Michael Borgolte

Weltgeschichte als Stiftungsgeschichte


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und auch zum westlichlateinischen Stiftungswesen lag darin, dass die Rusʾ neben den Memorialstiftungen keine karitativen Stiftungen kannte.305 Die Verteilung von Speisen an die Armen wie in Volokolamsk war nur Nebenprodukt des klösterlichen Alltags, aber keine organisierte Mildtätigkeit.306 Die Gläubigen waren auf die direkte Unterstützung der Bedürftigen verwiesen und nahmen diese Christenpflicht auch ernst, aber die Kirche fungierte nie als Redistributionsinstanz von Gewinnen und Reichtümern.307 Noch im Russischen Reich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts sollte es der Staat sein, der Armenhäuser errichtete.308

      Es ist etwas mehr als dreißig Jahre her, dass der amerikanische Philosoph und Religionswissenschaftler William R. Jones die frommen Stiftungen im mittelalterlichen Christentum scharf von denen im Islam abgrenzte. Beide kennten zwar religiöse, karitative und erzieherische Zwecke; während aber die christlichen Stiftungen Gebete und Messen zugunsten lebender und verstorbener Wohltäter in den Vordergrund rückten, sei der muslimische waqf ausdrücklich diesseitig orientiert gewesen und habe die „moralische Neigung“ des Islam zur Umformung der Gesellschaft nach den Normen des Korans und des geheiligten Gesetzes zum Ziel gehabt.309 Die sakramentale Ausrichtung der Christen habe auf der Institution der Kirche beruht, die durch ihren Klerus bei Gott zugunsten der Stifter intervenieren konnte. Die Muslime, die einer solchen Organisation entbehrten, hätten sich hingegen ihrer persönlichen Verantwortung für die moralische Ordnung der Welt stellen müssen. Zu einem anderen Ergebnis als Jones gelangten jüngere vergleichende Studien. Nach Untersuchung muslimischer ‚öffentlicher Stiftungen‘ in Jerusalem urteilte Johannes Pahlitzsch, dass diese mindestens vom 12. Jahrhundert bis in osmanische Zeit (16. Jh.) dazu gedient haben, das eigene Seelenheil zu fördern. Das christliche System von Stiftungen erleichtere deshalb das Verständnis des waqf.310 Und der israelische Islamwissenschaftler Yaacov Lev resümierte die Ergebnisse seiner umfassenden Abhandlung über muslimische Stiftungen des Mittelalters im Jahr 2005, es habe eine gemeinsame Tendenz aller drei monotheistischen Religionen gegeben, nämlich „die Suche nach persönlichem Heil durch die Gabe und der Wunsch, die Begünstigten der Caritas zum Gebet für das Heil der Wohltäter zu verpflichten (…). Der Wille, Gott nahe zu sein und das Heil zu erwerben, symbolisierten die tiefste Bedeutung der mittelalterlichen frommen Wohltätigkeit.“311

      Um den widersprüchlichen Urteilen gerecht zu werden, empfiehlt sich ein Rückblick auf vor- und frühislamische Jenseitsvorstellungen. Aus der Wende zum 7. Jahrhundert u. Z., also der Lebenszeit des ‚Propheten‘, bieten dazu vor allem Gedichtfragmente Erhellendes. Nach Analyse der Fachleute tritt uns in ihnen ein dem Diesseits verhafteter Mensch entgegen, der sich vom Tod als sinnlosem und unbegreiflichem Ereignis abgewandt hat und den Dingen dieser Welt widmet.312 Die altarabische Poesie schildere vornehmlich Kampfkraft und Edelmut der Helden mit der Verspottung ihrer Gegner, die Auseinandersetzung mit der Natur, auch auf Reisen, sowie Abenteuer der Liebe. Unter dem Einfluss von Christen, Juden und Zoroastriern, denen die arabischen Händler und Pilger etwa beim heidnischen Heiligtum der Kaaba in Mekka oder in Syrien, Äthiopien, Iran und im Jemen begegnen konnten und die auf ihrer Halbinsel auch Gemeinden gebildet und Herrschaften geprägt hatten, dürften ihre Lehren vom Schöpfergott, von der Auferstehung der Menschen und ihres Seins bei Gott schon Verbreitung gefunden haben.313 Was Mohammed dann über das Endgericht des Schöpfers geoffenbart worden war, fasst eine der ältesten Suren (99, 6–8) in folgende Worte: „(…) An jenem Tag werden die Menschen getrennt hervorkommen, damit sie ihre Taten zu sehen bekommen. /Wer Gutes tat, vom Gewichte eines Stäubchens, wird es sehen,/Und wer Böses tat, vom Gewichte eines Stäubchens, wird es sehen.“314

      Tatsächlich erwiesen sich die Araber aber erst als zu verstockt, um die Lehre von Auferstehung und Individualgericht anzunehmen. Ein anderer Passus des Koran berichtet: „[U]nd [sie] sprechen: ‚Das ist doch nichts als klarer Zauber!/Können wir denn, wenn wir gestorben und zu Staub und Gebein geworden sind, wieder auferweckt werden?/Und auch unsere Vorväter?‘“ (Sure 37, 15–17).315 Diese naturalistische Skepsis traf auf die wieder und wieder von Mohammed formulierte Verheißung, dass der Ungläubige am Tag des Gerichts ins Feuer der Hölle gestoßen werde, während dem Gottesfürchtigen seine guten Taten mit den Freuden des Paradieses vergolten würden. Jedermann hafte am Ende für sein Tun auf der Erde. Die Lehre, dass es Verdienst und Eigenleistung der Menschen seien, die ihr Schicksal im Jenseits bestimmten, vertraten im 7. Jahrhundert dann besonders die sogenannten Hāriğiten, doch war im Koran auch schon die Idee angeklungen, dass göttliche Gnade (allein) die Aufnahme ins Paradies bewirken könne.316 Dieser Gedanke bot offenkundig den Ansatzpunkt für spätere Lehren über Interventionsmöglichkeiten zugunsten der Verstorbenen. Bei den Schiiten sollte diese Rolle neben Mohammed selbst den aus seiner Verwandtschaft hervorgegangenen Imamen zufallen; wer ihnen Gefolgschaft erwiesen hatte, konnte auf ihre Fürsprache bei Gott für den Einzug ins Paradies hoffen. Die Sunniten weisen die gleiche Macht neben Mohammed auch dessen treuesten Gefährten zu. Der Theologe al-Aš’arī (gest. 935) formulierte Lehrsätze, denen bis heute im sunnitischen Islam eine im Kern dogmatische Bedeutung zugeschrieben wird: „[Die Sunniten] bekennen, dass Gott dem Gläubigen hilft, ihm zu gehorchen, aber sich von den Ungläubigen zurückzieht, den Gläubigen gnädig ist, (…) aber den Ungläubigen nicht (…). Sie bekennen sich ferner zur Fürbitte des Propheten sowie dazu, dass sie sich (auch) auf diejenigen aus seiner Gemeinde erstreckt, die schwere Sünden begangen haben; ferner [bekennen sie sich] zur Grabesstrafe und dazu, dass der Teich [im Paradies] Wahrheit ist und die Brücke Wahrheit ist und die Auferweckung nach dem Tode Wahrheit ist und die Abrechnung Gottes mit den Menschen Wahrheit ist und das Stehen vor Gott [am Jüngsten Tag] Wahrheit ist.“317

      Über den Weg des Menschen oder seiner Seele zwischen Tod und Endgericht ist der Koran wenig beredt; die göttlichen Offenbarungen in der Überlieferung Mohammeds sind ganz auf Paradies und Hölle fixiert, während sonst in muslimischen Texten die Phantasie der Autoren beim Grab und bei der Grabesexistenz endet. Die Zwischenzeit mit ihrer potentiellen Intervention der Nachlebenden, die ein Stiftungswerk realisieren, bleibt meist nebulös. Selbst die Seele scheint nicht klar erfasst worden zu sein; schon nach vorislamischer Dichtung stand nach der Meinung moderner Wissenschaftler der Begriff nafs für das individuelle Selbst in einem reflexiven Sinn, während rūḥ den „Geist“ im allgemeinen Sinn bezeichne, ohne sich auf die einzelmenschliche Seele zu beziehen.318 Andere Historiker unterscheiden anders.319 Dazu kommt, dass im orthodoxen Islam der Streit um die Unsterblichkeit der Seele weniger engagiert geführt wurde als die Diskussion um die Auferstehung des Leibes.320

      Beim Tod des Menschen, so deuten wenigstens die Suren an, entweicht die Seele dem Körper durch die Kehle und gelangt in die Hände von Engeln. Ausgestaltende Erzählungen stellen den Kampf verschiedener dieser Wesen um die Seele dar, der sich auf die Listen guter und schlechter Taten des Verstorbenen stützen konnte.321 In Sure 23, 100 ist immerhin noch von einer Schranke hinter den Verstorbenen die Rede, die jede Rückkehr ins irdische Leben, also zum Beispiel auch die Wiedergeburt, verhindert; sie soll halten „bis zum Tag, da sie auferweckt werden“.322 Das Trennende wird mit einem persischen Lehnwort al-barzaḫ genannt und gewinnt in der Erzählung der Autoren eine Qualität als Periode zwischen Diesseits und Jenseits. Über Jahrhunderte entwickelte sich, auch unter Rückgriff auf wenige dem Propheten zugeschriebene Äußerungen (ḥadīte), eine Literatur über das ‚Grabesleben‘.323

      Als erstes zusammenfassendes Werk dazu gilt das ‚Seelenbuch‘ (‚Kitāb ar-Rūḥ‘) des syrischen Rechts- und Traditionsgelehrten Ibn Qaiyim al-Ğauzīya (gest. 1291). Für diesen besaß das Interim im Grab eine selbstständige Qualität neben Diesseits und Jenseits.324 Zwar werde die Seele (rūḥ) nach al-Ğauzīyas Lehre dem Verstorbenen unmittelbar nach dem Verscheiden vom Todesengel durch den Hals entwunden und auf eine Himmels- und Höllenvorschau entführt; aber sie werde dem Körper danach wieder angeheftet. Es handele sich dann nicht um eine immaterielle, sondern um eine feinstoffliche Seele, so dass jeder Tote die nun folgende peinliche Befragung und Bestrafung sinnlich erfuhr. Nach einer ersten Tatenbilanz werde der Tote mit der Frage nach seinem Glaubensbekenntnis konfrontiert. Nur die Märtyrer entgingen hierbei der Strafe, während die anderen je nach dem Grad ihrer Glaubensfestigkeit leiden müssten. Die Läuterung von der Sündhaftigkeit weise zwar auf die ewigen Strafen voraus, sei aber keine Vorentscheidung