abzuverlangen. Die konkrete Aufgabenstellung sowie deren Rahmung und Füllung mit dem beiliegenden Material zeigen aber, dass keine Rede davon sein kann, dass die Schüler solche Fähigkeiten tatsächlich nachzuweisen haben. Es soll in Wirklichkeit nichts erklärt und analysiert, sondern immer nur reproduziert werden, was bereits im Text des Aufgabenmaterials steht. Die Rhetorik der Aufgaben und das umfangreiche Arbeitsmaterial wirken dabei auf den ersten Blick höchst anspruchsvoll. Dahinter verbirgt sich das Gegenteil: die Reduktion der Aufgabe auf einfachste Informationsentnahme. Die Aufgabe fordert nicht ein, was sie vorstellt. Eine solche Form der Kompetenzorientierung springt als Tiger und landet als Bettvorleger.
Gibt es auch Zentralabiturarbeiten mit einem akzeptablen fachlichen Niveau? Wie neueste Analysen von Zentralabituraufgaben im Fach Biologie aus Mecklenburg-Vorpommern zeigen, gibt es die tatsächlich. Mit Lesekompetenz ist dort kein Blumentopf zu gewinnen. Auf den ersten Blick sieht man, dass die Aufgaben bis zu 80 Prozent weniger Textmaterial enthalten, wie neuere Analysen eindeutig belegen.21 Außerdem sind die themenbereichsübergreifenden Aufgabenstellungen fachlich deutlich anspruchsvoller. 2012 beschäftigt sich die Aufgabenstellung auf erhöhtem Niveau in Mecklenburg-Vorpommern im Themenbereich »Biodiversität und Lebenserscheinungen im Meer« mit dem Thema »Ökologische Beziehungen und Stoffwechselaktivitäten bei Algen und Bakterien«.22 Schon allein vom Titel her ist dies ein anderes Kaliber als »See-Elefanten« oder »Rabenvogelstreit«. Solche Aufgabenstellungen mit Anteilen aus der Zell- und Stoffwechselbiologie sind nicht nur in NRW, Bremen und Hamburg strengstens untersagt. Nicht nur dort sind die Themenbereiche der Biologie meist auf drei Themen zusammengeschrumpft: Ökologie, Evolution und Genetik. Neurobiologie kam in Nordrhein-Westfalen in den letzten zehn Jahren nur zweimal vor. Bremen schießt den Vogel ab und verlangt in seinem Zentralabitur mit Ökologie und Genetik nur noch zwei Themengebiete von ursprünglich mindestens sechs. Hier liegen ganz offensichtlich Welten zwischen den jeweiligen fachlichen Anforderungen. Die grundlegenden Bereiche Zellbiologie und Stoffwechselbiologie sind in den meisten westlichen Bundesländern längst aus dem Kanon entfernt worden. Der Grund liegt auf der Hand: Ohne biochemische Kenntnisse sind diese Aufgaben nicht zu lösen. Das wiederum steht den angestrebten hohen Abiturientenquoten im Weg.
Betrachten wir nun die Aufgabe aus Mecklenburg-Vorpommern genauer. In der ersten Teilaufgabe muss der Schüler eine Pflanzenzelle zeichnen und mindestens sechs Zellbestandteile beschriften. Dazu erhält der Schüler kein Informationsmaterial. Entweder der Schüler kennt eine Pflanzenzelle und deren Bestandteile, oder er muss passen. Diese als Einstieg einzubringende Leistung entspricht dem korrekt angegebenen Anforderungsbereich I. In Teilaufgabe 2 wird vom Schüler eine Analyse einer Grafik verlangt, aus der ersichtlich ist, dass aufgrund der Sonneneinstrahlung und Temperaturerhöhung die Algenproduktion in den Sommermonaten höher ist. Er muss wissen oder aus dem Material schließen, dass Phosphate und Nitrate die dafür verantwortlichen Pflanzennährstoffe sind. Dies bekommt er keineswegs im Text vorgegeben. In Teilaufgabe 3 wird vom Schüler erwartet, dass er mindestens zwei ökologische Folgen benennt, die sich aus der Massenentwicklung von Algen ergeben. Informationsmaterial dazu, aus dem er die Antworten entnehmen könnte, gibt es wiederum keins. Teilaufgabe 4 hat nun allerhöchstes fachliches Niveau, und es ist mit einiger Sicherheit davon auszugehen, dass diese Frage in mindestens zehn von 15 Bundesländern von den dortigen Schülern nicht mehr beantwortet werden kann, weil derart grundlegende Fachinhalte aus dem Themenkanon sowohl der Qualifikationsstufe als auch aus dem Zentralabitur längst verbannt worden sind.
Der Schüler erhält im Material Experimente zum Ablauf der Photosynthese einer Algensuspension. Um die Aufgabe ohne irgendwelche Informationsvorgaben entsprechend dem Erwartungshorizont lösen zu können,23 muss der Schüler die biochemischen und molekularbiologischen Grundlagen der Photosynthese mit der Kopplung von lichtabhängigen und lichtunabhängigen Reaktionen komplett präsent und verstanden haben, ansonsten ist eine Anwendung auf die konkreten Versuche und deren Deutung nicht möglich. Hier sind zusätzlich prozessbezogene Kompetenzen auf der Basis von Fachinhalten zu erbringen.
Auch in Hessen gibt es den Themenbereich »Ökologie und Stoffwechselbiologie«, wodurch in jedem Fall ein anderes fachliches Niveau erreicht wird. Reine Populationsökologieaufgaben kommen auch dort nicht vor. Außerdem muss der Schüler zumindest in den ersten meist materialunabhängigen Teilfragen nachweisen, dass er fundierte Kenntnisse zum Thema als Wissensgrundlage mitbringt. Schaut man sich eine Aufgabe des Jahres 2015 aus diesem Bereich zum Thema »Stoffkreisläufe in mikrobiellen Matten« einmal näher an, lautet die erste Aufgabe: Beschreiben Sie den Ablauf der lichtabhängigen (nichtzyklischen) Reaktionen der Fotosynthese grüner Pflanzen. Das24 muss man wissen. Dazu gibt es kein Informationsmaterial. Da die weiteren Teilaufgaben sich weiterführend mit diesem Thema beschäftigen, ist der Nachweis von grundlegendem Fachwissen vonnöten. Auch der vom Schüler eingeforderte Vergleich mit den Stoffwechselvorgängen bei farblosen Schwefelbakterien weist fachlich ein hohes Anforderungsniveau auf und könnte niemals von Neuntklässlern bearbeitet werden.
Nicht nur in Hamburg, Berlin, Brandenburg, Bremen und Nordrhein-Westfalen sind derartige Aufgabenstellungen mittlerweile unbekannt, da es dort nicht erlaubt ist, materialungebundenes Fachwissen beim Schüler vorauszusetzen. Der Einsatz der Aufgaben aus Mecklenburg-Vorpommern würde in diesen Ländern sofort den Sturm der Kultusministerien nach sich ziehen. Nicht, dass die Schüler in diesen Bundesländern weniger intelligent sind oder weniger können, man traut es ihnen nicht einmal mehr zu. Hohe Abiturquoten, Abiturdurchschnitts- oder -bestnoten oder gar das Bestehen der Prüfung insbesondere in Schulformen außerhalb des Gymnasiums wären unkalkulierbar. Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass auch dort noch viele Lehrer die Schüler nach wie vor auf fachlich hohem Niveau unterrichten, wenngleich auch hier seitens der Praktiker Klagen über den von oben vorgegebenen fachlichen Niveauverlust in den letzten Jahren unüberhörbar geworden sind. Selbst Fachdezernenten, die für die Aufgaben letztlich zuständig sind, quittieren aufgrund dieser Nivellierung teilweise entmutigt den Dienst und lassen sich frühzeitig in den Ruhestand vesetzen, um dafür nicht mehr die Verantwortung tragen zu müssen. In diesen Ländern sind dann auch nicht die Lehrer schuld an derartigen Lesekompetenzaufgaben, die sie im Auftrag der vorgeschalteten Behörden erstellen müssen. Sie bekommen von dort strikte Vorgaben gemacht, wie die Aufgaben zu verfassen sind. Für die Erstellung der Aufgaben von 2017 haben gerade die entsprechenden Schulen umfangreiche Kriterien mitgeteilt bekommen, nach denen sich die Aufgabenstellungen zu richten haben. In Nordrhein-Westfalen wird dort explizit vorgeschrieben, dass selbst die reproduktiven Teile des Anforderungsbereichs I – also die fachlichen Grundlagen – keineswegs von den Schülern abverlangt werden dürfen, sondern immer aus dem Informationsmaterial zu erschließen sein müssen: Die Teilaufgaben haben direkten Materialbezug. Auch Reproduktionsaufgaben müssen sich auf das Material bzw. eine Materialvorgabe beziehen.25 Immerhin erhalten die Lehrer dort neuerdings den Hinweis, dass Lösungselemente in den Aufgabenstellungen oder Texten vermieden werden sollen.
Auch in Bayern können zell- und stoffwechselbiologische, neuro- und soziobiologische Themen sowie solche zu Genetik und Evolution vorkommen. In einigen Teilfragen tauchen in Bayern zumindest teilweise Sachfragen auf, die dem Material nicht zu entnehmen sind. So lautet beispielsweise eine Teilfrage zum Thema »Honigbienen« aus dem Zentralabitur von 2014 knapp: Die Honigbienen nutzen Honig als Wintervorrat. Beschreiben Sie ausgehend von Glucose die wichtigsten Schritte des aeroben Stoffabbaus und geben Sie an, wo diese in der Zelle lokalisiert sind.26 Das muss man wissen, Informationsmaterial gibt es dazu keins. Wie in Mecklenburg-Vorpommern kommt also auch hier eine Kombination von Ökologie und Stoffwechselbiologie mit einem deutlich höheren fachlichen Anspruchsniveau vor. Eine genaue Bewertung des Schwierigkeitsgrades ist leider nicht möglich, da Bayern trotz mehrfacher Bitten die Erwartungshorizonte zu seinen Zentralabituraufgaben nicht zur Verfügung gestellt hat. Wer die Aufgaben im Abitur in Bayern von der Zeit vor oder um die Jahrtausendwende noch kennt, weiß jedoch, dass es seit der Umstellung auf materialgebundene Aufgaben seit 2007 auch hier zu einem deutlichen Rückgang der fachlichen Anforderungen gekommen ist. Die bayerischen Abiturienten erhielten noch in den achtziger und neunziger Jahren zu Recht einen Bonus auf ihre Abiturnote gegenüber allen anderen Bundesländern.
Thüringen verwendet seit Jahren einen materialungebundenen und einen materialgebundenen Teil in der Zentralabiturprüfung und hat ebenfalls die Gebiete Zellbiologie, Stoffwechselbiologie und Neurobiologie regelmäßig mit im Programm. Aufgaben wie Fertigen