hörte ihre Stimme, eine im Klang gedämpfte Stimme, nach dem Chefarzt Dr. Sligh fragen. Tatsächlich, nicht nur die Säuglingsstation, auch Roger Sligh hatte um diese Zeit eine Sprechstunde angesetzt. Er begab sich ohne auffällige Eile, aber auch ohne Verzug zu seinem Zimmer und ließ wissen, dass er Besucher zu empfangen geneigt sei.
Die Frau trat ein und stellte sich vor. Mrs King stand vor dem Chefarzt.
»Womit darf ich Ihnen helfen?«
»Mit einer Auskunft, Doktor. Wie lange, glauben Sie, wird das Krankenlager meines Mannes, ich meine, die stationäre Behandlung, möglicherweise noch dauern?«
Die Frau drückte sich wie eine geschulte Weiße, nicht wie eine indianische Prärie-Rancherin aus.
»Bitte nehmen Sie Platz.«
Mrs King setzte sich ohne Zeichen des Missvergnügens, aber auch ohne Anzeichen, dass sie die Bereitschaft des Chefarztes, ihr Zeit zu widmen, irgendwie anerkenne.
»Ihre Frage ist nicht mit einem Wort zu beantworten, Mrs King. Sie können Ihren Gatten schon jetzt nach Hause nehmen. Dann wird der Erfolg der Operation in Frage gestellt, und Ihr Mann bleibt voraussichtlich bewegungsunfähig. Hält er noch zwei bis drei Jahre in der orthopädischen Klinik aus, kann es sein, dass er wieder voll aktionsfähig wird. Es sind dort alle Spezialapparate und jede erdenkliche Spezialerfahrung der Pflege vorhanden.«
Mrs King dachte nach.
Sligh stellte seinerseits eine Frage.
»Sie haben Ihren Mann besucht?«
»Ja.«
»Wie denkt er selbst?«
»Wir haben darüber nicht gesprochen.«
»Fällt es Ihnen schwer, die Kosten aufzubringen?«
Mrs King hob die Augen und musterte den Arzt. »Nein, es fällt mir nicht schwer.«
»Ihr Mann besitzt eine hervorragende Energie. Wenn er will, wird er wieder gesund.«
»Ich danke Ihnen für die Auskunft, Doktor.«
Mrs King erhob sich in einer Art, die unmissverständlich andeutete, dass sie zu gehen wünsche.
Sligh begleitete sie zur Tür und schloss sie leise hinter ihr. Es hatte sich noch kein weiterer Besucher eingefunden.
Abends saß der Arzt mit dem Verwaltungsdirektor zusammen zu Hause bei einem Glas Whisky.
»Walker, wer ist diese Mrs King?«
»Geborene Halkett.«
»Mehr wissen Sie nicht?«
»Malerin. Hat schon in Washington ausgestellt.«
»Und wie ist sie an ihren Mann geraten?«
»Die Liebe von Zigeunern stammt …«
»Der Bursche hat ein unwahrscheinliches Glück gehabt.«
»Dafür jetzt ein unwahrscheinliches Unglück.«
»Tatsächlich. Neben dieser Frau möchte ich auch nicht als Krüppel leben.«
»Halten Sie den Fall für aussichtslos?«
»Nein.« Sligh hatte das Gefühl, schon zu weit gegangen zu sein. Er lenkte ab. »Was gibt es Neues im Revier? Nachfolger für Hawley schon in Sicht?«
Walker tat einige Züge an seiner Zigarette. »Man hört nichts.«
»Das pflegt der Vorbote von Überraschungen zu sein.«
»Sie könnten recht haben. Im Hintergrund entwickelt sich eine Figur. Ist aber noch nicht reif.«
»Ah.«
»Wäre überhaupt eine Novität – in jeder Richtung. Indianer als Agenturbeamter – haben wir schon –, aber Indianer aus dem eigenen Stamm, das haben wir noch nicht.«
»Wäre tatsächlich ungewöhnlich. Und bedenklich. Meinen Sie nicht?«
»Bis jetzt wurde es für bedenklich gehalten. Zu viele persönliche Beziehungen, Freundschaften, Feindschaften, alles irgendwie verschwistert, verschwägert, verbiestert, verärgert. Aber warum soll man nicht auch einmal neue Methoden versuchen?«
»Um wen handelt es sich denn?«
»Um einen gewissen Sidney Bighorn. Er hat eine aufsehenerregende Karriere gemacht. Guter Schüler, vorzügliches Abitur im Internat, College mit bestem Erfolg, schon als junger Mann am Stammesgericht angestellt – in der prekären Rolle des Anklägers gegen Angeklagte aus dem eigenen Stamm. Anerkennungswerten Mut gezeigt, sogar gegen Joe King. Dann plötzlich aus dem Amt ausgeschieden, Gründe nie öffentlich genannt. Vermutlich hatte er diesen King zu fürchten. Er ging von der Reservation weg und ist zurzeit in der Distriktverwaltung, das heißt also für mehrere Reservationen tätig. Er wird zur Inspektion hierher geschickt werden. Für den Posten eines Superintendenten ist er noch nicht reif. Aber er erscheint vielen als der kommende Mann.«
»Was sagt der Stamm?«
»Es gibt nicht ›den‹ Stamm, sondern tausend verschiedene Meinungen. Chief President Jimmy ist mit Sidney Bighorn verwandt.«
»Und Joe King ist zurzeit und bis auf weiteres nicht mehr zu fürchten.«
»Daher wird Sidney Bighorn ruhig inspizieren können.«
»Halten Sie eine Reservation auch für eine Art von Irrenanstalt?«
»Zum Teil. Zum anderen Teil Naturschutzgebiet für Wilde und solche, die es werden wollen.«
Sligh hob das Glas. Walker hielt mit.
»Mit wem war mein Vorgänger Eivie eigentlich zu eng liiert?«
»Mit den Kings.«
»Mit ihm oder mit ihr?«
»Mit ihm. Mit ihr ist nicht gut Kirschen essen. Sie hat schon einmal einen erschossen.«
»Zum Wohl. Das scheint ja eine originelle Familie zu sein.«
»Jedenfalls bin ich verblüfft, dass Mrs King derart viel Geld aufbringen kann. Sie haben eine verdammt teure Klinik gewählt, Sligh.«
»Die einzige, die eine gewisse Aussicht bietet. Ich bin an dem vollen Erfolg meiner Operation interessiert.«
Der Verwaltungsdirektor schaute verstohlen prüfend auf den Arzt, denn die Sache mit dem verschluckten und wieder ausgeschiedenen Zettel war Walker bekannt.
Sligh lenkte die Unterhaltung auf Whiskysorten.
Am folgenden Wochenende fuhr Sligh, M. D., nach New City und verschaffte sich durch den vertrauenswürdigen Empfangschef des guten Hotels eine Dame für eine Nacht, die vielleicht der Anfang von regelmäßigen Beziehungen ohne gegenseitige Verpflichtungen sein konnte. An Heiraten dachte er weniger denn je. Da er sich nun in New City befand und noch einen Tag bleiben konnte, suchte er Krause auf, den alten Büchsenmacher, der jetzt noch Jagdwaffen reparierte, mit gebrauchten Waffen handelte und eine Art von Liebhabermuseum alter Gewehre zusammengebracht hatte. Sligh fand dort den aufgeweckten Indianerjungen, den Krause adoptiert hatte, nachdem sein eigener Sohn gefallen war. Es stellte sich heraus, dass der Junge der Neffe der Kings, ein Sohn von Joe Kings Schwester Margret war, die in den Slums wohnte. Die Besucherrunde, die Joe King am Tage vor seinem Zusammenbruch gemacht hatte, erklärte sich so mit einem weiteren begründeten Anlass.
Sligh ließ sich von Krause die alten Waffen zeigen und ihre Geschichte erzählen. Da er geduldig zuhörte und Zeit im Überfluss zu haben schien, erfuhr er anschließend auch alten und neuen Stadtklatsch. Er hörte, dass die ehemalige Schmugglerkneipe des Vaters Black and White und seines Sohnes O’Connor verwaist gewesen war, seit Black and White eines Tages von King in Notwehr erschossen worden war, O’Connor aber wegen Rauschgifthandels im Zuchthaus saß und seine Schwester Esmeralda, die Frau mit den grünen Augen, außer Landes hatte gehen müssen. Krause versicherte, dass die Kneipe neuerdings eine solide Bierkneipe geworden sei. Wenn sich je wieder ein Rauschgifthändler