Ilka Sokolowski

Die heimliche Geliebte


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      Der kleine Kadaver lag hübsch drapiert an der Stelle der nicht mehr vorhandenen Fußmatte. Fehlte nur noch ein Apfelschnitz im offenen Maul und die Aufforderung, es sich schmecken zu lassen, unterschrieben mit einem Pfotenabdruck.

      Zwei Minuten später klingelte Leo an Ostermanns Tür. Aufgeregtes Bellen brach los. Kaum öffnete sich die Tür einen Spaltbreit, versuchte die Bulldogge ihren Kopf hindurchzuzwängen. Ein Filzpantoffelfuß schob sie beiseite. Das Gesicht, das jetzt erschien, war stark gerötet, auf der Stirn glitzerten Schweißperlen. Leo beobachtete fasziniert, wie sich die Augen hinter den runden Brillengläsern plötzlich verengten, wie sich die rosige Haut in Falten legte und die Nasenflügel zu beben begannen. Hastig trat sie zurück, bevor sie die Druckwelle eines gewaltigen Niesers mit voller Wucht abbekam.

      »Gesundheit.«

      »Verzeihung – danke – ich meine …« Leos Nachbar blinzelte hektisch, bis er eine Brille hervorgefingert und aufgesetzt hatte. Paul Ostermann war ziemlich kurzsichtig, von kräftiger Statur, oberhalb der Ohren fast kahl und im Übrigen stark erkältet. Er hatte sich einen senfgelben Wollschal um den Hals gewickelt, meterlang, struppig befranst und vermutlich original siebziger Jahre. Unter dem weißen Saunabademantel zeichnete sich ein beachtliches Bäuchlein ab, das zu seinen runden Wangen passte.

      »Das hier gehört Ihrem Hund, glaube ich«, sagte Leo und hielt ihm die in Zeitungspapier eingewickelte Ratte unter die gerötete Nase.

      »Was zum …« Ostermann nieste erneut, die Bulldogge versuchte mittlerweile, an Leo hochzuklettern. Ein Fußtritt seines Herrchens beförderte das Tier wieder in die Ecke, was seine Begeisterung aber nicht weiter dämpfte.

      »Halt die Klappe!«, fuhr Ostermann den Hund an, der sich davon nicht im mindesten beeindrucken ließ.

      »Entschuldigen Sie! Er bellt sonst nur, wenn ich aus der Wohnung gehe, wahrscheinlich hat er immer Angst, dass ich |42|nicht wiederkomme. Aber das hier ist Freudebellen. Ich glaube, er mag Sie.«

      Der gedrungene Hundekörper zitterte vor Aufregung, der Schwanz trommelte auf den Fußboden. Ostermann wurde unterdessen von einer neuen Niessalve geschüttelt.

      Leo schlug das Zeitungspapier auseinander, um sicherzugehen, dass er den Inhalt auch zur Kenntnis nahm.

      »Oh nein. Er hat es also wieder getan.« Ostermanns Stimme war kaum mehr als ein Krächzen. Mit einem müden Blick auf die Ratte schnäuzte er sich.

      »Rufus, du Mistköter!« Das Bellen verstummte für einen Moment, um dann mit unverminderter Euphorie weiterzugehen.

      »Sie sind die neue Nachbarin von oben, nicht wahr? Es tut mir schrecklich leid, ich weiß einfach nicht, wie ich Rufus davon abhalten soll. Manchmal vergesse ich, die Hundeklappe dichtzumachen, aber andererseits kann ich ihn doch auch nicht immer einsperren! Ich habe ihn erst im August aus dem Tierheim geholt. Ich fürchte, es handelt sich bei ihm um eine gestörte Persönlichkeit. Das mit den Ratten hat er schon beim Professor gemacht. Sie werden das wahrscheinlich nicht besonders charmant finden, aber die Ratten sind so etwas wie ein Zeichen seiner Wertschätzung.«

      Er breitete entschuldigend die Hände aus. »Offenbar hat Rufus seine Zuneigung auf Sie übertragen.«

      Der Hund war unterdessen langsam wieder näher gerobbt. Er sah Leo aus glänzenden schwarzen Augen an und ließ seine rosa Zunge aus dem Maul hängen. Sie beugte sich zu ihm hinunter.

      »Du bist pervers, weißt du das? Ratten werden von Katzen gefangen, nicht von Hunden. Du bist für den Briefträger zuständig.«

      Er drehte sich wonnevoll auf den Rücken und zeigte seinen runden Bauch.

      Ostermann streckte die Hand nach dem Päckchen aus. »Geben Sie es mir. Ich bringe es auf den Müll.«

      »Schon gut. Das erledige ich selbst. In Ihrem Zustand gehen Sie besser nirgendwo hin.«

      |43|Er sah an sich herab und zupfte an den senfgelben Fransen herum, die ihm vor dem Bauch hingen. »Entschuldigen Sie meinen Aufzug. Ich habe eben ein Dampfbad genommen.« Er lächelte kläglich. »Ich fürchte, ich habe mir einen miesen Grippevirus eingefangen.«

      Leo zog sich unauffällig weiter auf den Flur zurück. »Dann gute Besserung. Versuchen Sie, Ihren Hund doch wenigstens ein bisschen im Auge zu behalten, ja? Guten Abend.«

      Es goss in Strömen, als Leo über den Hof zu den Müllcontainern und zurück flitzte. Der Regen hatte sich zu einem wilden Wolkenbruch gesteigert. Sie war froh, als sie endlich ihre Tür hinter sich schließen konnte. Ihr war kalt, sie fühlte sich auf einmal erschöpft und auf unbestimmte Weise traurig.

      In der Küche füllte sie einen Topf mit Kartoffeln und Wasser und setzte ihn auf den Herd. Auf dem Weg ins Bad knipste sie alle Lichter an und stellte die Heizung höher. Unter dem heißen Wasserstrahl der Dusche entspannte sie sich allmählich. Sie schlüpfte in ein warmes Fleeceshirt und ausgeleierte Hosen und zog sich Wollsocken über die Füße.

      In der Küche duftete es nach frisch gegarten Kartoffeln. Leo pellte sie, verteilte großzügig Butterflöckchen darauf, kochte noch eine Kanne Pfefferminztee und machte es sich auf dem Sofa im Wohnzimmer bequem. Der Regen rauschte immer noch an den Fenstern hinunter.

      Während Leo aß, sah sie sich die Landkarte an, die sie gekauft hatte. Sie wusste nicht genau, wonach sie suchen sollte, aber eines schien ziemlich sicher: Der Ort, an den Onkel Ludwig bestellt werden sollte, musste irgendwo in der Nähe liegen. Der Termin war schon morgen, und gestern hatte der Antiquar ihren Onkel aufsuchen wollen. Wenig Zeit also, um großartig herumzureisen.

      Sie holte Jablonskys Notiz vom Schreibtisch.

       13/11 Ma t. Wied hl.

      Ein Ortsname mit Ma oder Wied am Anfang. Im ersten Fall kurz und mit einem t am Ende, im zweiten Fall etwas länger. Leo seufzte. |44|Die Karte hatte kein alphabetisches Ortsverzeichnis; sie musste ein Planquadrat nach dem anderen absuchen. Systematisch arbeitete sie sich vor und hatte bald alles gründlich nach verdächtigen Ma-Orten durchforstet, ohne Erfolg. Dann also W. Sie zog die Karte näher heran und kaute nachdenklich.

      Wie. Oder Wie hl?

      Wietze. Wiedenrode. Wiedenbrügge. – W’s ohne Ende. Sie suchte weiter. Wiesenfeld. Wiebrechtshausen. Wiedensahl.

      Leo schluckte einen Mund voll Kartoffeln hinunter.

      Wiedensahl. – Woran erinnerte sie das?

      Sie schob den Teller beiseite, ging zur Bücherwand, griff sich die erstbeste Busch-Biografie und schlug die Übersicht mit den Lebensdaten auf.

      Da stand es schwarz auf weiß: Heinrich Christian Wilhelm Busch, geboren am fünfzehnten April 1832 um sechs Uhr morgens in Wiedensahl nordwestlich von Stadthagen.

      Triumphierend klappte Leo das Buch zu. Das war es! Wiedensahl, der Geburtsort von Wilhelm Busch. Onkel Ludwig musste ihn oft genug erwähnt haben, sodass er schließlich Einlass in ihr Unterbewusstsein gefunden hatte.

      Leo richtete sich wieder in ihrer Sofaecke ein und trank einen Schluck Tee. Warum sollte Onkel Ludwig nach Wiedensahl kommen? Vielleicht hatte dieser Kommissar Sandved doch recht, und es ging wirklich um eine Hinterlassenschaft von Busch, die Jablonsky aufgetan hatte und die Ludwig sich ansehen sollte.

      Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.

      Leo studierte die Karte. Auf Landstraßen bis zur Autobahn Dortmund–Berlin, dann über eine Brücke darüber hinweg. Durch eine Reihe von Dörfern nach Stadthagen, von dort Richtung Nordwesten; der Weg führte in einen Forst und durchquerte ihn an seiner schmalsten Stelle. Schaumburger Wald, las sie. Gleich dahinter lag Wiedensahl.

      Leo versuchte die Strecke abzuschätzen. Dreieinhalb Stunden mit dem Rad, vielleicht vier. Es würde ein anstrengender Tag werden. |45|Und wenn es nicht aufhörte zu regnen? Es gab eine Bahnverbindung nach Stadthagen. Von dort konnte man sicherlich mit dem Bus weiterkommen. Aber das war der Notplan. Wenn es irgend ging, würde sie das Rad nehmen. Sie fühlte sich besser,