Die müssen irgendwie etwas miteinander zu tun haben, das wissen auch Neuntklässler. Jetzt können wir nach dem Ausschlussprinzip der Sendung »Wer wird Millionär« erst einmal feststellen, wer wen ganz sicher nicht frisst. Dass die Eicheln die Streifenhörnchen oder die Zeckennymphen fressen, ist eher unwahrscheinlich, das schließen wir aus. Dass die Zeckennymphen die Eicheln fressen oder an ihnen Blut saugen, ist auch mehr als fraglich, und auch die Streifenhörnchen dürften sich wohl kaum von Zeckennymphen ernähren oder an ihnen schmarotzen. Wir legen uns also fest: Streifenhörnchen fressen Eicheln, und Zeckennymphen parasitieren an den Streifenhörnchen. Die dargestellten Kurven müssen diese Abhängigkeit aufzeigen, und tatsächlich kann man leicht herausfinden, dass 1993 die Zahl der Eicheln stark zunimmt – es war wohl ein besonders gutes Jahr für die Produktion von Eicheln – und zeitversetzt um ein Jahr auch die Zahl der Streifenhörnchen, die jetzt mehr zu fressen hatten und sich dadurch auch besser fortpflanzen konnten. Dass wiederum zeitversetzt um ein Jahr die Zahl der Zeckennymphen ansteigt, liegt auf der Hand, stehen ihnen doch nun erheblich mehr Streifenhörnchen für einen Befall zur Verfügung. Da die vielen Streifenhörnchen die Eicheln bis 1996 weitgehend gefressen hatten, geht deren Zahl in der Grafik zurück und wiederum zeitversetzt auch die Zahl der Streifenhörnchen, die ja jetzt nicht mehr genügend Nahrung fanden. Entsprechendes gilt für die Abnahme der Zeckennymphen als direkte Folge des Rückgangs der Streifenhörnchen. Ab 1996 gibt es dann wieder mehr Eicheln, und zeitversetzt beginnt das ganze Spiel von vorne. Die Kurven der Eicheln, Streifenhörnchen und Zeckennymphen schwanken also regelmäßig. Die nicht immer ganz gleichen Kurvenverläufe könnte man noch darauf zurückführen, dass Streifenhörnchen sich nicht ausschließlich von Eicheln ernähren, Zeckennymphen nicht ausschließlich Streifenhörnchen befallen und es gute oder weniger gute Eicheljahre gibt.
Schauen wir uns nun den Erwartungshorizont für den zweiten Teil der Prüfungsaufgabe an, so lautet dieser: Der Prüfling erklärt mögliche Ursachen der Schwankungen, dass z. B. die Streifenhörnchen u. a. Eicheln fressen, in Mastjahren mit besonders vielen Eicheln die Überlebensrate von Streifenhörnchen im Winter höher ist, und deshalb die Zahl der Streifenhörnchen zeitversetzt mit der Zahl der Eicheln (Nahrungsangebot) schwankt.7
Genau das haben wir ja aus der Abbildung interpretiert. Dennoch fällt uns plötzlich auf, dass wir diese Erwartungen ja irgendwo schon einmal gelesen haben, und bei einem Blick auf den vorgegebenen Text zur Aufgabe fällt es uns wie ein Schleier von den Augen. Unsere Vorgehensweise der Kurveninterpretation nach dem Ausschlussprinzip hätten wir uns also komplett sparen können, es steht nahezu alles für die Beantwortung der Frage Notwendige bereits im Text des Informationsmaterials.
Der dritte Teil der Erwartungen bezieht sich auf das Verhältnis von Streifenhörnchen und Zeckennymphen. Nehmen wir an, dass wir im Leistungskurs Biologie nicht gerade zur Spitzengruppe der besten Schüler gehört haben und uns der Begriff Zeckennymphen unbekannt ist. Zecken kennen wir, aber was sind Zeckennymphen? Wir müssen ins Informationsmaterial schauen und werden schnell fündig. Dort ist der Unterschied zwischen Zecken und Zeckennymphen genauestens erklärt. Im Erwartungshorizont – wir ahnen es schon – finden wir dann auch die nicht wirklich überraschende Beschreibung: Der Prüfling erklärt mögliche Ursachen der Schwankungen, dass z. B. Streifenhörnchen die Wirte von Zeckennymphen sind, deshalb die Zahl der Zeckennymphen zeitversetzt mit der Zahl der Streifenhörnchen schwankt.8 Halten wir folgendes fest: Ohne jegliches Fachwissen lässt sich die erste Teilaufgabe mit der Vergabe von 20 Punkten vollständig durch Ab- oder Umschreiben des Informationsmaterials lösen. Die Kurvendiskussion hätte man sich weitgehend sparen können, es reicht aus, die vorgegebenen Texte auf die Fragen hin zu sichten. Insofern weisen Lehrer ihre Schüler ausdrücklich darauf hin, das Informationsmaterial ausführlich zu lesen, da viele Antworten dort bereits vorgegeben sind. Schulleiter empfehlen vor Beginn der schriftlichen Zentralabiturarbeiten ihren Schülern ausdrücklich: »Wenn ihr Schwierigkeiten bei der Beantwortung der Fragen haben solltet, schreibt notfalls das gesamte Informationsmaterial ab oder um. Für ein ›Ausreichend‹ oder ein ›Befriedigend‹ wird das allemal reichen.« Auch die anderen drei Teilaufgaben weisen einen zumindest ähnlichen Aufbau auf, wobei in einer Teilfrage aber immerhin erwartet wird, dass die Prüflinge die erste und zweite Lotka-Volterra-Regel kennen, die nicht im Informationsmaterial vorgegeben ist. Diese Regel bestätigt eigentlich nichts anderes, als dass die Individuenzahlen von Räuber und Beute bei ansonsten konstanten Bedingungen periodisch und zeitversetzt schwanken und die durchschnittliche Anzahl von Räuber und Beute über einen längeren Zeitraum konstant bleibt. Auch das haben einige Neuntklässler genauso oder ähnlich wiedergegeben, ohne allerdings die ihnen unbekannte Regel zu erwähnen.
Kurz nach Erscheinen des Artikels in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« (FAZ) über dieses Experiment unter dem Titel »Nivellierung der Ansprüche«9 erschien im »Manager Magazin« eine Glosse unter dem Titel dieses Buches: »Vom Streifenhörnchen zum Nadelstreifen«. Nachdem der Autor die Untersuchung in der neunten Klasse und deren Ergebnis kurz vorgestellt hatte, kam er zu folgender Bewertung:
Wir beim »Manager Magazin« hingegen sehen uns dem aufklärerischen Ideal des unaufhaltsamen Menschheitsfortschritts verpflichtet und meinen deshalb: Wenn 14-jährige Buben und Mädchen inzwischen Abituraufgaben für 18-Jährige bestehen können, dann ist das eine gute Sache. Offenbar wurde endlich die langjährige Forderung von Wirtschaftsverbänden erfüllt, nach der sich die Gymnasialbildung stärker an den Erfordernissen der Unternehmen ausrichten müsse (…) Bildungsforscher Klein mag wüten, doch die Abiturienten werden es den Kultusbeamten schon noch danken, dass sie so gut auf Schlüsselqualifikationen im Konzernmanagement vorbereitet wurden. Zum Beispiel wenn sie später als Vorstandsassistent eine Vorlage zu schreiben haben, die sich jeglicher eigener Gedanken enthält, dafür aber exakt die Meinung des Chefs wiedergibt. Oder wenn die jungen Menschenkinder bei einer Strategieberatung anheuern und ohne jede Fachkenntnis in ein Sanierungsprojekt geworfen werden. Dann gilt es bekanntlich binnen weniger Tage eine makellose PowerPoint-Präsentation zu entwerfen, in der man all jene Sparvorschläge zusammenfasst, die man zwischenzeitlich zwischen Kantine, Kopierer und Kaffeeküche aufschnappen konnte. Und wie sollten sich Abiturienten ohne entsprechendes schulisches Training in jenem konzerntypischen Verbrüderungsritual zurechtfinden, das sich Jour fixe nennt, und in dem es bekanntlich darum geht, die Aussagen des Vorredners mit minimalen Variationen zu wiederholen. So lange, bis endlich alles gesagt ist, und zwar von allen. Professor Klein, verlassen Sie Ihren Elfenbeinturm, stellen Sie sich der Realität!10
Polarfüchse, Bienenwölfe, Kannenpflanzen und allerlei anderes Getier
Nach Bekanntwerden der Untersuchung wurde nicht nur von dem betroffenen Landesministerium behauptet, diese Aufgabe sei eine Ausnahme und solche Aufgaben kämen zudem in anderen Bundesländern nicht vor. Wie eine gerade fertiggestellte Analyse aller Zentralabituraufgaben im Themenbereich »Ökologie« aus Nordrhein-Westfalen von 2007 bis 2015 eindeutig nachweist, ist die Streifenhörnchenaufgabe keinesfalls eine Ausnahme. Dies erkennt man schon unschwer an den Titeln, wie beispielsweise »Rabenvogelstreit und seine populationsdynamischen Hintergründe« (2007), »Lebensgemeinschaft von Ameisen und Ameisenpflanzen« (2008), »Wie wirken sich Mastjahre und Parasiten auf Nagetierpopulationen aus?« (2009), »Wärmehaushalt des Zaunkönigs« (2010), »Die europäische Forelle in Neuseeland« (2011) oder »Ökologie des Bienenwolfs« (2011). Ab 2012 tauchen überraschenderweise für Grundkurs und Leistungskurs die gleichen Themen auf: »Die Gefährdung des Polarfuchses« (2012), »Ökologie der Kannenpflanze« (2013), »Schädlinge in Kakaoplantagen« (2014), »Interspezifische Beziehungen am Yellowstonesee« (2015). Der Unterschied besteht für den Leistungskurs nur darin, dass die Schüler hier bei deutlich verlängerter Arbeitszeit eine Teilaufgabe mehr zu bearbeiten haben.
Am Beispiel des Polarfuchses macht schon die erste Teilaufgabe klar, wie der Hase läuft. Der Schüler erhält im Arbeitsmaterial die Informationen, dass Rotfuchs und Polarfuchs auf der Nordhalbkugel vorkommen, der Polarfuchs sich dabei auf die Polargebiete beschränkt, dass er dort in der Tundra lebt, einer baumlosen Landschaft mit Böden, die neun Monate im Jahr an der Oberfläche gefroren sind, sowie auf Eisfeldern, in tiefen Höhlen oder Schneelöchern. Weiterhin erfährt er, dass die Temperaturen ganzjährig unter null Grad oder knapp darüber liegen und dass der Polarfuchs Temperaturen von minus 40 bis minus 50 Grad toleriert. Über den Rotfuchs erhält der