Hans Peter Klein

Vom Streifenhörnchen zum Nadelstreifen


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rostbraun ist, dass der Anteil der kälteisolierenden Wollhaare beim Rotfuchs ca. 20 Prozent, beim Polarfuchs dagegen rund 70 Prozent beträgt, und dessen Fell im Sommer braun und im Winter weiß gefärbt ist.1

      Schreibt der Schüler diese Informationen wortwörtlich ab oder formuliert sie um, befindet er sich auf der sicheren Seite und erreicht entsprechend dem Erwartungshorizont die volle Punktzahl in diesem Aufgabenteil:

      Die weiße Fellfarbe tarnt den Polarfuchs im arktischen Winter (…) Der Rotfuchs kommt überwiegend in nicht arktischen Gebieten vor, im Winter liegt nicht immer Schnee. Daher tarnt ihn die rostbraune Färbung in seinem Lebensraum (…) Das dichte Fell des Polarfuchses mit 70 % Wollhaaren isoliert gegen die Kälte. Beim Rotfuchs ist der Anteil der Wollhaare mit 20 % geringer als Angepasstheit an die eher milden Winter. Der Polarfuchs toleriert wesentlich tiefere Temperaturen als der Rotfuchs.2

      Wenig zielführend wäre auch hier, wenn der Schüler versuchen würde, weitere ihm bekannte Sachverhalte in seinen Text einzubauen; das hält auf, am Ende fehlt Zeit für die Beantwortung aller Teilfragen, und mehr Punkte als die vorgegebenen kann er ohnehin nicht erreichen. Es ist mehr als offensichtlich, dass man für die Bearbeitung derartiger Aufgaben nicht am Biologieunterricht hätte teilnehmen müssen.

      Im Leistungskurs 2011 geht es um den Bienenwolf. Der Schüler schreibt am besten auch hier gleich aus dem Informationsmaterial ab: dass der Bienenwolf Bienen jagt – wer hätte das gedacht – und die gelähmten Bienen die Nahrung für seine Larven sind, die drei Tage nach der Eiablage schlüpfen und zunächst das Fettgewebe und dann die Organe der gelähmten Biene fressen, und dass sich die Bienenwolfweibchen von Pflanzennektar ernähren.3 Eine solche Leistungskursabituraufgabe sollte jeder Neuntklässler mit Lesekompetenz problemlos lösen können, unter der Voraussetzung, dass man ihn vorher ausdrücklich darauf hinweist, dass auch hier alle Antworten im Text oder den Grafiken bereits vorhanden sind.

      Auch die Aufgabe zu den Kannenpflanzen (2013), die zu den fleischfressenden Pflanzen gehören, ist sehr aufschlussreich. Im Material erfährt der Schüler, dass fleischfressende Kannenpflanzen im Normalfall nicht auf bestimmte Beutetiere spezialisiert sind und daher ein breites Spektrum an Gliederfüßlern nutzen, dass der Kannenrand und der Deckel auffällig gefärbt sind und am Kannenrand befindliche Drüsen Nektar absondern, dass die innere Kannenwand bei vielen Arten mit sehr glatten Wachskristallen ausgekleidet ist und sich in der Flüssigkeit in dem unteren Teil der Kannen auch zahlreiche Enzyme befinden. In der Aufgabenstellung soll der Schüler zuerst einmal die bei Kannenpflanzen zur Sicherstellung der Stickstoffversorgung auftretenden Besonderheiten benennen.4 Entsprechend dem Erwartungshorizont ist auch hier ein zusammengefasstes Ab- oder Umschreiben des Informationsmaterials ausreichend für den Erhalt der vollen Punktzahl: Kannenpflanzen bestehen aus zu Kannen umgebildeten Blättern mit einem auffällig gefärbten Deckel und Kannenrand, darüber hinaus sitzen Nektardrüsen am Kannenrand und sehr glatte Wachskristalle an der inneren Kannenwand sowie Enzyme in der Kanne.5 Die weitere Teilfrage bezieht sich durch die Nutzung des Operators Diskutieren auf den höchsten Anforderungsbereich III. Der Schüler soll die Funktion der in der Kannenflüssigkeit nachgewiesenen Enzyme diskutieren. Diese Aufgabe könnte kein Neuntklässler erfolgreich bewältigen, und sie ist daher sehr anspruchsvoll gestellt. Der Schüler soll ein tiefes Verständnis grundlegender biologisch-chemischer Zusammenhänge verschiedener Enzymaktivitäten nachweisen. Das ist zweifelsfrei Leistungskursniveau. Man mag es aber schon fast erahnen, dass der Schüler hier zum Erreichen der höchsten Kompetenzstufe wieder einmal nur aus dem Arbeitsmaterial abschreiben muss. Die Kannenflüssigkeit enthält … auch zahlreiche Enzyme: Peptidasen, die Peptidbindungen aufbrechen, Ribonukleasen, die Nukleinsäuren zerlegen, sowie Chitinasen, die das chitinhaltige Außenskelett von Insekten und anderen Gliederfüßern auflösen.6

      Die nur selten vorkommenden Gewässerökologieaufgaben entsprechen dem gleichen Schema. Unter dem Titel der Leistungskursaufgabe von 2010 »Johannisbach und Obersee – Gewässergüte und Sanierungskonzept« soll der Schüler u. a. sein grundlegendes Verständnis über die Bestimmung der Gewässergüte und die dafür zugrunde liegende Berechnung von Gewässergüteklassen unter Beweis stellen: Ermitteln Sie anhand von Material C über den Saprobienindex die Gewässergüte des Johannisbaches am Messpunkt A.7

      Das klingt ebenfalls anspruchsvoll. Ähnliche Aufgaben gab es auch schon in den achtziger und neunziger Jahren, die sich durch ein um bis zu 90 Prozent reduziertes Informationsmaterial von den heutigen Aufgabenformaten unterschieden. An Fachwissen musste der Schüler einbringen, dass an einer bestimmten Messstelle je nach der Güte eines Gewässers unterschiedliche Tierarten zu finden sind. Einige bevorzugen eher sauberes Wasser, während andere mehr oder weniger verschmutztes Wasser vorziehen. Weiterhin war die Kenntnis einer relativ einfachen Formel zur Berechnung der Gewässergüteklasse vonnöten. Um diese anwenden zu können, bekam der Schüler zwei Zahlenkolonnen vorgegeben: den für jede Tierart feststehenden Gewässergütewert s und den Häufigkeitswert h. Entsprechend der vereinfachten Formel nach Bauer mussten dann die einzelnen Tierfunde aufgelistet und die s- und h-Werte miteinander multipliziert und durch die Anzahl dividiert werden. Die nachfolgende Abbildung verdeutlicht den Vorgang. Diese Bestimmung der Gewässergüteklasse kann problemlos in der Mittelstufe vorgenommen werden. Im Leistungskurs wurde zusätzlich immer auch der g-Wert für das Indikationsgewicht der jeweiligen Art mit in die Formel einbezogen. Hier musste der Saprobienindex nach Zelinka und Mervan genauer bestimmt werden. Alle diese Schritte waren vom Schüler selbständig zu erbringen. Da es sich um einfache Additionen und Multiplikationen handelt, wären auch hier sicherlich Neuntklässler in der Lage, diese Rechnungen erfolgreich durchzuführen. Schaut man sich nun das dem Schüler im Zentralabitur für die Bearbeitung der Aufgabe zur Verfügung gestellte Informationsmaterial an, fragt man sich, ob man nicht einer optischen Täuschung erlegen ist (s. Abb. 2).

      Hier ist nichts aus Listen zu entnehmen, hier wird nichts in eine vorgegebene Formel eingetragen, nichts angewendet, nichts berechnet, nicht einmal einfachste Additionen und Multiplikationen auf Grundschulniveau sind durchzuführen. Entgegen der Aufgabenstellung ist hier also auch nichts zu ermitteln, hier ist bereits alles ermittelt! Der Schüler bekommt also den kompletten Erwartungshorizont direkt im Informationsmaterial vorgegeben.

Biologische Untersuchung
Arthsh · s
Eintagsfliegenlarve32,06,0
Bachflohkrebs42,08,0
Köcherfliegenlarve32,06,0
Schlammröhrenwurm23,87,6
Wasserassel32,88,4
Großer Schneckenegel32,47,2
Schlammfliegenlarve22,44,8
Rollegel4312,0
Abwasserpilz23,67,2

      h: Häufigkeit s: Gütefaktor

      Saprobienindex S = 2,58

      Abbildung 2: Biologische Untersuchung aus Material C: Datenblatt zur Gewässeruntersuchung des Johannisbaches sowie Tabelle zur Auswertung (nach 7, verändert)

      Für den weiteren Vergleich mit einer anderen Messstelle muss der Schüler nur wissen, dass die Zahl 2,58 größer oder kleiner ist als eine andere ihm vorgegebene einfache Zahl von 1 bis 4. Einzelne Landesregierungen trauen ihren Schülern im Biologieunterricht anscheinend nicht einmal mehr mathematische Grundschulkenntnisse des Einmaleins zu. Das könnte möglicherweise die gewünschte Abiturquote gefährden. Da geht man lieber auf Nummer sicher.

      Wenn in Nordrhein-Westfalen ein Lehrer in den neunziger Jahren bis zum Zeitpunkt der Einführung des Zentralabiturs 2007 eine der vorgestellten Aufgaben als Abiturvorschlag bei der Bezirksregierung eingereicht hätte, wäre der zuständige Dezernent aufgrund tiefer Besorgnis um den Gemütszustand