es mir schwer, dass ich da so tu’ wie bei jedem anderen.“
Auf diese Weise ergibt sich eine Reihe von ethischen Fragen, etwa: Wo und wie kann man „delikate Angelegenheiten“ besprechen? Wie kann man einem Patienten, einer Patientin, die stets eine bestimmte und unverwechselbare und mitunter tragische Vorgeschichte haben, gerecht werden? Woher nehmen Menschen mit Verantwortung für die Betreuung, Pflege und Begleitung von Patient/inn/en die Kraft, ihren Dienst zu tun? Wie ist mit schwierigen Patient/inn/en umzugehen, also mit Patientinnen und Patienten, die wenig Geduld, Kommunikationsfähigkeit und Kooperationsbereitschaft zeigen? Welche Rechte haben Patient/inn/en? Welche Rechte hat das Personal in einem Krankenhaus? Gibt es auch so etwas wie „Patient/inn/en-Pflichten“? Gibt es hoffnungslose Fälle? Soll die Verweigerung von „Compliance“ Konsequenzen haben? Wie ist mit Menschen umzugehen, deren Lebenssituation so komplex ist, dass die gesundheitlichen Probleme nur die Spitze des Eisbergs an Lasten und Lebensherausforderungen sind? Wann kann ein Mensch guten Gewissens aus einem Krankenhaus entlassen werden?
Ethik ist das Bemühen, systematisch über solche Fragen nachzudenken. Ethik ist das Nachdenken über das Gute; das kann sich auf das gute Leben beziehen, auf den guten Charakter und die gute Person, oder auch auf die gute Handlung, die gute Institution oder die gute Entscheidung. Während wir in der Regel unter Moral „gelebte Normen und Wertüberzeugungen“ verstehen (sodass jede wie auch immer geartete Gesellschaft so etwas wie Moral aufweist), kann man Ethik als systematische Reflexion auf Moral ansehen. Während die deskriptive Ethik Moral beschreibt, denkt die normative Ethik darüber nach, was wir tun sollen oder nicht tun dürfen. Das kann auf „materiale“ Weise (besondere Empfehlungen und Entscheidungen) oder auf „formale“ Weise (Arbeit mit allgemeinen Prinzipien) geschehen.
Bekannte Beispiele für solche allgemeinen Prinzipien, wie sie auch in der medizinischen Ethik zum Einsatz kommen, sind das Nichtschadensprinzip (Vermeidung von unnötigem Leid und Bewahrung vor Schaden), das Autonomieprinzip (Respekt vor der freien Entscheidung, in so vielen Lebensbereichen so umfangreich und so lange wie möglich), Prinzipien der Gerechtigkeit (in seiner ursprünglichsten Form: gleiche Fälle gleich, ungleiche ungleich behandeln) oder Prinzipien der sozialen Zuträglichkeit (Vermeidung unverhältnismäßigen Aufwandes). Selbstbestimmung, Gerechtigkeit und Leidvermeidung sind wichtige Orientierungspunkte im ethischen Nachdenken.
Ethische Handlungen und der Handlungsspielraum
Der Handlungsspielraum wird ethisch neben Prinzipien auch durch Unterscheidungen strukturiert. Es wird etwa mit Blick auf die Pflichten zwischen „starken Pflichten“ (dürfen nicht verletzt werden) und „schwachen“ oder „relativen“ Pflichten (können gegebenenfalls zugunsten höherrangiger Pflichten aufgegeben werden) unterschieden. Unterschieden wird auch zwischen Prinzipien und kasuistischen Regeln, die das Besondere in den Blick nehmen; etwa mit Anhaltspunkten wie: „Je unnötiger ein Eingriff, desto genauere ärztliche Aufklärung ist nötig.“ Das ist nun nicht besonders aufregend, aber als erste Klärung wichtig und möglicherweise hilfreich. Ethisch relevant sind vor allem jene Bereiche, die wir handelnd beeinflussen können. Ethisch relevant ist vor allem das, was wir durch Entscheidungen und handelndes Gestalten prägen können. Ein Beispiel:
„Die Nachtschwester, die etwas nach dreiundzwanzig Uhr auf ihrer Runde hereinschaut, schüttelt den Kopf, als sie mich mit einem Buch in der Hand antrifft. ‚Sie schlafen ja schon wieder nicht‘, sagt sie vorwurfsvoll., Das geht doch einfach nicht. Warum weigern Sie sich denn, ein Schlafmittel zu nehmen?‘ Ich blicke in ihr noch junges Gesicht, in ihre Augen, in denen deutlich die Missbilligung darüber zu lesen ist, dass ich mich nicht, wie jeder andere Patient, in die Krankenhausroutine einordne.“16
Hier haben wir es mit Spielräumen zu tun, die handelnd beeinflusst werden können. Ein Buch zu lesen ist eine Handlung; eine Schlaftablette zu nehmen ist eine Handlung; eine Frage zu stellen ist eine Handlung. Unter „Handlungen“ versteht man gemeinhin durch den Menschen herbeigeführte Ereignisse. Handlungen sind Verhaltensweisen, die der willentlichen Kontrolle unterliegen: Man kann sie setzen und man kann sie unterlassen. Auch durch ein Unterlassen kann gehandelt werden. Anders gesagt: Eine Handlung ist eine Form des Verhaltens, über die man sich beraten kann, eine Form des Verhaltens, zu der man aufgefordert werden kann. Von Handlungen sprechen wir in der Regel im Zusammenhang mit dem Verfolgen von Zwecken. Ein Mensch handelt, wenn er damit einen bestimmten Zweck verfolgt, aber auch einen anderen Zweck verfolgen könnte. Diese Wahlmöglichkeit kann man „Handlungsoptionen“ nennen. Es ist ethisch von Interesse, den Blick auf die verfügbaren Handlungsoptionen zu richten. Handle so, dass du immer auch Alternativen hast, zwischen denen du dich entscheiden kannst.
Der Blick auf „Alternativen“ ist von entscheidender Bedeutung, die Schärfung dessen, was der österreichische Dichter Robert Musil den „Möglichkeitssinn“ genannt hat, den Sinn für das, was möglich wäre und anders sein könnte. Wenn wir die Frage stellen: „Was könnte man besser machen?“, zielt das auf den Möglichkeitssinn ab. Es verwundert nicht, dass der englische Dirigent Benjamin Zander ein bekanntes Buch über Führungsethik (geschrieben von ihm und der Psychotherapeutin Rosamund Zander) „Die Kunst der Möglichkeit“ genannt hat.17 Es verlangt die Kunst der Möglichkeit, wenn ein Solist vor der Aufführung von Schuberts „Winterreise“ seinen Auftritt wegen Liebeskummers absagen möchte – der Dirigent sah dabei die einmalige Chance, ein gefühlstiefes Konzert mit einem Solisten in der rechten Stimmung zur Aufführung zu bringen! Denn schließlich geht es in Schuberts „Winterreise“ um existenziellen Schmerz und enttäuschte Liebe. Führen bedeutet Möglichkeiten zu sehen, das gilt auch für das Führen eines Krankenhauses. Der Blick auf Handlungsspielräume, Handlungsalternativen und Handlungsoptionen ist ethisch relevant. Ein Arzt nannte in einem von uns geführten Interview Beispiele für verbesserungsfähige Aspekte:
„Es gibt gewisse Dinge, wo Verbesserungsbedarf wäre, denke ich z. B. an XY [ein kleineres Gemeindespital], wo man in einer Notfallaufnahme sitzt und vielleicht 20 wartende Patienten da sind und manche schon seit zwei Stunden warten … dass da eine Drucksituation auf den jeweiligen Arzt kommt und die Erwartung von den Patienten ist, dass sie gleich drangenommen werden … da gibt es Patienten, die sehr ungeduldig werden und an der Türe klopfen, obwohl es klar eine Reihung gibt … je nachdem, wie schwerwiegend das Problem ist … und dass ältere Patienten kommen, die langsamer sind, schlechter hören … da ist es zu Problemen mit den Ärzten gekommen, da war ein junger Arzt, der sich aufgeregt hat über das Kommen der Patientin, obwohl sie nichts hat … und größere Probleme entstehen auch im Nachtdienst, wo einfach der Stresslevel relativ hoch ist und der Arzt an seine Grenzen kommt von seinen Dienstzeiten, dass es zu Überforderungen kommt, die eventuell auf den Patienten übertragen werden … was nicht sein soll, sich aber nicht vermeiden lässt teilweise … [wenn] ein Patient sehr wehleidig tut … und es kommt nichts raus, da ist die Geduld des Arztes … da kann es schon zu einem gespannten Verhältnis kommen, auch in der Untersuchungsmodalität. Oder auf der Chirurgie … man muss untersuchen und die Patienten kommen nicht entgegen beziehungsweise in Nachtdiensten, was immer ein großes Thema ist, wenn jemand betrunken ist oder unter Drogeneinfluss da ist und sich gar nicht behandeln lassen will … der Arzt ist auch unter Stress, will den behandeln und es ist nicht möglich …“
Hier wird man sich fragen: Welche Handlungsmöglichkeiten gibt es? Wie können die Rahmenbedingungen für das Handeln verändert werden? Offensichtlich findet das Handeln in einem Krankenhaus im Rahmen von Strukturen statt, die die Menschlichkeit im Handeln fördern oder erschweren können. „Druck“ in Form von Zeit-, Leistungs- oder Kostendruck erschwert das freie Atmen und schränkt die Handlungsspielräume empfindlich ein.
Im Zweifelsfall für die Freiheit!
Hier gilt es, Oasen der Freiheit zu sichern. Der bekannte amerikanische Philosoph John Rawls hat in seiner 1971 erschienenen „Theorie der Gerechtigkeit“ die berühmte Frage gestellt: Wenn alle Mitglieder einer Gesellschaft unter einem Schleier des Nichtwissens zusammenkommen würden, auf welche Gesellschaft würde man sich einigen? „Schleier des Nichtwissens“ („veil of ignorance“) bedeutet, dass man nichts über die eigenen physischen und psychischen Eigenschaften weiß, dass man nicht weiß, in welche Familie, Kultur und Epoche man hineingeboren wird. Wenn dies so ist – nach welchen Prinzipien würden