Clemens Sedmak

Mensch bleiben im Krankenhaus


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empfunden, weil die Wahlmöglichkeiten natürlich begrenzt sind. Dazu kommt, dass die Mahlzeiten ein besonderes Gewicht in einer für Patient/​inn/​en „geschrumpften“ Welt bekommen – wenn der Handlungsradius klein geworden ist, werden solche regelmäßigen Ereignisse zu Höhepunkten. Das Essen ist auch insofern ein besonderes Thema, als sich hier alle zu Recht zuständig und urteilsberechtigt fühlen: Selbst wenn ich nicht das Niveau meiner medizinischen Behandlung treffsicher beurteilen kann, kann ich doch mit Autorität sagen, ob mir mein Essen schmeckt. In den Worten David Wagners: „Sich über das Essen zu beklagen gehört zur Krankenhausfolklore.“32 Hier hat man einen Bereich, in dem man sich kompetent artikulieren kann. Gleichzeitig ergibt das natürlich auch ein Gesprächsthema für die häufig schwierigen Krankenhausbesuche.

      Einer der delikatesten Punkte der Krankenhausethik in Bezug auf elementare Vollzüge betrifft das Ausscheiden. Wir haben es hier mit einer alltäglichen, allen bekannten und intimen Handlung zu tun; eine Handlung, die vielfach auch im Rahmen von intimen Familienbeziehungen im geschützten Raum allein und in Ruhe vollzogen werden will. Besonders für Patient/​inn/​en, die nicht selbstständig auf die Toilette gehen oder diese aus medizinischen Gründen nicht benützen können, und auch für Patient/​inn/​en in einem Mehrbettzimmer ist dieses Thema problematisch.

      „Ich lasse mir den Topf bringen und setze mich selbst drauf, das ist mir furchtbar peinlich. Ich versuche es bestimmt eine Stunde lang. […] Ich rede mir selbst gut zu. ‚Stell dich nicht so an, andere können das auch.‘ Es geht einfach nicht. Mir ist zum Heulen.“33

      Dieser Hinweis auf die belastenden Bedingungen findet sich auch in einem Interview mit einer Krankenschwester wieder:

      „Generell ist blöd, dass sie meistens zu zweit im Zimmer liegen … es kommt oft vor, dass Männchen und Weibchen in einem Zimmer liegen … es ist ein Vorhang dazwischen, aber mehr auch nicht. Du hörst jedes Geräusch … generell ist die Intimsphäre schwierig, vor anderen Patienten sowie auch vor mir … Unangenehm ist ihnen auch teilweise die Hilflosigkeit, wobei ich da auch mit ihnen darüber rede und sage:, Das ist halt so, ich übernehme das jetzt für Sie‘, weil beim Waschen ist es ja oft so, die können außer dem Gesicht nicht viel waschen, weil sie teilweise zu fertig sind beziehungsweise wegen den ganzen Sachen gar nicht wirklich können. 99 Prozent der Patienten wasche ich.“

      Hier kann konkret an einer Ethik des Alltags gebaut werden – was kann getan werden, um diese elementaren Lebensvollzüge menschenwürdig, möglichst menschengerecht, menschengemäß und menschenfreundlich zu gestalten? Ein Hinweis am Rande: Humor hilft! Bischofberger erzählt aus Sicht einer Krankenschwester:

      „(…) Er wollte sich sogleich wieder bei uns für den unangenehmen Geruch entschuldigen, aber meine erfahrene Kollegin ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen, sondern sie meinte spontan: ‚Machen Sie sich mal keine Sorgen, den Geruch kriegen wir gleich wieder aus dem Zimmer raus. Und wissen Sie, ich arbeite nun schon sehr lange in meinem Beruf, aber ich habe noch nie jemanden gepflegt, der Parfum scheißt.‘ Herr Müller blickte sie zunächst verdutzt an. Aber sofort hellte sich sein Gesicht auf und er begann herzhaft zu lachen. Eine für ihn unangenehme Situation hatte sich völlig unerwartet entschärft. Er wirkte sehr erleichtert. Derselbe Spruch war auch bei späteren ‚Aktionen auf dem Thron‘ eine wertvolle Hilfe (…)“34

       Menschenwürde und Selbstachtung

      Drittens möchte ich vorschlagen, dass der Begriff der Menschenwürde mit dem Begriff der Selbstachtung verbunden wird. „Selbstachtung“ drückt eine grundsätzliche Haltung mir gegenüber aus und spricht die Achtung an, die ich mir aufgrund meines Menschseins schulde. Selbstachtung ist eine Form des Respekts.

      S. D. Hudson hat in einer bekannten Differenzierung vier Formen von Respekt unterschieden:35

       „Evaluativen Respekt“, der mit „Bewunderung“ oder „Anerkennung von Leistung“ zu tun hat und erworben wird; eine Form des Respekts, die mit „Einschätzung“ zu tun hat;

       „Hindernisrespekt“, der eine rücksichtnehmende Haltung gegenüber einem Gegenstand oder einer Person ausdrückt im Wissen, dass ohne entsprechende Rücksicht das Erreichen von Zielen verhindert werden kann. Diese Form des Respekts hat damit zu tun, etwas beziehungsweise jemanden ernst zu nehmen;

       „direktiver Respekt“, der sich darin äußert, dass man Regeln und Abmachungen ehrt,

       „institutionellen Respekt“, der sich darin äußert, dass man Institutionen und deren Repräsentant/​inn/​en durch entsprechendes Verhalten würdigt. Diese Form des Respekts drückt eine Anerkennung von sozialer „Ehre“ und sozialer „Bedeutung“ aus.

      Wenn wir davon ausgehen, dass diese vier Formen von Respekt auch für die Diskussion des Begriffs der Selbstachtung relevant sind, und wenn wir sie nun auf den Begriff der Selbstachtung übertragen, könnten wir Folgendes festhalten:

       Selbstachtung kann verbunden werden mit der Fähigkeit zur Selbsteinschätzung, also eigene Fähigkeiten und Leistungen zu sehen und zu würdigen.

      Das wird dort erschwert, wo Menschen keinen Sinn für eigene Fähigkeiten entwickeln oder erbrachte Leistungen nicht entsprechend einschätzen können. Für ein Krankenhaus kann dies etwa die Frage bedeuten: Welche Handlungen kann ein/​e Patient/​in selbst vollbringen? Wird die „Eigenarbeitsfähigkeit“ der Patienten ernst genommen – das, was man auch „salutogenetische Eigenarbeit“ nennt? Wie viel wird der Patientin im Krankenhausalltag aus Gründen der Bequemlichkeit und Effizienz abgenommen, obwohl es die Patientin, wenn auch vielleicht mit höherem Zeitaufwand, selbst erledigen könnte? Inwieweit wird, um ein gewichtiges Wort zu verwenden, „die salutogenetische Eigenarbeit“ der Patient/​inn/​en ernst genommen, eingefordert und unterstützt? Wie ernst wird die subjektive Gesundheits- und Krankheitswahrnehmung der Patient/​inn/​en genommen? Wie sehr kann auch ein Krankenhausaufenthalt zur Ausbildung neuer Fähigkeiten genutzt werden?

       Selbstachtung kann verbunden werden mit der Idee, sich selbst als ernst zu nehmendes Subjekt zu würdigen, das anderen als „Hindernis“ in den Handlungsweg treten kann.

      Anders gesagt: Wenn ich mich selbst achte, nehme ich mich als Quelle von Ansprüchen, die an andere herangetragen werden und von ihnen Rücksichtnahme mir gegenüber abverlangen, wahr und ernst. Im Krankenhaus bedeutet dies, dass Patient/​inn/​en um ihre Rechte wissen, nicht alles unhinterfragt akzeptieren, auch Rückfragen stellen. Natürlich besteht in einem Krankenhauskontext die Möglichkeit, dass Patient/​inn/​en „herumgeschubst“ werden, ohne dass sie als relevantes „Hindernis“, auf das Rücksicht zu nehmen wäre, wahrgenommen werden. Das hat auch mit der erhöhten Verwundbarkeit zu tun. Reduzierter Gestaltungsspielraum und erhöhte Verwundbarkeit unterminieren die Möglichkeit von Selbstachtung als „Hindernis“-Selbstrespekt. Das ist in einem Krankenhaus nicht von der Hand zu weisen.

       Selbstachtung kann als direktiver Selbstrespekt auftreten, als eine Form des „Ehrens von Abmachungen oder Regeln“.

      Wenn man den Umgang zwischen Personal und Patient/​in als Abmachung sieht, dann ist klar, dass Selbstachtung durchaus damit zu tun hat, den jeweils eigenen Teil der Abmachungen zu halten, also auch Pflichten anzuerkennen. Auf das Thema der Patient/​inn/​en-Pflichten werden wir noch zurückkommen. Weiters sind die Möglichkeiten, „Verträge mit sich selbst zu schließen“, sich selbst „Gesetze zu geben“, Kern des Gedankens von Autonomie in einem Kant’schen Verständnis.

      Eine Patientin kann sich etwa vornehmen, in Würde mit der Krankheit umzugehen. Sie kann sich selbst das Gesetz geben, solange es möglich ist, sich Gesetze geben zu wollen. Das war der Entschluss von Ruth Picardie, einer jungen Engländerin, die in den 1990er-Jahren an Krebs starb und die sich vorgenommen hatte, die letzten Monate mit Würde und Lebensfreude zu leben. Ähnliches hat sich Susan Spencer-Wendel vorgenommen, die mit ALS diagnostiziert wurde und das voraussichtlich letzte Jahr, in dem sie sich bewegen konnte, intensiv für Reisen und Begegnungen nutzen wollte.36 Krankheit gefährdet diesen „Bestimmungs-Aspekt“ von Selbstachtung, weil kranke Menschen aufgrund der Ungewissheit ihrer Krankheitsentwicklung Schwierigkeiten haben, Versprechen abzugeben