Ilka Sokolowski

Die heimliche Geliebte


Скачать книгу

machte, manche Leichen waren distinguierter als andere. Aufgrund seiner Kleidung wirkte der Tote irgendwie seriös. Leo war beinahe geneigt, ihm seine Anwesenheit auf ihrer Türschwelle und die Scherereien, die daraus unweigerlich entstehen würden, nachzusehen. Sicher gab es eine vernünftige Erklärung dafür.

      Vielleicht steckte sie in dem Stückchen Papier, das zwischen der straff gespannten Weste und dem Seidenfutter der Jacke hervorlugte. Es war ein einfacher linierter Zettel, am oberen Rand zerfranst; |10|offenbar aus einem Notizbuch herausgerissen. Professor Heller stand darauf, einmal unterstrichen. Der Zettel war für ihren Onkel.

      Ohne zu überlegen, bückte sie sich und zog das Blatt hervor.

      ***

      |11|Wiedensahl, im Sommer 1841

       Sie denken, ich wüßte nichts. Sie denken, sie könnten sich hinter meinem Rücken einfach so davonschleichen. Glauben mir keine Erklärung schuldig zu sein. Fragen mich nicht, ob mir recht ist, was geschieht. Haben sie Wilhelm gefragt?

       Ein grausamer Tag. Wilhelm ist fort. Weit vor Tagesanbruch brachen sie mit dem alten Leiterwagen auf. Der Wald stand noch dunkel, voller Nachtgeheimnisse, und sie fuhren mitten hinein. Die Großmutter war dabei und die Krämerin Busch, und seine Brüder Gustav, Adolf und der kleine Otto, alle ganz vergnüglich und munter, daß mir in meinem Heckenversteck schier das Herz zerspringen wollte. Und wie lange es dauerte, bis endlich die ersten verfrühten Vogelstimmen den Tag ankündigten. Doch anstatt mich zu trösten, wollte mir scheinen, sie sängen ein Spottlied.– Wie können sie das tun? Ihn einfach fortbringen? Von Heinrich, dem Knecht, weiß ich, wohin die Reise gehen wird. Nach Ebergötzen, sagte er wichtig, zum Onkel. Ebergötzen, wo ist das? habe ich gefragt.– Weit von hier. Drei Tagesreisen! Unterricht soll er dort bekommen, vom Pastor persönlich, dem klugen Onkel Kleine. Nein, für den Kramerssohn ist unsere Dorfschule hier nicht mehr gut genug, er soll etwas Beßres werden.– Oh, natürlich soll er das, doch was wird nun mit mir? Ich werde ihn nicht mehr sehen, ihn nicht hören, kann nicht mehr mit ihm sprechen – ganz fremd wird er mir werden! Ich muß ihm schreiben, gleich heute noch. Unser Bund muß halten!

      -2-

      Zuerst war der Notarzt da, dann kam der Streifenwagen mit einem älteren, ziemlich dicken Polizisten und einer jungen Frau, deren Dauerwelle beängstigend steif unter der Uniformmütze hervorstand.

      Während der Arzt nur noch den Tod feststellen konnte und die Polizistin schon einmal anfing, Leos Personalien aufzunehmen, durchsuchte ihr Kollege die Jacke des Toten; vermutlich nach einem Ausweis oder Führerschein oder etwas anderem, das einen Hinweis auf seine Identität geben konnte.

      |12|Der Polizist musste fündig geworden sein, denn er stieß einen kurzen Pfiff aus, drehte der offenen Tür, durch die Leo ihn beobachtete, den Rücken zu und schnaufte etwas in sein Mobiltelefon.

      Es dauerte keine zehn Minuten, dann kam er. Und er schien einen besonderen Status zu haben, dem dienstbeflissenen Eifer nach zu urteilen, mit dem Arzt und Polizisten ihm den Stand der Dinge mitteilten.

      Leo konnte ihn auf Anhieb nicht leiden. Vielleicht lag es an dem verklärten Leuchten, das bei seinem Anblick über das Gesicht der Beamtin huschte, vielleicht auch an der Art, wie er Leo zunächst ignorierte. Er äußerte etwas im Ton einer Bitte und die Beamtin verschwand.

      Leo hatte auf einem der Umzugskartons gehockt und war höflich aufgestanden, um ihn zu begrüßen. Das bereute sie sofort. So konnte sie sich höchstens mit dem obersten Hemdknopf ihres Gegenübers unterhalten. Er überragte sie um mehr als Haupteslänge und hatte nicht einmal den Anstand, rasch und unauffällig Platz zu nehmen.

      Also setzte Leo sich. Jetzt war es noch schlimmer, statt des Hemdknopfs hatte sie die Gürtelschnalle in Augenhöhe.

      Draußen tauchten indessen immer mehr Männer auf. Einige trugen weiße Overalls und Metallkoffer, andere einen Sarg. Blitzlichter flammten auf, als der Tote fotografiert und dann auch noch ihre Haustür, die Fußmatte, das Treppenhaus in allen Einzelheiten festgehalten wurden.

      »Sie haben den Toten gefunden?«

      »Ja«, sagte Leo zu der Gürtelschnalle.

      »Kennen Sie ihn?«

      »Nein. Wir kennen uns, glaube ich, auch noch nicht.«

      Irritiert blickte er zu ihr herunter. Sie bemerkte den Bartschatten auf seinen Wangen und dem Kinn, der eine Spur dunkler als der Rotton seiner Haare war. Sein Gesicht war blass, die Schultern hingen schlapp nach vorn. Er machte einen übermüdeten Eindruck |13|und sah aus, als ob er in seinen Kleidern geschlafen hätte. Leo schnüffelte. So roch er auch.

      »Entschuldigen Sie.« Er fuhr sich mit einer Hand über die Augen. »Ich bin seit fast achtundvierzig Stunden im Dienst, und ich fürchte, irgendwann in dieser Zeit ist mir der Sinn für Umgangsformen verloren gegangen.«

      Er fummelte in seiner Jacke herum und hielt ihr dann einen Dienstausweis vor die Nase.

      Martin Sandved, las sie. Hauptkommissar.

      »Und Sie sind …?« Er warf einen Blick auf den Zettel, den ihm die Polizistin in die Hand gedrückt hatte.

      »Leonore Heller«, ergänzte Leo, die im wahren Leben natürlich niemals Leonore hieß. Der Name passte zu manikürten Frauen mit sorgfältig frisierten Haaren, aber nicht zu ihr. Auf ihrem Kopf saß keine schicke Frisur, sondern ein dichter Mopp aus zauseligen dunklen Haaren, und ihre Fingernägel hätten auch eine hartgesottene Kosmetikerin zum Weinen gebracht. Nach ihrem Beruf gefragt, pflegte Leo zu sagen: Gärtnerin. Das verstand jeder, und sie musste nicht erklären, womit sich Gartenarchitekten die Arbeitszeit vertrieben. Das antwortete sie auch dem Kommissar, als er fragte. Obwohl es nicht ganz stimmte. Schließlich war sie arbeitslos, aber das ging ihn nichts an.

      Die Polizistin mit der wippenden Dauerwelle tauchte mit einem Becher Kaffee auf. »Vom Chinesen unten. Ich hoffe, er taugt was«, sagte sie mit dem Lächeln einer besorgten Hausfrau, bevor sie sich wieder zu ihrem Kollegen ins Treppenhaus gesellte, wo inzwischen einer nach dem anderen die Mitglieder der chinesischen Familie unauffällig wie Schatten auftauchten und wieder fortgescheucht wurden.

      Sandved nahm den Becher mit einem zerstreuten Nicken entgegen. Offenbar war er es gewohnt, dass jeder und insbesondere jede auf ein Wort von ihm herumsprang. Er probierte einen Schluck. Mit Genugtuung beobachtete Leo, wie er das Gesicht verzog.

      Mittlerweile waren die Männer draußen dabei, den Toten in |14|einer Plastikhülle mit Reißverschluss zu verpacken. Als sie ihn zu viert anhoben, gerieten für einen Moment seine Beine in Sicht. Für einen so gut gekleideten Mann hatte er bemerkenswert dreckige Schuhe, dachte Leo.

      »Kannten Sie den Toten?«, fragte Sandved, dem ihr Blick nicht entgangen war.

      »Nein.«

      Er pustete in seinen Kaffee. »Erzählen Sie mir noch mal genau, was passiert ist.«

      Leo sah in aufmerksame braune Augen, die in irritierendem Widerspruch zum müden Gesicht des Kommissars standen. Also die Geschichte noch einmal von Anfang an. Bitte sehr. Das konnte sie inzwischen ganz gut, denn sie hatte sie bereits der Polizistin und dann dem Arzt erzählt.

      Der klopfte gegen den Türrahmen, als Leo ihren Bericht gerade ein drittes Mal beendete. »Martin? Wir bringen ihn jetzt in die Pathologie. Ich tippe auf ordinäres Herzversagen. Genaueres kann ich dir frühestens morgen Nachmittag mitteilen.«

      Sandved entließ den Arzt mit einem kurzen Nicken und wandte sich wieder Leo zu.

      »Also noch einmal: Sie haben den Toten nie vorher gesehen?«

      Schwer von Begriff, dachte Leo. »Wie ich schon sagte, ich kenne ihn nicht. Aber ich rate jetzt einfach mal, dass er für Sie kein Unbekannter ist – ich meine, so eilig, wie Ihr uniformierter Kollege Sie herbeitelefoniert hat.«

      Sandved beugte sich so plötzlich vor, dass sein Kaffee überschwappte. Er stützte sich auf die Kartons,