Ilka Sokolowski

Die heimliche Geliebte


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folgende Wort konnte sie nicht entziffern. Wo der Bleistift sich in das Papier gebohrt hatte, klaffte eine Lücke. Die letzten Buchstaben waren unvollständig ausgeführt; ein unleserlicher Kringel, ein t oder l.

      Für Leo ergab es keinen Sinn. Nicht viel besser das nächste Wort: Nach der ersten Silbe war der Bleistift in einer flüchtigen Linie weitergehastet, so wie man schreibt, wenn man kleine Buchstaben einsparen will. Erst zum Schluss hatte sich die Schrift wieder gefangen. Auffällig das Wort »Backstube«, leserlich und in Anführungsstrichen offenbar zuletzt hinzugefügt. Eine Uhrzeit: Drei Uhr am Nachmittag. Ein Pfeil, der Großbuchstabe C, dick unterstrichen.

      Was sollte sie damit nun beginnen?

      Ein Datum, ein Ort. Ein Treffpunkt? Was bedeutete dieser Pfeil? Und das C?

      Vielleicht die Abkürzung für ein Café, dachte Leo. Das war das Einzige, was ihr im Zusammenhang mit einer Backstube in den Sinn kam. Nur wollte ihr nicht so recht einleuchten, was ihr Onkel dort zu suchen hatte. Denn dass diese Notiz für ihn bestimmt war, bezweifelte sie nicht. Der Antiquar hatte offenbar nicht gewusst, dass Onkel Ludwig tot war, sonst wäre dieser Tag ganz anders verlaufen, dachte Leo bedauernd.

      Aber Jablonsky hätte nicht erst einen Zettel schreiben müssen, wenn er vorhatte, ihn persönlich vorbeizubringen. Oder es war gar nicht Jablonsky selbst, der sich mit Onkel Ludwig treffen wollte. Vielleicht war er nur der Überbringer.

      Leo kam ein Gedanke. Sie zog eine Schreibtischschublade nach der anderen auf. Wo hatte sie es nur hingelegt? Irgendwo musste es |24|sein, Onkel Ludwigs altes Adressbuch. Ein kleines, in weinrotes Leinen gebundenes Büchlein, nicht besonders dick, eigentlich sogar erstaunlich schmal für einen Professor mit vielfältigen Kontakten und Verbindungen. Leo war sich sicher, dass sie es nicht weggeworfen und auch nicht mit Ludwigs umfangreichen schriftlichen Unterlagen in den Keller gepackt hatte. Sie hatte es aufbewahrt, weil sie nicht wusste, ob sie Danksagungen auf die Kondolenzbriefe verschicken sollte. So viele waren dann gar nicht gekommen. Offenbar wusste kaum jemand, dass es eine Hinterbliebene gab.

      Hinterbliebene. Schauderhaftes Wort, dachte Leo.

      Da war es. In der untersten Schublade. Vielleicht enthielt es irgendeinen Hinweis, vielleicht waren berufliche Kontakte gesondert vermerkt. Leo ging Seite für Seite durch. Privatadressen von Professoren, von Unikollegen, dem einen oder anderen Studenten. Die meisten Namen kamen ihr bekannt vor, alte Wegbegleiter ihres Onkels. Sein Zahnarzt. Seine Hausärztin. Sein Anwalt. Irschinger stand auch drin, erstaunlich. Und Katie, na ja, das war kein Wunder. Die beiden hatten sich gut verstanden. Onkel Ludwig hatte sogar die Anschrift des Heimes, das Katie jetzt leitete. Leo markierte die Seite mit einem Eselsohr und blätterte das Buch bis zum Ende durch.

      Nichts. Und unter J überhaupt keine Eintragung.

      Leo untersuchte noch einmal den Zettel. Die Notiz war offensichtlich in Eile hingekritzelt worden. Vielleicht hatte Jablonsky sie hastig mitgeschrieben, vielleicht war sie ihm diktiert worden.

      Vielleicht, vielleicht, vielleicht.

      Leo grübelte hin und her und kam immer nur zu demselben Ergebnis: Sie wollte nicht glauben, dass Onkel Ludwig tatsächlich in unsaubere Geschäfte verwickelt gewesen sein könnte.

      Der Dreizehnte war in zwei Tagen. Das Treffen stand also noch bevor, wenn es überhaupt ein Treffen war. Es konnte ja auch der Termin für eine Auktion sein, eine Ausstellungseröffnung, einen Bücherflohmarkt, weiß der Teufel, es konnte alles Mögliche sein, |25|und vielleicht noch nicht einmal in diesem Jahr, vielleicht war es schon lange vorbei. Es gab tausend Möglichkeiten, je harmloser, desto besser, denn dann gehörte diese Nachricht keinesfalls zu den Dingen, die sie Kommissar Sandved unter seiner persönlichen Telefonnummer unbedingt mitteilen musste.

      ***

      |26|Wiedensahl, den 10 ten März 1851

       Still sein. Schweigen. Nichts verrathen, sich nichts anmerken lassen – so komme ich durch die Tage. Ich wahre mein Geheimnis gut. Andere vermögen das weniger. Schon macht es die Runde durchs Dorf: Es hat gewittert im Hause Busch. Wilhelm hat sich abgesetzt! Mit dem Ingenieurswesen ist es wohl aus. Wen nimmt es Wunder! Es war ja nur der Wunsch des Vaters. Nun endlich geht er seinen eigenen Weg, weg von der Polytechnischen Schule in Hannover zur Kunstakademie in Düsseldorf. Ich habe den Herrn Pastor gefragt, wo das liegt. Unten im Rheinland, noch ein gut Stück weiter von hier als Ebergötzen. Wie ich den Wilhelm beneide! Gerne wäre ich auch so frei zu gehen, wohin ich will. Aber wir Frauenzimmer haben ja doch immer unsere Fußfesseln mit uns zu schleppen.

       Bald zehn Jahre sind vergangen, seit Wilhelm fort ist. Eine viel zu lange Zeit, und viel zu selten haben wir uns gesehen. Ohne seine Briefe wüßte ich gar nichts mehr von ihm. Hier im Dorfe nichts als das triste Tagwerk, waschen, kochen, putzen, den Garten besorgen. Nur mein Geheimnis trägt mich durch die Tage. Das ist mein Schutzschild gegen die höhnischen Blicke. Sie sollen nur abwarten, Wilhelm und ich werden sie noch das Staunen lehren. Das Maul soll ihnen offen stehen, diesem Dummvolk.

       Allerdings: Es kränkt mich, daß er nicht einmal mir verrathen mochte, was er plante. Heimlich nach Düsseldorf zu gehen! Er fürchtete wohl, ich könnte mich bei meinen Besorgungen im Krämerladen einmal verplappern. Nie würde ich mich dem Verrath hergeben, unwissentlich nicht und absichtsvoll gleich gar nicht. Ich schweige und warte, denn unser großer Tag muß ja doch einmal kommen, der Tag, wenn wir in ein gemeinsames Leben aufbrechen. Zuvörderst muß Vater Busch noch für seinen Wilhelm zahlen; daß er’s nur zähneknirschend thut, scheint mir sehr wahrscheinlich. Die Mutter wird ihm eingeflüstert haben, den Unterhalt auch fürderhin zu bestreiten. Hat sie doch auch etwas gutzumachen an ihrem Sohn, wenn ich denke: drei Jahre war er nicht daheim, nachdem sie ihn weggegeben haben, und als er zu seinem ersten Besuch heimkehrte – im Sommer 44 war es, ich entsinne mich genau – da erkennt sie ihn nicht! Er gieng an ihr vorüber, als sie auf dem Felde war, und sie erkannte ihn nicht.

       Ich werde ihn nicht vergessen. Ich weiß, daß Großes in ihm steckt. Ich warte. Und niemand soll es wagen, sich zwischen uns zu stellen.

      |27|-3-

      Es geschah etwa gegen neun Uhr morgens. Leo nagte gerade an einer Scheibe Toast, blätterte die Stellenanzeigen der Zeitungen vom vergangenen Wochenende durch und wartete, dass der Kaffee durchlief, als sie das verräterische Geräusch von der Straße hörte. Ein dumpfer Aufprall, ein Knirschen, eine krachend umgelegte Gangschaltung. – Stille. – Dann wurde eine Autotür zugeschlagen. Vom Küchenfenster aus sah Leo einen jungen Chinesen in schwarzen Jeans und Lederjacke im Imbiss verschwinden. Der Lieferwagen, ein weißer Mitsubishi Van, stand in einer Parklücke, die groß genug für einen Lkw gewesen wäre. Aber zwischen seiner Stoßstange und dem misshandelten Straßenbaum hätte sich nicht einmal mehr eine Amöbe hindurchquetschen können. Die Linde musste diese Folter offenbar schon seit geraumer Zeit über sich ergehen lassen, denn wo eine gesunde Rinde hätte sein sollen, klaffte die Borke in Stoßstangenhöhe wie eine Wunde auseinander.

      Leo klopfte sich die Krümel von den Händen und ging hinunter.

      »Tut mir so leid, aber ist noch nicht geöffnet!« Mit einem bedauernden Lächeln im Gesicht und einem beeindruckenden Messer in den Händen kam Wang Li aus der Küche. Leo ging jedenfalls davon aus, dass der freundlich lächelnde Mann, den sie schon mehrmals im Imbiss gesehen hatte, der Wang Li war, der in asiatisch stilisierten Lettern an der rot lackierten Eingangstür als Inhaber ausgewiesen wurde. Und weiterhin nahm sie an, dass der junge Mann, der regelmäßig Wangs zerbeulten Lieferwagen beim Einparken gegen den Straßenbaum vor ihrem Haus rammte, zu Wang Lis vielköpfiger Familie zählte.

      Als Wang Li die Besucherin sah, legte er das Messer beiseite und wischte sich die Hände an einem Küchentuch ab, das er sich in den Hosenbund gestopft hatte.

      |28|»Die neue Frau in Professors Wohnung«, rief er erfreut. Dann legte sich unvermittelt ein Schatten auf sein Gesicht.

      »Haben toten Mann gehabt gestern? Viel Aufregung! Und keiner da zu helfen. Waren alle in Küche. Nur alte Frauen oben, gehen nie