifter je länger je näher zu Gott bringe. Die transmortale Annäherung an Gott (qurba), die der muslimischen Vorstellung von einer Rückkehr des Menschen schon von Adams Sündenfall her zum Paradies entsprach,341 konnte sich also nach Maß und Dauer der Wohltaten bemessen.