der Abituraufgabe von 201427 dürfen in vielen alten Bundesländern ohne zusätzliche Informationsmaterialien so nicht mehr gestellt werden.
Die Aufgaben im Fach Biologie in Mecklenburg-Vorpommern sind nicht nur wegen ihres hohen fachlichen Anspruchs beispielhaft. Sie beinhalten immer auch fachübergreifende Fragestellungen sowie vom Schüler in der Abiturprüfung selbst durchzuführende Experimente, Letztere gibt es auch in Thüringen im Zentralabitur. Diese Art von anspruchsvollen Zentralabiturprüfungen und der dahinter zu vermutende Fachunterricht garantieren die notwendige Kohärenz mit dem Fach Biologie, wie es an der Universität betrieben wird. Lesekompetente Ostereiersuche ist dort unbekannt, und immer mehr Studierende in den ersten Semestern reiben sich verwundert die Augen, wenn sie sich gerade in den Bachelor-Studiengängen zuerst einmal das grundlegende Fachwissen aneignen müssen, das dann auch in den entsprechenden Prüfungen als Basis für ein sinnvolles Studieren nachzuweisen ist. Ganz im Gegensatz zu den beschriebenen Lesekompetenzaufgaben, die einen anderen fachunabhängigen Schwierigkeitsgrad besitzen, indem sie vom Schüler die möglichst schnelle Abarbeitung von bis zu fünf Seiten Material auf fachlich bedenklichem Niveau ähnlich einer Gebrauchsanweisung mit den stets gleichen Routineverfahren abverlangen. Die nachgewiesene Routinekompetenz ist eine reine Methodenkompetenz und benötigt beliebig gegeneinander austauschbare Inhalte nur als Beiwerk. Grundsätzlich trifft diese Entwicklung auch auf alle anderen Fächer zu. Das Fach Geschichte ist besonders davon betroffen.28
Derzeit werden die Zentralabituraufgaben für die Fächer Mathematik und Biologie von sieben Bundesländern analysiert. Daran beteiligt ist eine Gruppe von rund 25 Fachprofessoren und im Fach ausgewiesenen Fachdidaktikern und Fachlehrern, die ohne Forschungsauftrag und Forschungsgelder die Analysen in Eigenregie durchführt, die Ergebnisse könnten ja möglicherweise den eingeschlagenen Bildungsmainstream der Big Player OECD, Bertelsmann Stiftung, EU, BMBF und die empirische Bildungsforschung in Frage stellen. Wieso nur sieben Bundesländer? Man kann es sich schon denken. Eine freundliche Anfrage an alle Kultusministerien der Bundesländer mit der Bitte, die Zentralabituraufgaben und deren Erwartungshorizonte in digitaler Form für wissenschaftliche Forschungszwecke zur Verfügung zu stellen, ergab in einer ersten Runde, dass nur ein einziges Bundesland bereit war, dieser Bitte direkt nachzukommen (Mecklenburg-Vorpommern). Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat ihren Mitgliedern empfohlen, lediglich die Aufgabenstellungen, nicht aber die Erwartungshorizonte verfügbar zu machen. Das KMK-Schreiben lautet wie folgt:29
Die Ministerien haben sich darauf verständigt, dass sie Ihnen die Abituraufgaben – soweit dies mit vertretbarem Aufwand leistbar und in den Ländern rechtlich zulässig ist – übermitteln werden. Von einer Übermittlung der Erwartungshorizonte und Bewertungshinweise wird dabei abgesehen. Aufgrund von verschiedenen Kontextvariablen in den Ländern kann ein formaler Vergleich dieser Erwartungshorizonte und Bewertungshinweise nicht zu validen Ergebnissen führen. So geben z. B. einige Länder für die Abiturprüfung keine normativen Erwartungshorizonte heraus, sondern Lösungshinweise, die nur eine grundsätzliche Orientierung bieten und die große Breite an Möglichkeiten von Antworten in der Abiturprüfung nicht abbilden können.
Man kann sich leicht vorstellen, dass eine fachliche Analyse der Aufgabenstellung zu keinen validen Ergebnissen führt, wenn man die Erwartungshorizonte nicht kennt. Darüber hinaus scheint Deutschland inzwischen außerordentlich forschungskompetente Kultusminister und Ministerialbeamte zu haben, die offensichtlich in der Lage sind, darüber zu befinden, welche Forschung Sinn ergibt und welche nicht. Das war längst nicht immer so. Einst konnten Professoren einmal selbst entscheiden, woran sie denn forschen wollten, und das war ihr Alleinstellungsmerkmal. Genau deshalb hatte man sie ja seinerzeit zu Professoren berufen.
Nach einem erneuten Schreiben mit Hinweis auf das Informationsfreiheitsgesetz und einem zu befürchtenden Druck durch Teile der Presse haben dann immerhin sechs weitere Kultusministerien eingelenkt, neben den Aufgabenstellungen auch die Erwartungshorizonte zu liefern: Hamburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein, Sachsen-Anhalt, Thüringen. Die restlichen Bundesländer haben entweder gar nichts (Berlin, Saarland, Bremen, Sachsen) oder nur die Aufgaben geliefert (Bayern, Brandenburg, Niedersachsen). Baden-Württemberg hat nach langem Hin und Her die Aufgaben freundlicherweise in Papierform in einem Riesenpaket – ohne Erwartungshorizonte – zur Verfügung gestellt. Letzteres erleichtert vergleichende Analysen mit ansonsten digitalem Material ganz erheblich. Einige Länder haben sehr kreative Lösungen vorgeschlagen. Für das Bundesland Sachsen wurde folgendes mitgeteilt:30
Die von Ihnen gewünschten Abituraufgaben der Fächer Mathematik, Deutsch, Englisch, Latein, Biologie, Geschichte und Geographie der letzten zehn Jahre können Ihnen in Form von pdf-Dateien zur Verfügung gestellt werden. Dazu ist seitens des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus (SMK) vorgesehen, in einer Nutzungsvereinbarung Nutzungszweck und Personenkreis der Nutzer näher zu bestimmen und die Erstattung notwendiger Auslagen zu vereinbaren. Nach Ihrer Zustimmung können wir Ihnen die gewünschten Aufgaben im Monat September zukommen lassen. Grundlage für die vorgesehene Höhe der Auslagenerstattung ist: 9. Verordnung des Sächsischen Staatsministeriums der Finanzen über die Bestimmung der Verwaltungsgebühren und Auslagen (Neuntes Sächsisches Kostenverzeichnis – 9. SächsKVZ), Anlage 6 zu § 1 Nr. 4, Schreibauslagen nach § 13 Sächs VwKG, Tarifstelle 2. Ausfertigung und Abschrift in elektronischer Form 2,50 € je Datei. Die Pauschale von 2,50 € bezieht sich auf eine pdf-Datei pro Fach und Anforderungsniveau (Grundkursfach oder Leistungskursfach) in einem Jahr.
Die Bremer Senatorin für Kinder und Bildung bevorzugt eine andere innovative Lösung:31
In Ihrem Schreiben äußern Sie ein Interesse an Lehrerhandreichungen und Erwartungshorizonten und berufen sich gleichzeitig auf das Informationsfreiheitsgesetz. Ich bitte daher, auch um ein Missverständnis auszuschließen, zunächst um Mitteilung, ob ich Ihr Schreiben als Antrag auf Bescheidung gemäß § 7 Absatz 1 Bremer Informationsfreiheitsgesetz (BremIFG) werten soll, und erlaube mir in diesem Zusammenhang den Hinweis, dass ein solcher Bescheid unter Umständen gebührenpflichtig wäre. Falls Sie einen solchen Antrag stellen möchten, würde ich Sie zudem bitten, Ihren Antrag gemäß § 7 Absatz 1 Satz 2 BremIFG hinreichend bestimmt zu fassen, da ich nur so Ihren Antrag sachgerecht bearbeiten kann. Erst wenn Ihr konkretisierter Antrag vorliegt, kann ich im Detail prüfen, ob einem Auskunftsanspruch Ausschlussgründe oder Rechte Dritter (z. B. wegen des Schutzes geistigen Eigentums gemäß § 6 BremIFG) entgegenstehen. Nur der Vollständigkeit halber verweise ich in diesem Zusammenhang bereits jetzt auf § 8 BremIFG, danach ist in jedem Fall bei Beteiligung Dritter diesen Dritten Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben und eine etwaige dem Antrag auf Informationszugang stattgegebene Entscheidung ist ihnen später auch bekannt zu geben. Erst wenn die Entscheidung dem oder den Dritten gegenüber bestandskräftig geworden ist oder die sofortige Vollziehung angeordnet worden ist und seit der Bekanntgabe der Anordnung zwei Wochen verstrichen sind, könnte dann der Informationszugang gewährt werden.
Selbstverständlich war auch Berlin nicht dazu bereit, die erbetenen Unterlagen für wissenschaftliche Analysen zur Verfügung zu stellen. Man bittet freundlich um Überlassung der bereits geschriebenen Zentralabiturarbeiten und der Lehrerhandreichungen, die für nichts mehr benutzt und auch nicht mehr eingesetzt werden, und scheint in ein Wespennest getreten zu sein. Auch NRW hatte bei der Publikation der Streifenhörnchen-Experimente mit Neuntklässlern mögliche Zitierungen aus dem mit Passwort geschützten Bereich des Ministeriums untersagt, mit dem aufschlussreichen Hinweis, dass man an derartigen Untersuchungen durchaus interessiert sei. Bedingung dafür wäre aber, vorher im Gespräch die Vorgehensweise und vor allem auch die Handhabung der Ergebnisse abzusprechen.32 Auch das ist nichts Neues, selbsterfüllende Prophezeiungen sind im drittmittelgesteuerten Forschungsbetrieb unter Berücksichtigung der Interessenlage der Auftraggeber auch im Hochschulbereich längst gängige Praxis. Jedenfalls scheint sich die Überlassung von Zentralabiturarbeiten und den Lösungsvorschlägen auf offiziellem Wege noch bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag hinauszuzögern. Das »Handelsblatt« titulierte die generelle Verweigerungshaltung der Bundesländer zur Veröffentlichung ihnen anscheinend unliebsamer Daten zu Recht als »Kartell der Verblödung«. Anscheinend sei es den Politikern egal, wenn man auf das Bildungsniveau von Mexiko zurückfalle, so die Autorin.33
Nach den derzeitigen, noch längst nicht abgeschlossenen Analysen scheint sich eine sicherlich wenig überraschende Tendenz anzuzeigen: Je fachlich anspruchsvoller