Frau Heller. Und ich verrate Ihnen noch etwas: Ein Kommissar des LKA taucht nicht ohne Grund auf, schon gar nicht, wenn er eigentlich seit Stunden Feierabend haben sollte.«
Diesmal blickten die braunen Augen ziemlich gereizt. Leo beschloss, etwas weniger widerborstig zu sein.
|15|Mit einem Seufzen richtete sich Sandved wieder auf.
»Der Tote ist Anton Jablonsky, ein Antiquar und Kunsthändler, Experte für Bücher und Handschriften«, erklärte er zwischen zwei Schlucken Kaffee, bevor er das Gebräu endgültig beiseite stellte. »Wir haben seit geraumer Zeit den Verdacht, dass er in Geschäfte mit der Kunstmafia verwickelt ist … war«, verbesserte er sich. »Jablonsky hat bereits vor ein paar Jahren wegen Betrugs und Dokumentenfälschung gesessen. Danach verhielt er sich unauffällig. In letzter Zeit allerdings gab es Anzeichen, dass er auf seinem Fachgebiet wieder aktiv werden wollte.«
»Sie meinen, er fälschte alte Dokumente und verkaufte sie? So wie dieser Typ mit Hitlers Tagebüchern?« Das Ganze begann Leo zu interessieren.
Sandved tigerte inzwischen auf einem akkuraten Parcours zwischen den Kartons entlang, die Leo sorgfältig beschriftet hatte. In solchen Dingen entwickelte sie zuweilen eine sie selbst überraschende Ordnungsliebe. Drei Schritte bis zu »Regenkleidung, Gummistiefel, Bergschuhe«, eine Kehrtwende um »Werkzeug, Bohrmasch., Schraubensort«. Die Fachbücher ließ er links liegen, und den Zeitschriften gönnte er nur einen kurzen Blick. Weder das Magazin für den Gartenbauprofi noch Thalackers Allgemeine Samen- und Pflanzenofferte schienen ihn sonderlich zu fesseln.
»Jablonsky fälschte und handelte mit Fälschungen«, sagte Sandved und blieb bei den Gummistiefeln stehen. »Aber auch mit wertvollen Originalen, deren Herkunft im Dunkeln liegt. Durch Jablonskys Hände sind Millionenbeträge gewandert. Und da wüsste ich doch gern, warum dieser Mann jetzt tot vor Ihrer Tür liegt. Was wollte er von Ihnen?«
»Das frage ich mich allerdings auch«, stimmte Leo zu.
»Wer wohnt sonst noch hier?«
»Wenn sich Ihre Frage auf diese Wohnung bezieht: Niemand außer mir. Falls Sie das Haus meinen – keine Ahnung.«
»Was soll das heißen?«
Leo breitete die Hände aus, eine Geste, die in der Regel auch |16|erschöpfte rothaarige Kommissare verstanden. Sie zählte an den Fingern ab: »Ich kenne nur Wang Li, den Chinesen unten vom Imbiss, und zwei oder drei Mitglieder seiner Familie, allerdings alle nur vom Sehen. Sie bewohnen den gesamten ersten Stock. In der Etage unter mir lebt vermutlich ein Mann mit Hund. Die Wohnung daneben – sie liegt unter dieser – steht seit mindestens vier Tagen leer. So lange wohne ich jetzt hier, und ich habe noch keinen Laut gehört, nicht mal das Rauschen einer Wasserleitung. Abgesehen von dem Hund ist mir im Haus noch niemand begegnet.«
Sandved horchte auf. »Sie sind neu hier? Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?«
»Sie haben mich nicht gefragt«, erklärte Leo liebenswürdig.
»Wer hat vor Ihnen hier gewohnt?«
»Mein Onkel. Er ist vor kurzem gestorben und hat mir die Wohnung vermacht.«
Sandved sah sich mit neuer Aufmerksamkeit um, als nähme er erst jetzt das Chaos aus Kartons und Kisten wahr. Nicht, dass es besonders viele waren, aber sie reichten, um das Wohnzimmer, in das man von der Eingangstür gleich trat, ziemlich vollzustellen. Leo verzichtete auf den Hinweis, mit dem Auspacken noch nicht sehr weit gekommen zu sein. Aber ihr entging nicht, wie er die Wände musterte, die durchaus einen neuen Anstrich hätten vertragen können. Sie hatte dazu eben keine Zeit gehabt! Sandveds Augen wanderten über den abgetretenen Teppich, der auf dem Fußboden lag. Wahrscheinlich fand er die Wohnung so schäbig wie das ganze Haus. Sollte er. Gleichgültig, wie der Rest des Hauses aussah: In Leos Augen war Onkel Ludwigs Wohnung ein Traum. Jetzt konnte sie statt eines winzigen möblierten Zimmers drei schöne Räume und Unmengen von Büchern ihr Eigen nennen, die Onkel Ludwig ihr ebenfalls hinterlassen hatte. Doch das wahre Glanzstück dieser Wohnung war der große Dachbalkon, und irgendwann würde Leo ihn vielleicht sogar genießen können. Vorerst stand sie ihm noch mit gemischten Gefühlen gegenüber, denn hier |17|hatte sich Onkel Ludwig vom Leben verabschiedet. Doch das war eine andere Geschichte.
Edwina jedenfalls würde sich wohlfühlen, wenn sie im Sommer draußen sein durfte. Edwina war Leos selbst gezüchtete Kletterrose, ein prachtvolles Stück und ihr ganzer Stolz. Sandved beachtete sie gar nicht und strich stattdessen an der Bücherwand am Ende des Zimmers entlang.
»Sie haben eine ausgeprägte Leidenschaft für Wilhelm Busch, wie ich sehe.«
»Nicht ich, mein Onkel. Er war Literaturprofessor, seit einigen Jahren emeritiert.«
Sandved blieb stehen. Sie konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete.
»Wir reden hier nicht zufällig von Ludwig Heller, dem Busch-Experten? Professor Ludwig Heller war Ihr Onkel?«
Leo erwiderte seinen überraschten Blick ebenso verblüfft. Sie hatte nicht geahnt, dass selbst dieser Kommissar etwas mit Onkel Ludwigs Namen anzufangen wusste. Dann fiel ihr ein, dass 2008 ein Busch-Jubiläumsjahr war. Anlässlich seines hundertsten Todestages hatte man Wilhelm Busch allerorten in den Mittelpunkt von Ausstellungen, Veranstaltungen und Vorträgen gehoben, und in diesem Zusammenhang war Ludwigs Name natürlich immer wieder genannt worden. Festreden, Interviews, Ausstellungseröffnungen; Leo hatte ihren Onkel ein paar Mal in der Zeitung und einmal auch in den Fernsehnachrichten entdeckt.
»Wenn ich mich recht erinnere, war er die meiste Zeit in Hamburg. Ich habe einige seiner Vorlesungen besucht, aber das ist schon Jahre her«, sagte Sandved.
»Sie werden ja wirklich gründlich ausgebildet bei der Polizei.«
Er zuckte mit den Schultern und zog einen Band aus dem Regal.
»Das war davor. Ich dachte eine Zeit lang daran, Lehrer zu werden und ins Ausland zu gehen. – Was wollte Anton Jablonsky von Ihrem Onkel?«
|18|Es dauerte einen Moment, bis Leo begriffen hatte, was er damit andeutete. Ihr wurde heiß vor Empörung.
»Das ist nicht Ihr Ernst! Nie im Leben hätte sich mein Onkel mit zwielichtigen Typen eingelassen. Wirklich, das ist absurd.«
Irgendwo in Leos Hinterkopf tauchte unscharf eine andere Stimme auf, die sie an etwas erinnern wollte. Sie sperrte sie aus.
»Nein«, sagte sie so ruhig sie konnte, »Onkel Ludwig hatte mit Sicherheit kein Interesse an fragwürdigen Geschäften. Ich weiß wirklich nicht, wie Sie darauf kommen.«
»Ach, was muss man oft von bösen Buben hören oder lesen …«
»Hören Sie auf«, sagte Leo ärgerlich.
Sandved zog einen weiteren Band heraus. »An alten Erstausgaben wie dieser hier war Ihr Onkel offensichtlich schon interessiert.«
Sie zuckte die Achseln. Es machte sie verlegen, nicht einmal zu wissen, was für Bücher da eng gedrängt Einband an Einband standen.
»Wilhelm Busch, die Kritik des Herzens. Die Erstausgabe von 1874 ist auf dem Markt kaum noch zu bekommen.« Sandved blätterte ungläubig in dem Buch, als hielte er eine Kostbarkeit in den Händen.
Draußen auf dem Flur war Ruhe eingekehrt, nur die beiden Polizisten warteten weiterhin auf dem Treppenabsatz. Leo hatte den Eindruck, dass ihre Ohren stark in ihre Richtung gespitzt waren.
Sandved stellte das Buch sorgsam zurück an seinen Platz. »Sie scheinen nicht besonders informiert zu sein.« Sein Lächeln ließ offen, ob er Onkel Ludwig oder Leos Allgemeinbildung meinte. »Wie lange, sagten Sie, ist Professor Heller bereits tot?«
Mistkerl, dachte Leo. Ich habe dir gar nichts gesagt.
Sie wartete einen Moment, bis sie einigermaßen sicher war, dass ihre Stimme sich nicht in die Höhe schrauben würde, dann antwortete sie.
»Seit zwei Wochen.«
»Und vor vier Tagen sind Sie hier