der Toralesung und vor ergänzenden Gebeten (mussaf) „gedenken wir“, wie Simcha schrieb, „der Verstorbenen, welche die Tora in Israel und die Rechtssatzungen vermehrt und die etwas für die Gemeinde gespendet haben, oder Personen, zu deren Wohl durch andere Personen Spenden geleistet wurden“; während die Torarolle noch auf dem Lesepult (bima) liege, würden die aufgelisteten Wohltäter rezitiert.412 Nach Simcha gab es ein weiteres Totengedenken bei der entsprechenden Liturgie des „Versöhnungstages“ (Yom Kippur), doch ist diesmal erwähnt, dass auch Lebende eingeschlossen und Almosen verteilt werden sollten.413 Nach dem Nürnberger Buch sollte das Totengebet (Yizkor)414 für die Wohltäter (der eigenen und anderer Gemeinden) folgendermaßen lauten: „Gott möge gedenken, wie er der Seele Abrahams, Isaks und Jakobs gedacht hat, der Seelen aller Gemeinden, welche sich um das Wohl der Gemeinden bemühet, geplante Verfolgungen vereitelt, die Aufhebung von Steuern erwirkt und Gesetzrollen aus unrechtmäßigem Besitz zurückgewonnen haben. Habe man ihretwegen eine fromme Spende gelobt oder nicht, ihrer Taten allein wegen möge Gott ihrer gedenken usw.“415
Obwohl keine Urkunden vorliegen – und vielleicht auch nie existiert haben –, die dies zum Ausdruck bringen könnten, darf man aus den Einträgen des Memorbuches folgern, dass bestimmte Nürnberger zugunsten der Gemeinde Stiftungen getätigt haben, um durch Gott die Seelenruhe mit den Erzvätern im Paradies zu finden. Die Ähnlichkeit mit der reichen Überlieferung der christlichen Mehrheitsgesellschaft könnte dafür sprechen, dass sie lateinischen Vorbildern folgten. Wie bei den Christen die Kirche war es hier die Gemeinde, die karitative oder allgemein fromme Stiftungen entgegennahm (dagegen fehlt im Islam, abgesehen von Ṣūfīkonventen, ein solcher Empfänger und Distributor der Erträge). In der Forschung ist aber gleichfalls auf die Eigenlogik der aschkenasischen Geschichte hingewiesen worden; die Ereignisse von 1096 hätten nämlich offenkundig die (dem Memorbuch vorausgehende, aber verlorene) Listenführung der jüdischen Opfer der Verfolgung veranlasst.416 In der Tat ist es plausibel, anzunehmen, dass analog zur Makkabäergeschichte die Ermordungen und Selbsttötungen der rheinischen Juden die Hoffnung auf ein ewiges Leben als Kompensation aktualisierten; besonders gilt dies wegen der zahlreich ‚geopferten‘ Kinder. Wie stark dieses Motiv bei der Bewältigung des Traumas wirkte, lässt sich an den hebräischen Berichten über die Pogrome ablesen.417 Wenn demnach das Gedenken gewöhnlicher Verstorbener demjenigen der Märtyrer gefolgt sein sollte, ergäbe sich hier eine weitere Parallele zur Entfaltung der christlichen Memoria.418
Es wäre indessen fahrlässig, daraus zu schließen, dass das jüdische liturgische Stiftergedenken unter den besonderen Bedingungen des Judentums im Rheinland an der Wende zum 12. Jahrhundert überhaupt erst entstanden sei.419 Listen von Wohltätern sind jedenfalls auch im Bestand der jüdischen Gemeinde von Fustat (Altkairo), also unter muslimischer Herrschaft, überliefert und sollen in die erste Hälfte des 11. Jahrhunderts zurückgehen.420 Diese Namenverzeichnisse waren, wie S. D. Goitein gezeigt hat, stark familiär geprägt und lassen den Stifter nach mehreren (oft sieben oder mehr) Generationen seiner Vorfahren und als Ahn seiner Nachkommen erscheinen. Als ‚Memoriallisten‘ dienten sie dazu, im öffentlichen Gemeindegottesdienst rezitiert zu werden; ein Besucher Ägyptens klagte noch im 16. Jahrhundert, die Verlesung nehme mehr als die Hälfte der Liturgie in Anspruch.421 Besondere Anlässe für die jüdische Memoria waren aktuelle Todesfälle oder der ‚Tag der Buße‘, an dem alle wohlhabenden Häuser ihrer Toten gedachten. Große Aufmerksamkeit wandte man bei diesen Gelegenheiten auf die Namen der (lebenden) Söhne, während Frauen in den Stammbäumen niemals genannt wurden. Zu Recht hat Goitein diese Gebete für die Wohltäter im synagogalen Gottesdienst als „Gelegenheit für ein intensives Ringen um sozialen Vorrang“ bezeichnet,422 während der Bezug aufs Jenseits, wenn überhaupt, nur mit blassen Worten hergestellt wurde.
Um 1200 ließ beispielsweise einer der Stifter seinen Namen mit fünf Ehrentiteln neben den Gebetstext schreiben und seine Förderung der Armen, Gelehrten, Synagogen und Schulen preisen; Fürbitten wünschte er sich konventionell für ein langes und glückliches Leben und weiteren Segen für die irdische und die jenseitige Welt, nachdrücklich dagegen die Vereinigung eines Vertreters der Kaufleute mit dem Sohn seiner Schwester.423 Ein anderes Dokument zeigt, wie stark selbst an der Totenbahre die Sorge um die Lebenden war. Eine vornehme, keusche und fromme Frau, deren Name nicht genannt wird, sei „zu ihrer ewigen Wohnung abgeschieden“; gleich schließen sich Segenswünsche für den jüngst verstorbenen Vater an, für einen in jungen Jahren dahingegangenen Onkel, für den Großvater, der Richter gewesen war, und für den Urgroßvater, eine Person von Stand. Dann wurde allen Trauernden „Leben, Wohlergehen, Ehre und all jener Trost“ gewünscht, der in den heiligen Schriften vorgesehen sei, besonders aber dem Ehemann und den beiden anwesenden Söhnen der Verstorbenen, einem dritten Sohn außerhalb der Stadt sowie weiteren namentlich genannten Verwandten. Am Schluss wird ein Segenswunsch für die Gemeinde und ihren Vorsteher ausgebracht.424
Im Unterschied zu Nürnberg bietet die Geniza von Fustat auch eine Reihe von Stiftungsakten, zum Teil als letztwillige Verfügungen.425 Die Stifter oder Stifterinnen haben hier aber, soweit erkennbar, niemals ihre Hoffnung auf das Paradies oder die Gebetshilfe der Gemeinde als Gegenleistung zum Ausdruck gebracht.426 Wertvolle Einsichten in die den Wohltätern zugeschriebenen Erwartungen bietet eine größere Anzahl von Bittbriefen, mit denen sich Arme, andere Bedürftige und Fremde an die Führer oder weitere Amtsträger der Juden wandten.427 Als Gegengabe für die erhoffte Hilfe wünschten die Bittsteller ihren Adressaten weit überwiegend ein gutes Leben im Diesseits, Schutz vor Ungemach, Erfolg und Wohlergehen, vor allem aber eine gesegnete Nachkommenschaft.428 Gelegentlich formulierte Heilswünsche könnten sich auf das Jenseits beziehen,429 aber nur selten wird dies wortreich und klar angesprochen. Dies ist etwa der Fall im Brief eines Mannes, der zusammen mit seinem Sohn nach Jerusalem gehen wollte. Adressat war der gabbai, der Almosensammler, Kohen R. Phineas, doch hatte sich der Pilger (oder Migrant) auch an den Richter Hananel, einen Verwandten des Moses Maimonides, gewandt. In dem Brief ging es um die rasche Übergabe der aufgebrachten Spenden, damit die Reise am nächsten Tag beginnen könne. „Lass mich nicht bis morgen warten, um abzureisen“, bat er: „Denn wisse, dass Dein Lohn in dieser und in der nächsten Welt sehr groß sein wird. Ich bete jederzeit für Deine Ehre; der Allmächtige möge Dich vor jedem Ungemach und vor Ungerechtigkeit bewahren und Dein Handeln in dieser und in der kommenden Welt belohnen; Dein Lohn seien Söhne, die die Tora studieren, wie ich, Dein Geliebter und Bewunderer, der für Deine Ehre betet, es Dir wünscht.“430 In einem anderen Schreiben wendet sich ein nach Fustat verschlagener Fremder an einen einflussreichen Wohltäter namens Maymūn; er hatte in Ägypten zwar eine (zweite) Frau genommen, sah sich in seinen Hoffnungen auf eine neue Existenz aber offenkundig enttäuscht und wollte deshalb mit dem Schiff zum Pessachfest nach Europa zurückkehren. Den Adressaten bat er sowohl um die Scheidung von seiner zurückbleibenden Frau als auch um eine Spendensammlung bei dessen Freunden. Wegen seiner Scham solle ihm die Hilfe verborgen zukommen: „Möge Gott Dich [dafür] vor dem Todesgericht und seinem Richterspruch und den Schlingen [der Hölle] bewahren (…). Ich hoffe, dass Du, mein Herr, mich nicht im Stich lässt und dass Gott mich in seiner Güte nicht vergisst (…). Möge er Dich nie in die Lage bringen, [selbst] auf Geschenke menschlicher Wesen angewiesen zu sein (…). Gott beschütze Deine Blumen [die Blüte Deiner Schüler oder Kinder] (…). Möge ich [einst] verdienen, Dein Angesicht zu schauen.“431
Wie man sieht, richteten sich die Hoffnungen der Juden von Fustat durchaus auch auf das Paradies, das jedenfalls einige von ihnen mit Hilfe guter Taten und Stiftungen zu erlangen hofften; doch steht das diesseitige Wohlergehen im Vordergrund. Soll man annehmen, dass sich der deutlichere Bezug auf das Fortleben nach dem Tod erübrigte, da die Schrift für gute Taten dieser Art ohnehin die Rettung vor dem (ewigen) Tod in Aussicht stellte? Heißt es denn nicht gleich zweimal in den Sprüchen Salomonis, dass „Mildtätigkeit (beziehungsweise ‚Gerechtigkeit‘: ṣedaqa) vor dem Tode bewahrt?“ (Spr 10, 2 und 11, 4)432 Oder soll man auf eine andere religiöse Haltung als im Nürnberger Judentum schließen?433 Immerhin gab es vor Ort auch eine Gemeinde der karaitischen Juden, die Gebete (zu Heiligen/Märtyrern und) für die Toten grundsätzlich ablehnten.434 Und soll man nicht im Auge behalten, dass die Juden überhaupt „Erlösung“, „salvation“, redemptio, yeshu’ah, soweit sie sich auf die Sündenschuld bezieht, eher als Ergebnis eigener Reue und Rückkehr zu Gott verstanden und keinen Menschen als Helfer, sondern nur Gott selbst als Erlöser