Welt vor allem von eigenen Religionen und ‚weltanschaulichen Systemen‘ geprägt, die ebenfalls durch die welthistorische Zäsur der ‚Achsenzeit‘ geprägt wurden.459 Es fragt sich, ob hier auch ein ähnlicher Typ von ‚Stiftungen für die Seele‘ oder ‚Stiftungen für das Seelenheil‘ belegt werden kann. Wie ungewöhnlich es ist, vom Okzident aus einen solchen vergleichenden Blick auf Indien und China zu werfen, zeigt die kürzlich erschienene⁼Abhandlung von Helmut Feld (geb. 1936) über die Geschichte der Seele; der Autor beschränkt sich nämlich ganz auf eine traditionelle Sichtachse vom Alten Orient über Juden und Griechen, von Etruskern und Römern bis zu den Christen und der westlichen Moderne.460 Mit den Welten des Islams und Persiens blieben bei ihm Süd- und Ostasien mit ihren Religionen völlig unbeachtet, so dass seine generalisierenden Urteile stets durch den Defekt okzidentaler Befangenheit entwertet werden.
Die ‚Achsenzeit‘ wird für Indien mit den (ältesten) Upanischaden (ca. 7./6. bis ca. 4./3. Jahrhundert v. u. Z.)461 sowie dem Buddha (gest. um 420/350 v. u. Z.) als Stifter einer Religion belegt;462 diesem ist noch sein angeblicher Zeitgenosse und Gründer des Jainismus, Mahāvīra, zur Seite zu stellen.463 Für China wird aus etwa derselben Zeit neben Konfuzius (ca. 551–479 v. u. Z.)464 noch Laotse (Lao-tsu) genannt, doch hat dieser, dem Daodejing, das grundlegende Werk des philosophischen Daoismus, zugeschrieben wird, vielleicht gar nicht gelebt.465 In Indien ist neben Buddhismus und Jainismus noch der ältere Traditionen repräsentierende Brahmanismus/Hinduismus zu beachten.
Stiftungen für Verdienst und zeitliches Heil: Indische Religionen
Hinduismus, Buddhismus und Jainismus sind Erlösungsreligionen wie Christentum und Zoroastrismus (Parsismus); sie bieten ein Heil an, das jeder Einzelne erstreben und erreichen kann.466 Gemeinsamer Ausgangspunkt war die Religion der Brahmanen, einer Priesterklasse, die durch jahrtausendalte Rituale, die in den Textsammlungen der ‚Veden‘ festgehalten sind, den Kosmos in Gang hielt.467 Die Brahmanen vollzogen in ihren dörflichen Gemeinschaften die vedischen Opfer für sich selbst und für hochrangige Nichtbrahmanen und unterstützten die Herrscher durch öffentliche Rituale. Man erhoffte sich von den Göttern zum Beispiel „Beistand in der Schlacht, Reichtum, eine gute Ernte, und die Gunst, nach dem Tod zu ihnen in den Himmel zu gelangen, um dort sorgenfrei fortzuleben.“468
In den Upanischaden wurde der Ritualismus der älteren Veden überwunden; auch wenn sie zur entscheidenden Textgrundlage des Hinduismus wurden, teilen auch die wenig später entstandenen Religionen des Jainismus und Buddhismus einige ihrer wesentlichen religiösen Konzepte. Dazu gehören vor allem das Gesetz des karman, die Lehre von der Wiedergeburt (saṃsāra) und die Techniken der Befreiung von deren unerbittlichem Kreislauf.469
Schon in der brahmanischen Religion des vedischen Indien (ca. 1500–500 v. u. Z.) wurde das rituelle Handeln mit dem Sanskrit-Wort karman („Tat“, „Werk“) bezeichnet.470 Weil jedes karman seine Folgen hat, konnte das Feueropfer kosmologisch oder lebenspraktisch wirken und beispielsweise Wohlstand und Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse verschaffen. Nach den Hymnen der ältesten Veden (Ṛgveda) waren die Götter in der Lage, dem Einzelnen zur Wiedergeburt im Himmel zu verhelfen, falls das Ritual korrekt ausgeführt war. Bei nicht oder falsch vollzogenen religiösen Handlungen gelangte man nach der alten Lehre nur in die „Welt der Väter“ und kehrte von dort nach einer gewissen Zeit durch Wiedergeburt in die Menschenwelt zurück.471 Etwa um 600 v. u. Z., in der Zeit der ältesten Upanischaden, entfaltete sich aus diesem Gedanken die Lehre vom endlosen Kreislauf der Wiedergeburten (saṃsāra).472 Die zweite Wende der Upanischaden lag in einer Ethisierung der kosmischen Prozesse, eine Errungenschaft, die allen indischen kosmologischen Lehren fortan eingeschrieben blieb und die die Zäsur der ‚Achsenzeit‘ markiert: „Was aus einem Mann wird“, so wurde nun gelehrt, „hängt davon ab, wie er handelt und sich verhält. Wenn seine Taten gut sind, wird aus ihm etwas Gutes werden. Wenn seine Taten schlecht sind, wird er sich zu etwas Schlechtem wandeln.“473 „Wenn es einem Menschen an Einsicht fehlt und er ohne Geist und stets unrein ist, dann erreicht er nicht diese letzte Stufe, gelangt aber auf eine (neue) Runde der Wiedergeburt. Aber wenn ein Mann Verständnis gewonnen hat, geisterfüllt und immer rein ist, dann erreicht er wirklich diese letzte Stufe, von der er nicht wiedergeboren wird.“474 Wer gute Werke vollbrachte, dem war die Wiedergeburt als Brahmane oder als Angehöriger der oberen Beamten- oder Händlerklasse (kṣatriya; vaiśya) verheißen; Menschen von schlechtem Verhalten mussten hingegen damit rechnen, aus dem schmutzigen Schoß eines Hundes, eines Schweines oder einer ausgestoßenen Frau wiedergeboren zu werden.475 Das karman-Prinzip verband beide Handlungsweisen, Ritual und ethisches Verhalten, unwillkürlich mit ihren Folgen.
Nach Lehre der Upanischaden hat der Mensch ein unveränderliches und unsterbliches Selbst, ātman: „Es verbindet sich, abhängig vom angehäuften guten oder schlechten Karma [karman], mit Körpern höherer oder niederer Existenzformen – wie eine Raupe, die von Blatt zu Blatt wandert. Diese ständige Wiedergeburt wird jedoch nicht als positiv, sondern als leidvoll verstanden; Wiedergeburt bedeutet auch und insbesondere, wieder sterben zu müssen.“476 Das eigentliche Ziel des Menschen bestehe deshalb nicht darin, seine Existenz durch günstigere Wiedergeburten zu verbessern, sondern den ewigen Kreislauf der Geburten zu durchbrechen.
Der saṃsāra-, also Seelenwanderungsglaube, und die damit zusammenhängende karman- oder Vergeltungslehre sind je für sich genommen und in ihrer unaufhebbaren Verknüpfung die einzigen ‚dogmatischen‘ Kernlehren des Hinduismus, die auch das indische Kastenwesen begründet haben.477 Selbst wenn beide Lehren ebenso bei den Griechen begegnen, zeichnen sie sich, wie Max Weber gezeigt hat, in Indien durch eine konsequent rationale Durchführung aus: „Alle (rituellen oder ethischen) Verdienste und Verschuldungen des Einzelnen bilden [in Indien] eine Art von Kontokorrent, dessen Saldo unweigerlich das weitere Schicksal der Seele bei der Wiedergeburt bestimmt, und zwar ganz genau proportional dem Maß des Überschusses der einen oder der anderen Seite des Kontos. ‚Ewige‘ Belohnungen oder Strafen kann es also unmöglich geben: Sie wären ja absolut unproportional einem endlichen Tun. Im Himmel sowohl wie in der Hölle kann man nur endliche Zeit sein. Und beide spielen überhaupt nur eine Nebenrolle. Der Himmel war wohl ursprünglich nur ein Brahmanen- und ein Kriegerhimmel. Der Hölle aber konnte auch der übelste Sünder durch rein rituelle und äußerst bequeme Mittel: das Aussprechen bestimmter Formeln in der Todesstunde, auch durch andere (sogar unwissentlich und durch den Feind), entgehen. Hingegen gab es schlechthin keinerlei rituelles Mittel und überhaupt keine (innerweltliche) Tat, durch die man sich der Wiedergeburt und dem Wiedertod entziehen konnte. Die universell verbreitete Vorstellung, dass Krankheit, Gebrechen, Armut, kurz alles, was im Leben gefürchtet wurde, Folgen selbstverschuldeter, bewusster oder unbewusster, magisch relevanter Verfehlungen seien, wurde hier zu der Anschauung gesteigert: dass das gesamte Lebensschicksal des Menschen eigenste Tat sei. Und da der Augenschein allzu sehr dagegen sprach, dass die ethische Vergeltung innerhalb jedes einzelnen Lebens im Diesseits sich vollziehe, so lag nach Durchbildung des Seelenwanderungsgedankens die Konzeption sehr nahe und wurde von den Brahmanen, zuerst offenbar als esoterische Lehre, vollzogen: dass Verdienste und Verschuldungen früherer Leben das jetzige, solche des jetzigen Lebens das Schicksal im künftigen Erdenleben bestimmen (…). Und hier liegt nun der entscheidende Zusammenhang mit der Kastenordnung (…). Der Einzelne wird in der Kaste geboren, welche er sich in einem früheren Leben durch sein Verhalten verdient hat (…). Ein korrekt gläubiger Hindu wird im Hinblick auf die klägliche Lage eines zu einer unreinen Kaste Gehörigen nur den Gedanken haben: Er hat besonders viele Sünden aus früherer Existenz abzubüßen. Dies hat aber die Kehrseite: dass das Mitglied der unreinen Kaste vor allem auch an die Chance denkt, durch ein kastenrituell exemplarisches Leben seine sozialen Zukunftschancen bei der Wiedergeburt verbessern zu können.“478
Das letzte Ziel des menschlichen Lebens ist aber nach hinduistischer Auffassung, sich von dem Kreislauf von Geburt und Wiedergeburt in der diesseitigen Welt und dem mit ihm verbundenen Leiden zu befreien.479 Für diese ‚Befreiung‘ wird vor allem das Nomen mokṣa verwandt, das in etwa den Begriffen ‚Vollendung‘, ‚Heil‘ und ‚Erlösung‘ in anderen Religionen entspricht. Nach der Lehre der Upanischaden erreicht man die Befreiung, wie in der Forschung formuliert worden ist, „indem man erkennt, dass das eigene Selbst (ātman)