Hans Peter Klein

Vom Streifenhörnchen zum Nadelstreifen


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Schüler können diesen Spuk kaum glauben und äußerten sich schon 2011 in den »Uni-Protokollen« nach geschriebener Leistungskursklausur für Physik wie folgt: »jaa das ganze beschreiben war total nervig ich glaub ich habe mehr text als in meiner englisch klausur geschrieben (…) mathematischen anspruch hatte es so irgentwie gar nicht (…) finde ich auch sehr schade«, und: »LTH2 war ja echt mal nen Witz ^^ Hätte überhaupt nichts lernen brauchen, war auch ne halbe Stunde vorm Ende fertig. Richtig geil.«8

      Für die Leistungskursaufgabe zum Bienenwolf in Biologie gab es die folgenden Kommentare: »… Fand das aber irgendwie zu leicht. Das meiste stand in den Infotexten«, oder: »… und ganz ehrlich (…) ich kam mir echt doof vor, das meiste stand im text. (…) hatte echt das gefühl, dass ich einfach nur von den materialien abschreibe (…) ganz ganz seltsam.«9

      Auch die Sprachen sind davon betroffen: »Der Sachtext war eigentlich sehr einfach fand ich und Vorwissen zu Shakespeare brauchte man wie erwartet absolut gar nicht. Ich hasse ja eigentlich Shakespeare, aber egal der Text war ok. Ich habe das gleiche Thema mit einem ähnlichen Sachtext schon in der Vorabi Klausur gehabt daher war das im Prinzip nur ne Wiederholung.«10

      Nun war Nordrhein-Westfalen nicht gerade erfreut über das Ergebnis dieses Experiments mit Schülern der neunten Klasse, da ja hier mehr als deutlich wurde, dass Fachwissen als Basis zur Lösung der Aufgaben und der nachzuweisenden Kenntnisse so gut wie kaum vonnöten war. Nordrhein-Westfalen muss sich aber nicht grämen, die zuständigen Behörden in dem einen oder anderen Bundesland schaffen das schier Unmögliche, nämlich derartige Aufgabenstellungen in ihrer fachlichen Anspruchslosigkeit noch zu toppen.

      Ende des Jahres 2012 wurde in Hamburg eine vielbeachtete Studie der erstaunten Öffentlichkeit vorgestellt, in der die Kompetenzen und Einstellungen der Hamburger Schülerinnen und Schüler überprüft wurden (KESS 12 = zwölfjähriger Abiturjahrgang). Die zentralen Aussagen dieser behördenintern durchgeführten Studie fanden deutschlandweite Beachtung. Die Leistungen der Hamburger Abiturienten des ersten G8-Jahrgangs von 2011 seien nicht nur in Englisch, sondern auch in Mathematik und den Naturwissenschaften mindestens so gut und teilweise sogar besser als die der Abiturienten von 2005 nach neunjähriger Schulzeit. Gleichzeitig konnte die Abiturientenzahl deutlich erhöht werden (plus 33 Prozent). Nach Angaben des Bildungssenators räumte die Studie gleich mit zwei Vorurteilen auf: »Es gibt deutlich mehr Abiturienten, obwohl das Niveau nicht gesunken ist. Und: Die Schulzeitverkürzung G8 am Gymnasium hat nicht geschadet, sondern zu diesem Erfolg beigetragen.«1 Der Studienleiter Ulrich Vieluf gab in einer kontroversen Diskussion in der »Tageszeitung« an: »Wir führen in Hamburg zunehmend mehr Kinder zum Abitur und erhöhen damit den Faktor Bildung für die Volkswirtschaft.«2 In der Berichterstattung wurde dieses Ergebnis als Sieg der Verkürzung der Schulzeit von G9 auf G8 gewertet. »Turbo-Abiturienten lernen besser«, konnte man nahezu einheitlich der teilweise auch sichtlich erstaunten Presse entnehmen.3 Die Ergebnisse nicht nur dieser Studie widersprechen allein schon dem gesunden Menschenverstand, sofern der vor lauter Studien nicht schon längst verloren gegangen ist. Man kürzt eine Ausbildung um ein Jahr und stellt das Ergebnis als Optimierung der Bildung mit deutlich verbesserten Leistungen dar. Anscheinend geschehen nicht nur in Hamburg immer noch Zeichen und Wunder im deutschen Bildungswesen nach PISA.

      Es ist oft mehr als erstaunlich, wie Studien und ihre Ergebnisse heutzutage als der endgültige Beweis für die Beantwortung von allen möglichen Fragestellungen gelten und als Wort Gottes aufgenommen werden. Eine erste Überprüfung der KESS-12-Studie, die die Kompetenzen und Einstellungen der Hamburger Schülerinnen und Schüler behördenintern überprüft, ergab dann auch wenig überraschend, dass dort gar keine Zentralabituraufgaben oder auch mündliche Teile der Abiturprüfung getestet wurden, wie man eigentlich nach der frohen Botschaft aus Hamburg hätte erwarten können. Es wurden Aufgaben aus den TIMS-Studien (Trends in International Mathematics and Science Study) der neunziger Jahre für die Naturwissenschaften – teilweise auf Mittelstufenniveau – und aus dem TOEFL-Test (Test of English as a Foreign Language) eingesetzt, die mit den gültigen Lehrplänen und der Allgemeinen Abiturprüfungsordnung gar nichts zu tun haben und auch methodisch keineswegs überzeugen.4 Die von einer Gruppe von Fachmathematikern, Fachdidaktikern und Fachlehrern durchgeführten Analysen zum fachlichen Niveau der Hamburger Zentralabituraufgaben der entsprechenden Jahre in Mathematik und Biologie ergaben folglich ein ganz anderes Bild.5 6

      Auch in Hamburg steht im Fach Biologie der Themenbereich Ökologie hoch im Kurs. In Schülerkreisen genießt insbesondere die Ökologie mittlerweile den Ruf eines »Laberfachs«. Ähnlich wie in mittlerweile vielen Bundesländern nimmt auch hier die Populationsökologie einen breiten Raum ein. So mussten sich 2005 die Schüler mit dem Thema »Seehundbestand« beschäftigen. Im Vergleich mit einer ähnlichen Aufgabe von 2010 – 2011 bis 2013 gab es in Hamburg im Fach Biologie kein Zentralabitur – enthielt diese aber deutlich weniger Informationsmaterial, und der Schüler musste zumindest in Teilaufgaben eigenes Fachwissen einbringen, ohne das die Aufgaben nicht vollständig hätten gelöst werden können. Die Aufgabe von 2010 – mittlerweile bekannt als »Die Hamburger See-Elefanten« – ist komplett in »Zeit Online« mit Erwartungshorizont eingestellt,7 und es lohnt sich, diese Aufgabe einmal näher zu betrachten. Sie ist nach dem bekannten Muster der Streifenhörnchen-Aufgabe konzipiert und enthält ausführliche Informationen und Grafiken. In der ersten Teilaufgabe erhält der Schüler im Material neben einem ausführlichen Informationstext erst einmal eine einfache Grafik zu deren Populationsentwicklung (s. Abb.).8 9

      Abbildung 2: Entwicklung der See-Elefanten-Population auf der südlichen Farallon-Insel im Zeitraum von 1999 bis 2001

      Die erste Teilaufgabe lautet nun, die Populationsentwicklung an Hand dieses Materials zu beschreiben und zu begründen. Der Beschreibung ist Genüge getan, wenn der Schüler aus dem Kurvenverlauf erkennt, dass die Population der See-Elefanten in den Jahren von 1998 bis 2001 jeweils zwischen 800 und 1200 Tieren schwankt und dass im ersten Quartal jeweils der Anstieg und im letzten der Abstieg erfolgt. Das sollte jeder Siebtklässler mühelos erkennen können. Im zweiten Teil der Frage ist nach der Begründung gefragt. Zur Begründung können wir aus dem ausführlichen Informationsmaterial folgende Textstellen wörtlich entnehmen und erfüllen den Erwartungshorizont vollständig: Die Jungtiere werden nach 11 Monaten Tragzeit etwa im Januar geboren, ungefähr drei Wochen nach der Geburt paaren sich die Weibchen erneut mit den Männchen. Während dieser Zeit leben die Jungtiere in ständiger Gefahr, von den aggressiven Bullen erdrückt zu werden. Sie bleiben knapp drei Monate an Land, müssen dann das Schwimmen und den Beutefang erlernen. Dabei laufen sie Gefahr, selber gefressen zu werden.10 Diese Angaben schreiben wir entweder wortwörtlich ab oder formulieren sie um. Sie enthalten die komplette Lösung entsprechend den Vorgaben im Erwartungshorizont. Damit haben wir bereits 30 Prozent der Abituraufgabe vollständig gelöst. Überraschenderweise wird diese Analyse von der Behörde bestätigt. Im Erwartungshorizont heißt es wörtlich: Der Operator »beschreiben« weist auf die Anforderungsbereiche I–II hin. Da die geforderte Lösung direkt aus dem Material herauszulesen ist, entspricht dies dem Anforderungsbereich I. Der Operator »begründen« weist auf die Anforderungsbereiche II–III hin. Da die geforderten Argumente dem Material direkt zu entnehmen sind, entspricht dies dem Anforderungsbereich II.11 Es bleibt festzuhalten, dass wir entsprechend dem verwendeten Operator Beschreiben weder Strukturen, Sachverhalte noch Zusammenhänge unter Verwendung der Fachsprache in eigenen Worten wiedergegeben haben. Erst recht nicht haben wir den Sachverhalt auf Gesetzmäßigkeiten und kausale Zusammenhänge zurückgeführt, wie dies durch die Verwendung des Operators zwingend gefordert ist.

      In der nächsten Teilaufgabe soll der Schüler die Schlüsselkompetenz der Grafikinterpretation anwendungsorientiert nachweisen. Konkret sollen die Aussagen der beiden Abbildungen 3 und 4 interpretiert werden.12 13

      Ähnlich wie bei den Streifenhörnchen geht es erst einmal darum zu erkennen, wer hier der Räuber und wer die Beute ist und wer in welchem Gebiet wen jagt. Schon die Abbildungsbeschriftungen weisen eigentlich genau aus, wer hier hinter wem her ist. Sollten wir das übersehen haben, können