Michael Borgolte

Weltgeschichte als Stiftungsgeschichte


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einer modernen Definition „die ewige Widmung eines gewissen Besitztums an Gott mit der Bestimmung seiner Erträge für jeden Zweck, der vom (religiösen) Gesetz anerkannt ist, und der Intention, himmlischen Lohn zu empfangen“.342

      Auch wenn der Islam keine mit dem christlichen Klerus und der Messe vergleichbare Einrichtung kennt, erfüllten etwa Ṣūfī-Gemeinschaften durch die Rezitation des Koran und gesungene Gebete eine ähnliche Aufgabe zur „Rettung muslimischer Seelen“. Der Vollzug des ḥuḍūr, des täglichen gemeinsamen Gebets mit Koranlesungen, galt in Khānqāhs (Ṣūfī-Konventen) der Mamlūkenzeit (seit 1250) als effektivster Beistand für die Verstorbenen, sowohl für deren Kämpfe im Grabe als auch für den Nachlass ihrer Missetaten und für die Auferstehung zum Paradies am Jüngsten Tag.343 Daneben konnten die Armen, Reisenden und Pilger, die Schüler und alle anderen, die durch ein gottgefälliges Stiftungswerk gefördert wurden, die verstorbenen Stifter auf ihrem Weg zu Gott unterstützen.

      Exemplarisch für das Motiv jenseitiger Vergeltung und die Hilfe der Lebenden, aber auch für die Fortdauer des Stifterruhms, stehen groß angelegte Stiftungen in oder bei Täbris während des 14. Jahrhunderts. Als der mongolische Ilchan von Persien, Gāzān Hān, unmittelbar vor Antritt seiner Herrschaft (1295–1304) den muslimischen Glauben seiner Untertanen angenommen hatte, errichtete er zunächst weitverstreute Unterkünfte für die Nachfahren des Propheten, Konvente von Ṣūfīs, Moscheen, Madrasen und einen Kanal zur Wasserversorgung des schiitischen Heiligtums in Kerbela (am Euphrat/Irak). Für die Anlage seines Mausoleums in Šanb westlich von Täbris orientierte er sich dann an den reich ausgestatteten Gräbern islamischer Heiliger und Imame: „Wie kann man jemanden, der auf solche Weise tot ist und eine solche Grabstätte, so ein Mausoleum (mašhad, mazār) hat, überhaupt für tot halten?“, soll er sich gefragt haben, um dann anzufügen: „Wenn ich auch nicht das [spirituelle] Format der Gottesmänner für mich beanspruchen kann (wörtlich: wenn mir auch die Rangstufe der Frommen – martaba-yi sulāḥā – nicht zukommt), [so kann ich] ihnen zumindest insofern nacheifern, dass ich eine Anlage mit frommen Einrichtungen (adwāb ul-birr: ‚Pforten der Frömmigkeit‘) begründe, die mir als letzte Ruhestätte dienen und auf diese Weise zum immerwährenden gemeinnützigen Werk (ḥairī, ṣadaqa-yi ğārī) werden soll. Möge der Segen (barakāt), der [dank der frommen Stiftungen] darauf ruhen wird, das Erbarmen des erhabenen Gottes sicherstellen und nicht versiegenden Lohn im Jenseits (sawāb) einbringen. Das wäre überaus gut.“344 Die „Pforten der Frömmigkeit“ entsprachen den piae causae oder venerabiles domus in Byzanz;345 die Anlage des Ilchans umfasste neben dem eigentlichen Mausoleum eine Moschee, eine hanafitische und eine schafiitische Madrasa (also verschiedene Schulen der islamischen Wissenschaften), einen ṣūfīschen Konvent, eine Herberge für die Verwandten des Propheten, ein Observatorium, eine Bibliothek, ein Spital, eine Armenküche und anderes mehr.346

      Im Jahr 1309 u. Z. setzte auch der Wesir der mongolischen Herren, der Arzt und Schriftsteller Rašīduddīn, eine Stiftungsurkunde auf, die er in den folgenden Jahren noch ergänzte; wie sich zeigt, ahmte er Gāzāns Unternehmen nach und errichtete um sein eigenes Grabmal eine multifunktionale Anlage für Wohltätigkeit, Wissenschaft, Koranrezitation, Totengebete und Pflege des Nachruhms. Sein eigenhändig auf Persisch geschriebenes, höchst umfangreiches Dokument ließ er mit einer ausgreifenden theologischen Abhandlung über den Nutzen frommer Stiftungen für das postmortale Schicksal des Menschen beginnen. Wie seine moderne Interpretin betont, war darin von Mitleid mit den Armen und Bedürftigen oder dem Wunsch, einen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten, an keiner Stelle die Rede: „Nicht philanthropische Beweggründe zählen, sondern einzig das Streben nach dem spirituellen Nutzen (sawāb) für den Urheber des guten Werkes.“347 Der Stifter ließ sich durch die bereits im Koran anzutreffende und auch im Christentum bekannte Vorstellung vom ‚Seelenkonto‘ leiten, das am Jüngsten Tag abgerechnet würde.348 Der Lohn für die guten und die Strafe für die schlechten Taten würden dann, wie er argumentierte, nicht symmetrisch veranschlagt; die Bestrafung werde zur bösen Tat zwar linear in Beziehung gesetzt, doch könne man für die gute Tat mit einem Vielfachen dieses Wertes als Lohn rechnen. Rašīduddīn führt dafür die Suren 6, 160 und 2, 261 an: „Wer eine gute Tat vorbringt, bekommt dafür zehn gleicher Art. Und wer eine schlechte vorbringt, dem wird mit einer ebensolchen vergolten (…).“ „Die ihre Güter spenden für Gottes Weg, die gleichen einem Samenkorn, das sieben Ähren sprossen lässt, in deren jeder hundert Samenkörner sind. Gott vervielfacht, wem er will (…).“349 Das Paradies sei hierarchisch geordnet, so dass der Fromme Gott besonders nahe sei. Wer mehr gute Werke vorzuweisen habe als ein anderer, der rücke in den himmlischen Rängen weiter und schneller auf. Auch wenn der Tod dem Menschen die Möglichkeit nehme, selbst Gutes oder Schlechtes zu tun, bringe dies doch nicht notwendig Stillstand in die Bewegungen des Seelenkontos. Denn nach dem bekannten Prophetenwort könne das zu Lebzeiten gegebene „immerwährende Almosen“ postume Gewinne verschaffen, ebenso wie ein Wissen des Toten, von dem die Lebenden Nutzen haben, oder auch die Bittgebete eines rechtschaffenen Sohnes. Das „immerwährende Almosen“ (ṣadaqa ğārīyya) werde von den Rechtsgelehrten gemeinhin mit der frommen Stiftung (waqf) identifiziert. Abgesehen von dem tugendhaften Sohn könnten auch andere Menschen dem Toten die spirituelle Belohnung zuteilwerden lassen, indem sie etwa Bittgebete für ihn sprechen oder für ihn fasten.

      Der Stiftungskomplex Rašīduddīns umfasste mehrere Gebäude, Einrichtungen und Personengruppen, Bedienstete und Benefiziare, einbezogen waren auch Reisende und ambulante Arme, im Ganzen mehrere Hundert Menschen. Am Grab des Stifters, also beim Herz der Anlage, sollten sich Sommer- und Wintermoschee, Koranschule, Schreibstube und eine Madrasa befinden. Für das ständige Stiftergedenken waren 24 Koranleser vorgesehen, die sich ständig abwechseln mussten, damit die Lesungen und Gebete nicht einmal für die Mahlzeiten unterbrochen würden. Die Rezitationen waren mit Bittgebeten für den Stifter verbunden, zu denen auch die anderen Gruppen verpflichtet waren. Rašīduddīn, der Autor, verstand es zugleich, mit der Stiftung für seinen Nachruhm zu sorgen; so ließ er seine Werke von den geförderten Studenten regelmäßig abschreiben. Auch bei der Verbreitung des Korans und der Traditionswissenschaft sorgte er für die effektvolle Platzierung seines Namens. Die zwei Prachtausgaben des Korans in je dreißig Bänden, die in jedem Jahr herzustellen waren, sollten mit einem Bittgebet, das auch den frommen Schreibern und Lesern zugutekommen sollte, an seinem Grab offeriert werden: „Preis sei dir, o Gott, der du den Koran herabgesandt hast als Geschenk für das Menschengeschlecht und als treibende Kraft zum Guten für deine Geschöpfe [und der du ferner herabgesandt hast] das Siegel deiner Gesandten, Muhammad, dem du die Gesetze und Vorschriften geoffenbart hast, so wie du es auch deinem Knecht Rašīd, dem Arzt, der deines Erbarmens bedürftig ist, ermöglicht hast, einen Teil seiner Besitzungen zu stiften, wobei er die Bedingungen setzte, dass man aus ihren Erträgen (bi-irtifāʿihā) einen kompletten Koran und ein Sammelwerk mit den Überlieferungen des Gesandten Gottes herstellen und verfertigen möge. So nimm denn dies, o Gott, von ihm an, und nimm es zum Anlass für freundliches Lob im Augenblick und reichliche Vergeltung im Jenseits. Vergib ihm und jedem, der sich bemüht hat oder noch bemüht, dieses fromme Werk zu vollenden, ferner jedem, der aus den Koranbänden rezitiert oder die Prophetenüberlieferungen heranzieht und nach ihnen handelt. Gewähre ihnen am Ende die Zunge der Wahrhaftigkeit und geselle sie zusammen mit denjenigen der Propheten, der Aufrichtigen, Märtyrer und Frommen, denen du Wohltaten erwiesen hast, denn jene ziemen sich als Gefährten.“350

      Obschon Rašīduddīn mit immensen Kapitalien und mit genauesten Anweisungen in seiner Urkunde die Stiftung auf den Weg zu bringen und für die Ewigkeit abzusichern gehofft hatte, war ihr kein langer Bestand beschieden. 1318 wurde der Wesir nach einer Hofintrige hingerichtet und das gleiche Schicksal widerfuhr seinem Sohn (1336), der die väterliche Stiftung erneuert und mit eigenen Mitteln erweitert hatte. Bis 1408 u. Z. liegen zwar Belege vor, dass die Kadis die Verfügungen Rašīduddīns bestätigt haben, doch soll damals bereits in der Anlage kein Stein mehr auf dem anderen gelegen haben.

      Trotzdem hat sich die einflussreiche Familie der Kuğuğī, die aus der näheren Umgebung von Täbris stammte, im späten 14. Jahrhundert für eine eigene Stiftung offenkundig an Rašīduddīns Werk orientiert und einen eigenen Moschee-Madrasa-Khānqāh-Komplex in der Stadt geschaffen. Umfangreiche Fragmente der Stiftungsurkunde von 1380 u. Z. lassen erkennen, dass Ḫwāğa