das Vermögen, das Leben mit seinen Anforderungen zu bewältigen.
In der sozialen Welt gibt es das Phänomen der „erschöpften Familien“; es handelt sich dabei um Familienkonstellationen, die dem Alltag nicht mehr gewachsen sind: Eltern, die keine Post mehr öffnen, Eltern, die die Kinder nicht mehr in die Schule schicken, Eltern, die lethargisch geworden sind und den Kindern keine Fürsorgehaltung mehr entgegenbringen. In erschöpften Familien kann der Haushalt nicht mehr geführt werden. Aus diesem Grund haben Hilfsorganisationen Programme zur Unterstützung von erschöpften Familien in der Haushaltsführung entwickelt, dabei geht es um vermeintlich triviale Dinge wie das Putzen von Badezimmer und Toilette, die Entsorgung von Müll, das Erledigen von Einkäufen, die Ordnung im Haus. Diese elementaren Aspekte der Lebensbewältigung prägen den Alltag.
Gerade in einer „entrhythmisierten“ Zeit, die hohes Tempo und große Flexibilität abverlangt, ist der Alltag auf vielfache Weise bedroht. Damit geht viel an Lebenssicherheit verloren. Die deutsche Philosophin Hannah Arendt hat den alltäglichen Lebensvollzügen, die viel mit „Arbeit“ zu tun haben, besondere Aufmerksamkeit geschenkt und deren strukturierende Kraft hervorgehoben. Die ungarische Soziologin Agnes Heller hat den Zusammenhang zwischen Alltag und Kreativität beziehungsweise Fortschritt betont.21 Heller war in ihrem Denken von der Überzeugung geleitet, dass die großen Leistungen einer Kultur aus Herausforderungen, Problemen, Konflikten und Bedürfnissen des täglichen Lebens herrühren. Auch Alltag und die Bewältigung des Alltags strukturieren somit maßgeblich unser Leben.
Alltag im Krankenhaus
Fragen von „Alltag“, der Aufbau von Strukturen von Regelmäßigkeit, spielen auch in einem Krankenhaus eine entscheidende Rolle. Beispielsweise sind Kinder, die für einen längeren Krankenhausaufenthalt aus ihrer vertrauten Umgebung herausgerissen werden, traumatisiert und auf die Errichtung eines „Schutzraums“ angewiesen, der innere und äußere Sicherheit bietet. Bezugspersonen und die Etablierung eines Alltags sind hier wichtige Schritte zum Aufbau eines solchen Schutzraums.22 Gerade in Zeiten der Verunsicherung (der Körper lässt aus, die Institution ist fremd, die Zukunft ist ungewiss) geben Alltagsstrukturen als Pfeiler der Verlässlichkeit und Wiedererkennbarkeit Stütze und Halt. Man könnte auch sagen: Alltag zu etablieren – nicht zuletzt über stabile Bezugspersonen – ist wichtiger Teil einer Ethik des Krankenhausalltags.
Gleichzeitig gehört zu einer „Ethik des Alltags“ auch die hilfreiche Unterbrechung des Alltags. Viele Patient/inn/en erleben den Alltag als „lang“ und „langweilig“. Im oft eintönigen Tagesablauf empfinden sie die Zeit, die andere Menschen ihnen bewusst zur Verfügung stellen und mit ihnen verbringen, als besonders wertvoll. Insbesondere die Zeit während der Besuche von Freunden und Verwandten (von sogenannten „intimates“) gilt als kostbar, was sich darin zeigt, dass Patient/inn/en versuchen, diese Zeit ganz bewusst zu verbringen.23 Diese Momente des Austauschs und der Begegnung mit anderen – zum Teil finden sie auch zwischen den Patient/inn/en statt – bewirken nach einigen Erfahrungsberichten ein „schnelles Verstreichen der Zeit“, das im Gegensatz zur Trägheit und Schwere des üblichen Krankenhausalltags steht. Für Patienten, die ans Bett gefesselt sind und darüber hinaus wenig Besuch von Angehörigen erhalten, ist es naturgemäß am schwersten, die erwähnten Momente der Abwechslung zu erleben.
Hier ist die Frage nach der kreativen Alltagsdurchbrechung, nach Feierkultur und Ausnahmeregelungen zu stellen. Peter von Matt hat in seiner Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele 2012 die Bedeutung von „Freiheit“ und „Überfluss“ für das Fest hervorgehoben. Menschliches Leben findet dort statt, wo auch Alltag unterbrochen und gefeiert werden kann. Es war Aristoteles, der auf die Bedeutung dieser Freiheit hingewiesen hat: „Überall den Nutzen zu suchen, passt nicht für den Hochgemuten und für den Freien.“24 Nach einem Gedanken von Matthew Fox ist es ein Zeichen von Gemeinschaftskultur, wenn Menschen miteinander feiern können. Oder anders gesagt: Man erfährt viel über eine Gemeinschaft, wenn man den Blick darauf richtet, wie sie den Alltag gestaltet, aber auch durchbricht.
Eine Ethik für den Krankenhausalltag wird sich deswegen auch die Frage nach „Ausnahmen von Regelungen“ stellen. Ein Beispiel:
„Die Nachtschwester hat sich daran gewöhnt, dass in meinem Zimmer meist das Licht brennt. Sie kommt auf ihren Runden stets auf einen Sprung herein, und während sie die Leintücher strafft und die Kissen aufschüttelt, plaudern wir ein wenig über das Buch, in dem ich gerade lese, oder über die Gedanken, die einem so kommen, wenn einen der Schlaf flieht. Doch die Gespräche bleiben meist nur Fragmente, weil nach kurzer Zeit schon die rote Suchlampe zu blinken beginnt. Dann huscht meine Gesprächspartnerin, eine Entschuldigung murmelnd, eilends in den stillen Korridor hinaus, um einem anderen Patienten auf der Abteilung Hilfe zu bringen. Dennoch freuen mich diese nächtlichen Visiten. Sie unterbrechen die Stille der langen Stunden und sind echte menschliche Begegnungen.“25
Es geht also um Alltag mit seiner Verlässlichkeit und seinem Schutz und auch um die Durchbrechung und Unterbrechung dieses Alltags. Nun stehen wir vor der Aufgabe, allgemeines ethisches Nachdenken mit den Herausforderungen des Alltags zusammenzubringen. Ethisches Nachdenken über gutes Leben stellt eine Fundamentalfrage: Worum soll es überhaupt gehen, wenn wir über „gutes Leben“ nachdenken? An welchen Punkten sollen wir uns orientieren? Welche „moralischen Güter“ sollen geschützt werden? Sie machen „gutes Leben“ in einem ethischen Sinn erst möglich. Die Menschenrechtskataloge beispielsweise enthalten eine Vielzahl von direkten wie indirekten Aussagen über moralische Güter. Woran sollen wir uns halten? Oder auch: Welche moralischen Güter sollen im Krankenhausalltag hergestellt werden? Ich möchte im Folgenden drei nennen, an denen wir uns im Krankenhausalltag orientieren sollten:
Menschenwürde und Selbstachtung,
Gemeinschaftsordnung,
Menschlichkeit.
Menschlichkeit im Beruf leben
Am ausführlichsten will ich mich dem ersten Punkt „Menschenwürde und Selbstachtung“ zuwenden. Bevor dies diskutiert wird, einige Bemerkungen zu „Gemeinschaftsordnung“ und „Menschlichkeit“. „Menschlichkeit“ ist die Fähigkeit, den Menschen als Menschen zu sehen. Susan Spencer-Wendel erinnert in ihrer eigenen Krankheitsgeschichte an den Unterschied von „technischer Perfektion“ und „Menschlichkeit“: Nach ihrer ALS-Diagnose wurde sie in eine auf ALS spezialisierte Klinik in Miami aufgenommen. Eine Messung nach der anderen wurde durchgeführt, ein Kurzgespräch folgte dem anderen, Spezialistinnen und Spezialisten aus verschiedenen Disziplinen begutachteten sie. Es war technisch perfekt, nur … „This was a cattle call, not treatment“, „Sie messen mich zu Tode“26 … Susan Spencer-Wendel setzte keinen Fuß mehr über die Schwelle dieses hoch angesehenen und bestausgestatteten Krankenhauses. Es fehlt an Menschlichkeit, an jenem Blick auf den besonderen Menschen als besonderen Menschen.
„Menschlichkeit“ ist auch die Fähigkeit, nicht in die Falle der „Menschenblindheit“ zu tappen, die der israelische Philosoph Avishai Margalit beschrieben hat.27 Menschenblindheit ist die Unfähigkeit, Menschen als Menschen zu sehen, und zeigt sich darin, dass Menschen wie Objekte behandelt werden. Anna Sam hat in der Schilderung ihrer mehrjährigen Erfahrungen als Kassiererin in einem Supermarkt die Dynamik beschrieben, selbst wie eine Sache, wie ein Gegenstand behandelt worden zu sein.28 Sie identifiziert die Kundinnen und Kunden als die größte Belastung und als Eintrittsstelle für Erniedrigung in diesem Beruf. Sie hat als Supermarktkassiererin die Menschenblindheit der Kundinnen und Kunden beschrieben, die die Interaktion mit der Kassiererin in vielen Fällen ohne Blickkontakt abwickelten. Die Dame an der Kassa wird zum Teil des Objekts „Kassa“ und nicht mehr als Mensch wahrgenommen.
„Menschlichkeit“ ist eine Kultur, die den besonderen Menschen noch als besonderen Menschen sehen lässt. In einem Krankenhaus bedeutet dies etwa, dass ein Patient nicht nur ein Mensch mit Gesundheitsproblemen ist, sondern auch eine unverwechselbare Person mit einzigartigen Eigenschaften, dass eine Patientin nicht nur eine Kostenstelle ist, sondern auch ein Mensch mit Innenleben und Geschichte. Realistischerweise ist es im Alltag des Krankenhauses nicht immer und überall möglich, den ganz besonderen Menschen zu sehen, aber es mag hilfreich sein, dann und wann innezuhalten und sich vor Augen zu führen: