könnten diese Frage auch für ein Krankenhaus stellen: Auf welche Art von Krankenhaus würden wir uns einigen, wenn alle, die mit einem und in einem Krankenhaus zu tun haben, unter einem Schleier des Nichtwissens zusammenkämen? Ich weiß also nicht, ob ich Chefärztin oder Vater eines kranken Kindes, Reinigungskraft oder Verwaltungsangestellte, Pfleger oder Krankenschwester, Patient/inn/en-Anwalt oder Versicherungsvertreter, Koch oder Turnusärztin bin. Was wäre mir wichtig? Die Frage ist fruchtbar, gerade wenn man sie mit Blick auf eine konkrete Abteilung oder ein konkretes Krankenhaus stellt. Allein die Frage kann schon etwas bewirken.
Was die Antwort angeht, gibt es sicherlich gute Gründe, in eine ähnliche Richtung zu gehen wie Rawls: ein größtmögliches Bündel an Freiheiten für jede einzelne Person. Anders gesagt: im Zweifelsfall für die Freiheit. Wieder anders gesagt: Achte bei der Rollengestaltung und der Gestaltung der Rahmenbedingungen darauf, dass die betreffende Person über Spielräume und Wahlmöglichkeiten verfügt, soweit das mit Blick auf das Gemeinwohl und die Ordnung des Ganzen möglich ist. Hier wird man sich also fragen können: Was bedeutet Spielraum im Reinigungsdienst? Etwa Mitbestimmung bei der Wahl der Reinigungsgeräte, Chemikalien, Arbeitszeiten, Prioritäten und Abfolgen? Was bedeutet Spielraum für Eltern, deren Kind stationär aufgenommen wird? Etwa die Freiheit, auch über Nacht beim Kind zu bleiben? All diese Fragen haben mit dem Handeln zu tun.
Klassischerweise werden Handlungen in ethischer Absicht eingeteilt in solche, die geboten sind, in verbotene, in ethisch indifferente Handlungen und in Werke der Übergebühr. Ethisch indifferente Handlungen sind solche, bei denen es keinen ethischen Unterschied macht, ob sie gesetzt oder unterlassen werden; „Werke der Übergebühr“ (manchmal „supererogatorische Akte“ genannt) sind lobenswerte Handlungen, die man aber nicht verlangen kann. Ein klassisches Beispiel wäre etwa das Spenden, zum Beispiel für die Klinikclowns: eine schöne Handlung, aber man kann Menschen schwerlich dazu verpflichten.
Es gibt nun, wenn man eine „kleine Ethik“ für ein bestimmtes Krankenhaus entwickeln kann, eine wichtige Frage: Wo verläuft die Grenze zwischen „Pflichten“ und „Werken der Übergebühr“? Wenn diese Grenze nicht klar ist, kann es zu Missverständnissen und empfindlichen Abstimmungsschwierigkeiten kommen. Haben Patient/inn/en das Recht darauf, dass die Nachtschwester mit ihnen plaudert? Ist es ein Werk der Übergebühr, wenn das Krankenhaus auf der Kinderchirurgie den Kindern Spielzeug anbietet? Ist es supererogatorisch, dass die Kinderkrankenschwester sich auch bei wichtigen Dingen der Kinderwelt (Harry Potter, Fluch der Karibik, Bob der Baumeister, Caillou, Thomas Lokomotive …) auskennt? Es ist lohnenswert, sich auch über solche Fragen Gedanken zu machen und sich auszutauschen, weil sich hier die Wahrnehmung innerhalb einer Abteilung oder auch die Wahrnehmung von Patient/inn/en und deren Angehörigen auf der einen Seite und die Wahrnehmung des Personals auf der anderen Seite deutlich unterscheiden können.
Der Umgang mit dem Schicksalhaften
Neben dem Handeln gibt es freilich auch einen Bereich, der gerade im Umgang mit Krankheit und Leid eine wichtige Rolle spielt: der Umgang mit dem Schicksalhaften; das Annehmen von Einschränkungen, die Akzeptanz des Unverfügbaren und Nichtmanipulierbaren. Ethik wird sich auch um einen guten Umgang mit dem Schicksalhaften bemühen müssen. Ethische Fragen hängen stets mit Fragen des guten Lebens im Allgemeinen zusammen. Dass es hier einen Bedarf gibt, über Endlichkeit und Grenzen nachzudenken, liegt auf der Hand. Der Umgang mit Schicksalhaftem hat auch mit der Weise, wie wir sprechen, zu tun. Einstellungen können sich auch in der verwendeten Sprache ausdrücken. Der bereits zitierte krebskranke Journalist Tiziano Terzani, der sein Leben lang mit Sprache gearbeitet hat, denkt über diesen Aspekt mit Blick auf die Krebserkrankung nach: „Die Sprache, die diese Krankheit umgibt, ist ja eindeutig eine Kriegssprache, die ich selbst auch anfangs benutzt hatte. Der Tumor ist ein ‚Feind‘, den es zu ‚bekämpfen‘ gilt, die Therapie eine ‚Waffe‘, jede Phase der Behandlung eine ‚Schlacht‘. Die Krankheit wird stets als etwas Äußerliches gesehen, das in uns eindringt und uns Ärger macht und deswegen vernichtet werden muss, eliminiert, vertrieben. Bereits nach einigen Wochen des Umgangs mit der Krebserkrankung begann mir diese Einstellung zu missfallen … Durch das erzwungene Zusammensein sah ich den Tumor immer mehr als inneren ‚Besucher‘, der zunehmend ein Teil von mir wurde … Anstatt auf diesen Krebs in all seinen Inkarnationen loszugehen, war mir eher danach, mit ihm zu reden, mich mit ihm anzufreunden.“18
Die Bilder, die wir für Krankheiten verwenden („Strafe“, „Kriegsgegner“, „Feind“, „Herausforderung“, „Störung“, „Verlust“, „Prüfung“, „Flucht“ etc.) lassen tief blicken. Es ist nicht unwichtig, sich zu fragen, wie wir uns sprachlich an Krankheiten annähern. Es ist auch interessant zu fragen, welche subjektiven „Krankheitstheorien“ wir verfolgen.19 Die Frage, wie wir über etwas und auch mit jemandem sprechen, ist eine ethische Frage. Diesen Handlungsspielraum der Sprache und der Einstellung haben wir auch im Umgang mit Schicksalhaftem.
Die fünf Fragen der Ethik
Man kann auch sagen, Ethik denkt systematisch über fünf Fragen nach:
Was ist ein guter Mensch? (Was macht einen guten Charakter aus?)
Welche Handlungen beziehungsweise Handlungstypen sind gut?
Was ist ein in einem ethischen Sinn gutes Leben?
Was ist eine „gute Institution“?
Was ist eine „gute Entscheidung“?
Wir werden uns im nächsten Abschnitt auch mit der „guten Institution“ und im letzten Abschnitt auch mit der „guten Entscheidung“ beschäftigen. An dieser Stelle ist der Hinweis wichtig, dass bei aller Betonung der Bedeutung von Prinzipien die handelnde und leidende Person nicht umhin kommt, sich als ganzer Mensch in eine Situation einzubringen. Mit anderen Worten: Unseren Charakter tragen wir stets mit uns, den nehmen wir überallhin mit, und gerade im Krankenhaus, wo viele Menschen unter erschwerten Bedingungen auf beengtem Raum Tag und Nacht miteinander verbringen müssen, zeigen sich charakterliche Herausforderungen. Eine Mitarbeiterin auf einer Intensivstation erläuterte in einem Interview:
„Der Kontakt ist extrem nah, ich bin mehr als über den gesunden Abstand beim Patienten … durch die ganzen Kabeln, die ich gleich am Anfang kontrollieren muss, das ist alles im Intimbereich vom Patienten … das ist ständiger Körperkontakt, da ist extreme Nähe da … das ist auch generell ein Thema, dass man zumindest ein bisschen die Privatsphäre wahrt, wobei man gleich beim Temperatursonden-Checken, die liegt in der Leiste … da ist der erste Blick unter die Decke … ich mach es oft mit Schmäh, das ist gleich einmal ein Abchecken, was ist das für eine Persönlichkeit, wie kann ich mit dem reden, wie komme ich zu ihm durch? … Wir haben alles, vom Magister bis zum … eigentlich kommt man schon zum Reden: ,Wo wohnen Sie?‘, etc. Das gefällt ihnen, wenn sie etwas von sich selbst erzählen können. Vielleicht hat man gemeinsame Sachen, beruflich und so.“
Hier zeigen sich Aspekte wie „Humor“, „Gespür für den Menschen“, „Gesprächsfähigkeit“ (soziale und emotionale Intelligenz, Empathiefähigkeit). Humor ist die Fähigkeit, mit Unvollkommenem umzugehen, und auch die Fähigkeit, den Druck aus einer Situation zu nehmen, indem ein „Ventil“ gefunden wird. Das sind Fragen der Persönlichkeit und des persönlichen Wachstums: Du nimmst deine Persönlichkeit mit. Das Überleben hängt mitunter von Kleinigkeiten ab. Der Kardiologe Thomas Meinertz erinnert sich an eine am Bett einer jungen Frau durchwachten Nacht, die wiederholt defibrilliert werden musste. Hatte der Arzt die Kraft, wach zu bleiben? „Mir war völlig klar, eine einzige Unaufmerksamkeit, ein kurzzeitiges Einschlafen meinerseits, ein technisches Versagen des Defibrillators – und alles wäre zu Ende gewesen.“20 Wieder sehen wir die Bedeutung von „Details“ und „Persönlichkeit“, was Gegenstand von kleinen Ethiken ist. Details und Persönlichkeit machen „Alltag“ aus – und um eine „Ethik des Alltags“ soll es uns gehen.
ALLTAG
Alltag ist das, was dem Leben Halt und Struktur gibt; Alltag ist die Gesamtheit der sich täglich wiederholenden Abläufe und der Inbegriff dessen, was wir als „gewöhnlich“ ansehen. Die Frage: „Ist heute etwas Besonderes vorgefallen?“,