ist die ganze Welt“, heißt es in einer der Upanischaden,482 während anderswo ein Vater seinen Sohn belehrt: „Das ist das, was du bist.“483 Während die Umschreibungen der ‚Befreiung‘ vom Wiedergeburtskreislauf, also die negativen Bestimmungen, recht einheitlich formuliert werden, variieren die positiven Metaphern und Wendungen für die Erlösung stärker. Man liest vom „Gehen zum brahman“, vom „Erreichen des höchsten Lichts“, „Unsterblichwerden“, Erlangen „der Welt des Brahmā“ und „der vollkommenen Wunschlosigkeit“, „Genießen des himmlischen Paradieses“, ja der Vereinigung mit der „göttlichen Person“. Neben Vorstellungen vom vollständigen Verlust der Individualität wird manchmal auch die Bewahrung der besonderen Seele betont.484
In der religiösen Literatur des Hinduismus entfalteten sich im Laufe der Jahrhunderte stark divergierende Lehren über die Erlösung. In der modernen Wissenschaft hat man drei verschiedene Ansätze unterschieden.485 Im Mittelpunkt der ‚pluralistischen‘ Richtung steht eine unendliche Vielfalt spiritueller Selbstheiten (‚Seelen‘; ātman); das einzelne Selbst hat zwar die Welt des Leidens hinter sich gebracht, bleibt aber für sich allein und hat auch in Theorien, wo ein Gott anerkannt wird, mit diesem keine Gemeinschaft und kann von diesem keinen Segen erwarten. Die ‚transtheistischen‘ Schulen verkünden hingegen die Einheit des Befreiten mit dem eigenschaftslosen, also auch nicht theistischen brahman. Das individuelle ātman geht hier nicht im brahman auf, sondern „mokṣa bedeutet die Erkenntnis, dass das einzelne Selbst, das einheitlich allen Wesen als innerstes Bewusstsein innewohnt, mit dem brahman identisch ist und immer identisch gewesen ist“.486 Mit wenigen Ausnahmen sind alle Spuren der früheren Individualität des Befreiten ausgelöscht. Zum Dritten begegnen ‚theistische‘ Denkschulen besonders in der Zeit des sogenannten Mittelalters und bald danach. Im Allgemeinen akzeptieren sie eine Vielfalt spiritueller Selbstheiten, die durch die ‚Befreiung‘ eine ewige und glückselige Gemeinschaft (aber keine Identität) mit der Gottheit erlangen können. Dies geschieht in einem himmlischen Reich, das die diesseitige Welt transzendiert. Der Befreite erscheint hier auch nicht ganz körperlos, sondern bekleidet mit einem spirituellen Leib, der aus reinem Sein besteht. Einige Theoretiker markieren unterschiedliche Grade der Beziehung mit der Gottheit bei der ‚Befreiung‘: Aufenthalt in demselben Reich, Partizipation an göttlichen Eigenschaften, Gottesnähe, Annahme einer göttlichen Gestalt und Vereinigung mit Gott. Der Theologe Madhva unterscheidet bei den Seelen Stufen der Seligkeit, je nach dem Stand ihrer Würdigkeit; derselbe Gelehrte vertrat aber auch die Ansicht, dass manche niemals dem Kreislauf der Wiedergeburten entgehen können, während andere zur ewigen Hölle eingehen müssen.
Trotz dieser Varianten ist überaus deutlich, was die hinduistischen Lehren über Erlösung und Unsterblichkeit etwa von Christentum, Judentum und Islam unterscheidet. Zum einen handelt es sich um eine Selbsterlösungslehre; durch eigenes Verdienst kann der Mensch eine automatische Vergeltung durch eine bessere diesseitige Existenzform und zum Schluss sogar die ‚Befreiung‘ erlangen, ohne auf einen richtenden – und gnädigen – Gott angewiesen zu sein. Zum anderen ist der Lohn meistens nicht ein ewiges Leben in Seligkeit, sondern im Gegenteil die Erlösung von jeglichem Leben sowie von dem damit verbundenen Tod. Das erlöste Selbst oder die Seele wird nach der Befreiung, wenn das auch nicht für alle Lehren gilt, nicht individuell erhalten und verklärt, sondern kehrt ins All-Eine zurück oder geht darin auf. Jedenfalls steht in den hinduistischen Erlösungslehren gerade nicht wie etwa im Christentum das individuelle Seelenheil im Sinne des ewigen Lebens der unverwechselbaren Persönlichkeit im Mittelpunkt der Botschaften.487
Das gesamte Lebensschicksal des Menschen liegt nach indischer Auffassung in der Hand des Einzelnen; durch gute Werke sammelt er Verdienste (puṇya) an, was ihm schon im Diesseits zugutekommen und Erlösung bringen kann. „Nach dem karman-Gesetz (wirkt) der Tatvergeltungsmechanismus automatisch.“488 Wer also beispielsweise einen Brahmanenpriester oder einen hinduistischen Tempel beschenkt,489 ist weder auf die Fürbitten seiner Adressaten angewiesen noch erwartet er das Heil als göttliche Remuneration. Das Mauss’sche Gesetz, dass jede Gabe nach einer Gegengabe verlangt, ist hier außer Kraft gesetzt.490 Trotzdem sind aus Indien nach Hunderten, wenn nicht Tausenden zählende Stiftungen „an Brahmanenpriester ohne erkennbaren Tempelbezug sowie Stiftungen im Kontext von Tempeln und Schreinen hinduistischer Gottheiten“ überliefert.491 Die Renaissance des vedischen Brahmanismus, die ans Ende des indischen Altertums um die Mitte des 6. Jahrhunderts u. Z. datiert wird,492 beruhte selbst maßgeblich auf einer vor allem königlichen Stiftungstätigkeit, durch die sich das Brahmanentum über den gesamten asiatischen Subkontinent ausbreitete:493 „Nicht in allen, aber in der Mehrzahl der brahmanischen Dotationen ist der Stiftungszweck explizit festgehalten. Wenn eine solche Zwecksetzung erfolgte, dann ist stets davon die Rede, dass die betreffenden Brahmanenpriester in die Lage versetzt werden sollten, ihren Verpflichtungen hinsichtlich der Durchführung der vedischen Opfer nachkommen zu können.“494 Seit dem 11./12. Jahrhundert sind Stiftungen für Brahmanen oder Brahmanengruppen und hinduistische Tempel in Kombination überliefert.495 Stiftungen an hinduistische Göttertempel wurden tatsächlich nicht an die Gebäude beziehungsweise Institutionen, sondern an die Göttinnen und Götter selbst gerichtet. „Unterschieden werden können Stiftungen an Viṣṇu, Śiva, den Sonnengott sowie verschiedene lokale weibliche und männliche Gottheiten.“496 Alle religiösen Stiftungen sollten aber „dem Anwachsen des religiösen Verdienstes (puṇya) der Eltern und der eigenen Person (mātāpitror ātmanaś ca puṇyābhivṛddhaye)“ dienen.497
Die in systematischer Hinsicht eigentlich nicht vorgesehene Stiftung für Dritte, also die Verdienstübertragung zugunsten der (lebenden oder verstorbenen) Eltern, auch anderer Verwandten oder der Lehrer des Stifters, ist nach der Vermutung von Annette Schmiedchen der Grund gewesen, dass in Stiftungsurkunden das Motiv des sonst automatisch erwarteten Verdiensterwerbs überhaupt genannt wurde.498 Schon Max Weber hatte im selben Sinn darauf hingewiesen, dass bei diesen Werken für Dritte die Praxis der altüberlieferten Totenopfer nachwirkte, die das Schicksal der Verstorbenen (wie Opfer und Gebete im Christentum) hatten beeinflussen sollen. Die Stiftungsinschriften zeigten jedoch, dass es dem Einzelnen darum ging, sein Wiedergeburtsschicksal zu beeinflussen: „Man bringt Opfer und macht Stiftungen, um künftig in einer ebenso guten oder besseren Lebenslage, z.B. mit der gleichen Frau oder den gleichen Kindern, wiedergeboren zu werden; Fürstinnen wünschen zu erreichen, dass sie künftig in einer ähnlich respektablen Position wieder auf Erden erscheinen.“499 Normative Rechtstexte sahen vor, das Motiv des Verdiensterwerbs für den Stifter und seine Eltern zu verbinden, und brachten auch den zeitlich begrenzten Effekt der guten Tat zum Ausdruck; ein ewiges Seelenheil war nicht vorgesehen. Im ‚Bṛhaspatisṃrti‘ wird dem Herrscher empfohlen: „Nachdem er Land und anderes gestiftet hat, lasse der König auf einer Kupferplatte oder einem Stück Stoff eine rechtmäßige Stiftungsurkunde anfertigen, versehen mit [der Angabe des] Ort[es ihrer Ausstellung], [seiner] Dynastie usw. ‚Heute habe ich zum Zwecke [der Mehrung] meines Verdienstes und desjenigen meiner Eltern dem N. N., Sohn des N. N., aus der vedischen Schule N. N. eine Stiftung gewährt. Sie ist nicht zu verletzen, nicht wegzunehmen, von allen Abgaben befreit, beständig wie Mond und Sonne, vererbbar auf Kinder und Kindeskinder. Dem Stifter und Beschützer [der Stiftung werde] der Himmel und dem Räuber die Hölle für sechzigtausend Jahre [zuteil]‘ – [so] möge er die Frucht der Gabe und [ihrer] Konfiskation beschreiben (…).“500
Wie eng man sich an solchen Vorschriften orientierte, zeigt etwa eine Kupfertafel mit der um 320 u. Z. ausgestellten Stiftungsurkunde des Maharadschas Droṇasiṃha. Die Stiftung war der Göttin Pāṇḍ[u]rājyā gewidmet, ihr Objekt das Dorf Trisaṃgamaka im Distrikt Hastavapra (wohl bei Hathab) und ihr Zweck vielfältig: Bestimmte Kulte sollten ausgestaltet, der ruinierte Tempel wiederhergestellt und barmherzige Speisungen ermöglicht werden; Droṇasiṃha hoffte dafür auf die Zunahme seiner „Siege, seines Lebens, der Früchte des dharma, seines Ruhms und seines Landbesitzes“, er wollte „alles Glück und Sehnen in einer Zeit von eintausend Jahren erreichen und das religiöse Verdienst seiner Eltern und seiner selbst vermehren“. Die Stiftung sollte „dauern so lange, wie der Mond, die Sonne, das Meer und die Erde existieren sowie Flüsse und Berge Bestand haben“. Dem Stifter solcher Ländereien sei verheißen, so zitierte er aus Vyāsa, sich 60.000 Jahre im Himmel zu erfreuen, wer es aber wagen sollte, sie einzuziehen oder ihre Konfiskation zu genehmigen,