mithin aus. Dass Haie Schwertwale fressen oder umgekehrt, ist ebenso eher unwahrscheinlich. Also bleibt nur noch die Möglichkeit übrig, dass die Haie und Schwertwale wohl die Jäger und die See-Elefanten die Beute sind. Diese sensationelle Erkenntnis traut die Hamburger Behörde ihren eigenen Abiturienten aber anscheinend nicht mehr zu. Es könnte ja sein, dass es noch Schüler gibt, die aufgrund einer Leseschwäche den Text oder die Abbildungsbeschriftung nicht richtig verstanden haben oder nicht wissen, wie ein Schwertwal, ein weißer Hai oder ein See-Elefant aussehen. Für die letztgenannten werden dann drei Fotos dem Informationsmaterial auf dem Niveau von Kinder- oder Jugendbüchern hinzugestellt, indem vor allem der Hai mit geöffnetem Maul auch dem letzten Zweifler klar entgegenzuschmettern scheint: »Hallo, ich bin der weiße Hai und auf keinen Fall die Beute!«
Abbildung 3: Angriffshäufigkeit der Schwertwale und Weißen Haie auf See-Elefanten innerhalb der drei Regionen (Beobachtungen in den Jahren 1999 bis 2001)
Abbildung 4: Beutewahl der Schwertwale und Weißen Haie im gesamten Bereich vor der südlichen Farallon-Insel (Beobachtungen in den Jahren 1999 bis 2001)
Aufgeweckte Schüler haben die beiden Grafiken schnell beschrieben. Ein einfaches Ablesen der Säulendiagramme – der weiße Hai jagt bis zu 80 Prozent vornehmlich in der Tiefenwasserregion, während der Schwertwal die Flachwasserregion bevorzugt – erfüllt den Erwartungshorizont vollständig. Für die Beschreibung der Abbildung 4 ist auch nicht gerade eine Meisterleistung erforderlich. Da Haie laut Abbildung 3 in tieferen Regionen jagen, fangen sie die dort befindlichen erwachsenen Tiere der See-Elefanten, da die Jungtiere sich ja noch in der Flachwasserregion aufhalten. Da die Schwertwale in erster Linie in der Flachwasserregion jagen, fressen sie halt die dort befindlichen Jungtiere und Jährlinge, die noch nicht ins offene Meer können. Auch das sollten aufgeweckte Siebtklässler erkennen können. Selbst wer dies nicht hinbekommt, ist noch lange nicht verloren. Schließlich gibt es ja noch das ausführliche Textmaterial, und da werden wir schnell fündig. Fressfeinde der See-Elefanten: Die bevorzugte Beute beider Räuber waren in diesem Gebiet See-Elefanten. Die meisten Angriffe der Schwertwale und Weißen Haie auf See-Elefanten fanden innerhalb der drei Regionen statt, allerdings mit unterschiedlicher Jagdstrategie, und: Erwachsene See-Elefanten sind nachtaktiv, sie schwimmen in der Abenddämmerung in Richtung offenes Meer und kehren in der Morgendämmerung an Land zurück. Jungtiere und Jährlinge (1 – 3 Jahre alte Tiere) nutzen die Strandregion und die Flachwasserregion den ganzen Tag.14 15 Dies sind nun die nächsten 20 Prozent der vollständigen Lösung, und die Behörde bestätigt unsere Analyse: Der Operator »darstellen« weist auf die Anforderungsbereiche I–II hin. Da die Lösung direkt aus dem Material abgelesen werden kann, entspricht die geforderte Leistung dem Anforderungsbereich I.16
Die Aufgaben c und d entsprechen diesem Schema. In Aufgabe c soll der Schüler die beobachtete Koexistenz von Schwertwal und Hai erklären. Dies ergibt sich aus der Aufgabe b), die wir ja gerade ausführlich analysiert und in der wir die Lösung zu c schon ansatzweise enthalten haben: Weißer Hai und Schwertwal kommen sich bei ihren Beutezügen nicht in die Quere, weil sie in unterschiedlichen Regionen ihrer Beute nachstellen. Dies steht genauso im Informationsmaterial. Spätestens in Teilaufgabe d hätte man entsprechend dem Operator Erklären erwarten müssen, dass der Schüler zu einem Sachverhalt ein selbstständiges Urteil unter Verwendung von Fachwissen und Fachmethoden formulieren und begründen17 soll und ihm auch die Chance eröffnet wird, die ganze Breite seines in der Sekundarstufe II erworbenen Fachwissens zu diesem Themenbereich nachweisen zu können, um daraus auf weitere populationsdynamische Entwicklungen in der Zukunft zu schließen. Im Gegenteil, es reicht jedoch aus, wenn der Schüler im Rahmen der Beurteilung einer Aussage zur langfristigen Prognose der Populationsentwicklung an Hand der vorgegebenen Grafiken wiederholend feststellt, dass es regelmäßige Populationsschwankungen im Beobachtungszeitraum gibt, die Zahl der Tiere sich um 1000 einpendelt und dass solche Populationen in der Regel stabil sind und in Zukunft wohl auch bleiben.
Auch hier wird unsere Interpretation durch die Angaben der Behörde zu den vom Schüler einzubringenden Leistungen voll bestätigt: Der Operator »erklären« weist auf die Anforderungsbereiche II–III hin. Da die Erklärung eng an den vorgegebenen Informationen erfolgt, entspricht die geforderte Leistung dem Anforderungsbereich II.18 Für die letzten beiden Aufgabenteile erhalten wir die nächsten 50 Prozent der zu vergebenden Punkte.
Im Gegensatz zur Streifenhörnchen-Aufgabe, in der zumindest in einer Teilfrage grundlegendes Fachwissen einzubringen war, kann diese Aufgabe komplett durch »Lesekompetenz« gelöst werden. Dafür muss auch hier niemand am Biologieunterricht teilgenommen haben. Diese Zentralabituraufgabe ist reiner Mittelstufenstoff und war zu Zeiten der Lehrpläne mit Fachinhalten auch dort angesiedelt.
Berlin verwendet ähnliche Aufgaben mit ausführlichen Informationsmaterialien, die nach dem bekannten Schema abzuarbeiten sind. In der Aufgabe des Leistungskurses von 2013 »Invasion der Dornenkronensterne« geht es um die These, dass die massenhaft eingewanderten Dornenkronen-Seesterne für das Absterben weiter Teile des Großen Barriere-Riffs verantwortlich sind. Die erste Frage dazu lautet dann: Beschreiben Sie interspezifische Beziehungen im Großen Barriere-Riff.19 Dazu erhält der Schüler einen ausführlichen Text im Material A, aus dem alle im Erwartungshorizont eingeforderten »Kompetenzen« nachzuweisen sind: verschiedene Beispiele für Räuber-Beute-Verhältnisse (Korallenpolypen – Kleinstlebewesen, Tritonshorn – Dornenkronen-Seestern, Harlekin-Garnelen – Dornenkronen-Seestern …) – Konkurrenz zwischen Räubern der Dornenkronen-Seesterne: Tritonshorn, Raubfische, Harlekin-Garnelen – Symbiose zwischen Grünalgen in Korallenpolypen und den Korallenpolypen.20 All dies ist selbstverständlich direkt dem Material zu entnehmen, das zusätzlich noch andere Informationen enthält. Der Schüler geht also auch hier auf die bekannte Ostereiersuche. Man könnte den Schülern in Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Berlin und Bremen u. a. zum bevorstehenden Abitur jeweils raten, das gesamte Material als Lösung einfach abzuschreiben. Die korrigierenden Lehrer hätten aufgrund der Vorgaben gar keine andere Chance, als hier gegebenenfalls die zu erreichende Maximalpunktzahl zu vergeben, für die obige Teilaufgabe zehn Punkte.
Unter der Prämisse, dass die Aufgabenstellung in den Abiturarbeiten vor Einführung des Zentralabiturs von den Fachlehrern entsprechend ihren jeweiligen Unterrichtsschwerpunkten auf ihre Schüler zugeschnitten wurde, ist unbestritten, dass vom Schüler ein Basiswissen einzubringen war, dessen fachliche Qualität in der Darstellung ein entscheidendes Beurteilungskriterium darstellte. Auch waren hier die höherwertigen Anforderungsbereiche wie Bewertungen, Deutungen und Kritik nur auf der Grundlage von Fachwissen möglich. Dies galt grundsätzlich für alle Bundesländer. Die Problematik solcher Aufgabenstellungen ist dann auch eine andere. Nicht die Themenbereiche sind falsch gewählt, vielmehr ist das umfangreiche Arbeitsmaterial mit den darin enthaltenen Lösungen der eigentliche Kritikpunkt. Selbst die vorliegende Aufgabe zur Populationsökologie beispielsweise der Streifenhörnchen bekäme einen anderen Anspruch, wenn das Arbeitsmaterial lediglich die Grafiken mit den Aufgabenstellungen ohne zusätzliches Informationsmaterial enthielte.
Die Aufgabenformate leiten sich aus den bekannten, in der alten Lernzieldebatte der siebziger Jahre entwickelten Anforderungsbereichen ab, wie der Reproduktion (»Beschreiben Sie zusammenfassend …«), des Transfers (»Vergleichen Sie … ») und der Kritik (»Analysieren Sie …«, »Erklären Sie …«). Hinzu treten nun die mit den Bildungsstandards geforderten höheren Fähigkeiten des eigenständigen »Entwickelns von Arbeitshypothesen zur Erkenntnisgewinnung, der darstellenden Kommunikation und der praktischen Bewertung«. Damit wird – nimmt man das wörtlich – ein hoher Anspruch an die Schüler formuliert. Schon das vermeintlich Einfache einer beschreibenden Zusammenfassung stellt eine beträchtliche Leistung dar, geht es doch um die Verdichtung eines Textes, die das Wesentliche bewahrt und es mit eigenen Worten ausdrückt. Erst recht ist das bei allen wirklich analytischen Tätigkeiten der Fall. Der Schüler soll erklären, was die Wissenschaft als Erkenntnis anbietet. Das geht nicht ohne das Verstehen der Sache. Dieser Anspruch wird dem Anschein nach mit den Bildungsstandards noch weiter gesteigert. Wenn Schüler solche Kompetenzen