sollten sich vergegenwärtigen: Hier arbeiten Menschen!
Ina Yalof erzählt ein berührendes Beispiel von Menschlichkeit aus dem „Columbia Presbyterian Medical Center“ in New York. Eine offensichtlich unter massiven Herzproblemen leidende Frau schleppte sich, ihre kleine Enkeltochter auf dem Arm, ins Krankenhaus und wurde sofort notversorgt. Das kleine Mädchen blieb im Warteraum sitzen, wurde immer ungeduldiger und fragte schließlich den anwesenden Sicherheitsbediensteten: „Meine Oma hat mir versprochen, mir etwas von McDonald’s zu kaufen. Können Sie bitte hineingehen und ihr sagen, dass sie endlich kommen soll?“ Der Mann ging zu einem durch einen Vorhang abgetrennten Bereich, spähte hinein und sah, wie Ärzte und Schwestern fieberhaft an der Dame arbeiteten. Er zögerte, ging zurück zum Wartebereich, kniete sich vor dem Mädchen hin, dass er auf Augenhöhe mit ihr war, griff in die Tasche und holte eine Handvoll Münzen hervor, gab sie dem Mädchen und sagte: „Deine Oma will, dass du da hinten in der Cafeteria etwas zu essen für dich besorgst. Und dann kommst du gleich wieder zurück und wartest hier auf sie.“29 Das ist ein Zeichen von Menschlichkeit. Hier wurde ernstgenommen, dass wir es in einem Krankenhaus mit Menschen zu tun haben, die ein- und ausgehen.
Jede Gemeinschaft braucht Ordnung
Das moralische Gut der Gemeinschaftsordnung bezieht sich auf die Idee, dass ein Krankenhaus nach bestimmten Regeln abläuft, um „auf Dauer und im Ganzen“ gut funktionieren zu können. Ein Krankenhaus braucht Ordnung. Diese Ordnung ist im Interesse des Ganzen zu schützen; es kann nicht sein, dass eine Patientin eine ganze Abteilung „in Geiselhaft“ nimmt oder dass ein Patient ein Mehrbettzimmer rücksichtslos dominiert. Florian Teeg beschreibt einen Patienten, der Schmerzen hatte und ein Schmerzmittel verlangte – unter Umgehung aller Prozeduren: „Ich bring dich gleich um, du Idiot, wenn du mir nicht gleich was gibst! Gibt es denn in diesem Krankenhaus nirgends einen richtigen Arzt?“30 Es war derselbe Patient, der die Mitpatienten in seinem Zimmer tyrannisierte und das Personal durch ständige Sonderwünsche irritierte. Hier gilt der Hinweis auf die Notwendigkeit einer für alle verbindlichen Ordnung im Sinne der Sicherung des Ganzen, ein Hinweis, der auf möglichst alltagstaugliche Weise umgesetzt werden sollte. Erinnern wir uns an John Rawls: Auf welche Art von Krankenhaus würden wir uns verständigen, wenn wir unter einem Schleier des Nichtwissens zusammenkämen?
Neben der Verpflichtung auf größtmögliche Freiheiten wird wohl auch die Idee einleuchten, dass ein Krankenhaus seinen Auftrag bestmöglich erfüllen können muss. Und dieser Auftrag hat Aspekte, die eine Gemeinschaft als Ganze berühren. Menschen sind als soziale Wesen auf eine Sozialstruktur angewiesen, die mindestens Sicherheit und in einem anspruchsvolleren Sinn Zugang zu eigenen Fähigkeiten ermöglicht. Man könnte unter gesellschaftlicher Wohlordnung die Strukturiertheit eines Gemeinwesens verstehen, das von drei Eigenschaften getragen ist:
Es weist ein Regelwerk mit Stabilität und Spielraum auf,
es ist identifizierbar und weist die Fähigkeit zur lokalen Verdichtung auf,
es ermöglicht Zugang zu Quellen von Selbstachtung.
Diese drei Eigenschaften ergeben sich aus folgenden Überlegungen: Ohne Regelwerk, das der Verhaltensabstimmung dient, kann eine Gemeinschaft nicht überleben; ohne die Anpassung des Regelwerks an besondere und lokale Gegebenheiten geht es ins Leere – gerade deswegen sind Überlegungen in Richtung einer „kleinen Ethik für den Krankenhausalltag“ sinnvoll. Und: Selbstachtung wird als entscheidendes Gut identifiziert, das wir im Krankenhaus, wo wir es mit besonders verwundbaren Menschen zu tun haben, schützen wollen. Das bringt uns zum nächsten Punkt.
Die Selbstachtung
Das vielleicht entscheidende moralische Gut, das im Alltag eines Krankenhauses zu schützen ist, ist das Gut der Selbstachtung. Selbstachtung stellt im Kontext eines Krankenhauses ein gefährdetes Gut dar. Eine Sozialarbeiterin sagte im Interview:
„Manche regredieren regelrecht und … nehmen alles hin, was passiert. Sie übernehmen nicht mehr die Verantwortung für das, was passiert … sie fragen nicht nach. Viele fühlen sich sehr ohnmächtig … Sehr wenige trauen sich, nachzufragen … und manche fallen dadurch auf und werden unbequem … diese Abläufe im Krankenhaus … das stresst sie wahnsinnig.“
Durch Regression und Resignation wird Selbstachtung nicht gerade gefördert. Gerade auch aus diesem Grund wird man die Verantwortung der Patient/inn/en betonen. Ebenso entscheidend sind Möglichkeiten der Selbstgestaltung und die Schaffung bestimmter Schutzzonen. Das wichtige Wort, das in diesem Zusammenhang gerne genannt wird, um ethische Ziele zu formulieren, ist der Begriff der Menschenwürde. Ein Krankenhaus ist so zu gestalten, dass es Respekt vor der Würde des Menschen ausdrückt. Der Begriff der Würde schillert allerdings zwischen drei Bedeutungen: „würdig sein“ (Fest, Würdenträger, Kleidung); Würde im Sinne von sozialer „Ehre“ (die wiederum abgestuft und verwirkbar ist) und schließlich Würde im Sinne von „Menschenwürde“ (die nach unserem Verständnis unveräußerlich und für alle Menschen immer gleich ist).
In der Alltagssprache wird „Menschenwürde“ häufig als eine Form der besonderen „Ehre“ aufgefasst, was aber gefährlich ist, weil es im Unterschied zur sozialen Ehre für die Menschenwürde charakteristisch ist, dass sie nicht sozial abgestuft ist. So muss immer wieder daran erinnert werden, dass Würde eben nicht „Ehre“ ist, sondern tiefer geht. Das macht den Begriff etwas sperrig. Der Begriff der Menschenwürde ist auch deswegen sperrig, weil er so „pompös“ klingt, bei feierlichen Anlässen bemüht wird und wir nicht wirklich wissen, was wir mit dem Begriff im Alltag anfangen sollen.
Against all odds
Ich möchte drei Vorschläge für eine ethische Selbstvergewisserung machen. Erstens sollte der Umgang mit Menschen unter widrigen Umständen als Lackmustest für Menschenwürde angesehen werden (nennen wir das „decency in adversity“), also die Frage, ob Menschen auch unter erschwerten Rahmenbedingungen anständig behandelt werden. Man wird also mit besonderer Sensibilität auf solche widrige Umstände achten, zum Beispiel im Umgang mit Menschen, die nicht Deutsch als Muttersprache haben, im Umgang mit Menschen, deren Geisteskraft stark eingeschränkt ist, im Umgang mit Menschen, die als Wohnungslose zu den schwächsten Mitgliedern einer Gesellschaft zählen. Ethisch sensibel ist ein Kontext dann, wenn er die Würde jeder beteiligten Person in den Mittelpunkt rückt, insbesondere die Würde derjenigen, die darin besonders verletzbar sind. Ethik zeichnet sich also durch eine besondere Option für die „schwächere“ Partei aus. Ethisch handeln heißt also mit Blick auf den Respekt vor der Würde gerade auf den Umgang mit den verwundbarsten Mitgliedern einer Gesellschaft zu achten.
Menschenwürde und Intimsphäre
Zweitens möchte ich vorschlagen, in elementaren Lebensvollzügen (Gestaltung von Zeit und Raum, Schlafen, Essen und Trinken, Waschen, Ausscheiden) sensible Stellen, an denen Entwürdigung auftreten kann, zu sehen. Gerade für eine kleine Ethik des Krankenhausalltags ist diese Frage eine Einladung, sich Gedanken darüber zu machen, wie solche Abläufe möglichst würdesichernd gestaltet werden können – hier stellen sich konkrete Fragen wie: In welchen Abständen wird in einem Mehrbettzimmer die gemeinsame Toilette gereinigt? Wie kann man die Geräuschs- und Geruchsbelästigung von Mitpatient/inn/en durch die Toilettenbenutzung (was gleichzeitig für viele eine Hemmschwelle beim Ausscheiden ist) reduzieren? Wie kann guter Schlaf in einem Krankenhaus gesichert werden?
Dass wir es hier mit einem sensiblen Bereich zu tun haben, ist nicht von der Hand zu weisen. Menschen schlafen in der Regel in einem Krankenhaus nicht so gut wie daheim: „Schlaf“ ist im Krankenhaus ein heikles Thema. Das betrifft das Personal, bei dem guter Schlaf durch häufige Nachtschichten, durch Überarbeitung und Stress zur Mangelware werden kann. Das betrifft aber auch den Ort des Krankenhauses selbst: Im Rahmen des Krankenhausbetriebs ist es fast zwangsläufig so, dass auch in der Nacht keine vollständige Ruhe garantiert werden kann. Eine Metastudie31 untersuchte die Schlafqualität auf Intensivstationen und getestete Methoden zur Verbesserung der Schlafqualität. Sie schließt, dass die Schlafqualität vieler Patient/inn/en im Krankenhaus eher schlecht ist, dass aber verschiedene Formen der Intervention möglich sind. Diese reichen von Ohrstöpsel, der Vermeidung von lauten Geräuschen