Ilka Sokolowski

Die heimliche Geliebte


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sich vorstellen, |19|was er dachte: Eine habgierige Erbin, die gar nicht schnell genug an die Wohnung kommen konnte und mit Ignoranz gegenüber den kunsthistorischen Werten des Nachlasses geschlagen war.

      Leo hatte einen Kloß im Hals. Das machte sie noch wütender. Er schien es zu merken, jedenfalls musterte er sie nachdenklich.

      »Hatten Sie ein enges Verhältnis zu Ihrem Onkel?«

      »Ich sehe nicht, weshalb das hier von Belang sein sollte.«

      Er machte eine ungehaltene Geste in Richtung Flur, auf dem eben noch Jablonskys fein betuchter toter Leib gelegen hatte.

      »Weil vor dieser Tür, die vor noch gar nicht langer Zeit die Ihres Onkels war, ein Toter gefunden wurde. Vielleicht ist er wirklich einem Herzversagen erlegen, mag sein, aber warum gerade hier? Was hat er von Ihnen oder Ihrem Onkel gewollt? Es kann sich wohl kaum um ein Versehen gehandelt haben, schließlich gibt es hier oben im Dachgeschoss nur die eine Wohnung, der Name Heller steht groß und deutlich auf dem Türschild, und ein Mann mit Anton Jablonskys Konstitution würde doch wohl genau darauf achten, ob er vielleicht nur bis in den ersten oder zweiten Stock steigen muss!« Er fuhr sich gereizt durch den rotbraunen Schopf, der schon in alle Richtungen abstand.

      »Hat Ihr Onkel Ihnen etwas anvertraut, das uns einen Hinweis geben könnte? Und sei es eine noch so nebensächliche Kleinigkeit? Sie können einander doch nicht völlig fremd gewesen sein, immerhin hat er Ihnen seine Wohnung vermacht!«

      »Ich war die Letzte aus der Familie.«

      Er räusperte sich. »Also gut. – Sie sind durcheinander, ich bin müde. Ich schlage vor, wir brechen unsere anregende Unterhaltung hier ab. Rufen Sie mich an, wenn Ihnen noch etwas einfällt.«

      Er legte seine Karte auf Ludwigs alten Schreibtisch und rauschte grußlos hinaus. Die beiden Polizisten, die versucht hatten, sich so unsichtbar wie möglich zu machen und gleichzeitig die Fähigkeiten von Richtmikrofonen zu entwickeln, konnten gerade noch beiseite treten. Leo hörte, wie sie hinter dem Kommissar die Treppe hinunterpolterten.

      |20|Endlich war der Spuk vorbei. Leo beschlich das Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben. Doch sie erhielt keine Gelegenheit, ihre Gedanken zu ordnen, denn Sandved kehrte unvermutet noch einmal zurück.

      »Letzte Frage: Woran ist Ihr Onkel gestorben?«

      Sie spürte, dass sie Kopfschmerzen bekam und wollte ihn nur noch loswerden.

      »An einem Schädelbruch«, antwortete sie erschöpft. »Er ist vom Balkon gestürzt.«

      »Was Sie nicht sagen. Von diesem hier?«

      Er spähte an ihr vorbei zu der offenen Glastür, an der Edwina die letzten ihrer weißen Blüten im Luftzug schaukeln ließ.

      »Ja. Wahrscheinlich verlor er das Gleichgewicht, als er Hans einfangen wollte. Seinen zahmen Raben.«

      Er sah sie durchdringend an. »Hans. – Aha.« Dann drehte er sich auf dem Absatz um und verschwand die Treppe hinunter.

      Er hatte die Tür nicht hinter sich zugemacht. Leo starrte auf die verrutschte Fußmatte. – Falsch. – Sie starrte auf den Fleck, wo eine verrutschte Fußmatte hätte liegen sollen. Da war sie aber nicht.

      Sie hatten sogar die verdammte Matte mitgenommen.

      Die Spurensicherung suchte nach Spuren. Was das bedeutete, wurde ihr erst nach und nach klar.

      Vielleicht war das Herzversagen gar kein natürlicher Tod.

      Vielleicht saß sie ganz schön in der Klemme.

      Aber warum?

      Es kostete Kraft, aufzustehen und die Tür zu schließen. Leo fühlte sich auf einmal so müde, als wäre sie seit zwei Tagen auf den Beinen gewesen und nicht dieser Sandved. Hinter ihren Schläfen begann es zu hämmern.

      Aspirin. Sie brauchte dringend Aspirin, bevor sich der Schmerz wie ein stählerner Ring um ihren Kopf schloss. Auf der Suche nach den Tabletten schlurfte sie ins Bad und bemerkte erst jetzt, dass sie immer noch den Lippenstift in der Hand hielt.

      Verdammt. Das Vorstellungsgespräch!

      |21|Viel zu spät.

      Trotzdem stürzte sie zum Telefon, um sich von einer kühlen Frauenstimme erklären zu lassen, die Firmenleitung lege besonderen Wert auf die Zuverlässigkeit ihrer Mitarbeiter. Dass man darunter auch Pünktlichkeit verstehe, müsse wohl nicht betont werden. (Nein, dachte Leo. Natürlich nicht.) Man habe sich inzwischen anderweitig entschieden, vielen Dank. Leo verzichtete darauf, zu ihrer Rechtfertigung eine Geschichte aufzutischen, in der ein toter Antiquar vorkam, den sie vor ihrer Tür gefunden hatte. Eine miesere Ausrede konnte man sich ja gar nicht ausdenken.

      Tage, die mit einer Leiche vor der Tür anfangen, sind schlechte Tage. Wie sollte es nun weitergehen?

      Leo hatte ein paar merkwürdige Angewohnheiten. Eine davon war die, mit ihren Pflanzen zu reden und insbesondere vor Edwina lange Monologe zu halten. Das ließ die Rose nicht unbedingt besser gedeihen, half Leo aber, Ordnung in die Gedanken zu bekommen.

      Ob sie das nicht auch merkwürdig fände, fragte sie Edwina. Erst Onkel Ludwig, dann der Antiquar. Geisterten sie vielleicht in irgendeiner immateriellen Form noch hier herum und sahen zu, wie sie hinter einer Nebelwand von Kopfschmerzen und Selbstvorwürfen versank?

      Edwina antwortete nicht, und Leo nahm es nicht persönlich. Aber sie hatte höllische Kopfschmerzen, und in den einsamen Stunden des Nachmittags wurde sie unvermittelt zum Opfer eines diffusen Aberglaubens und dachte an Fenster, die geöffnet bleiben mussten, damit die Seelen den Ausgang fanden, und Spiegel, die sie vielleicht besser verhängen sollte. In den etwas lichteren Momenten des Tages erklärte sie sich und Edwina, dass sie einfach in eine kleine Depression schlitterte, kein Grund zur Panik, das würde vorübergehen.

      Alles in allem hatte sie sich bei ihrem ersten Toten von Angesicht zu Angesicht doch recht wacker gehalten. Sie hatte nicht gekreischt |22|und war diesem Sandved auch nicht schluchzend an die Brust gesunken.

      Dass sie die Stelle in der Gärtnerei nicht bekommen hatte, war auch kein Drama. Irgendwann würde es besser werden, bestimmt.

      Inzwischen, sagte sie sich ganz vernünftig, konnte sie die Zeit doch nutzen, um Ordnung zu schaffen und die restlichen Kartons auszupacken.

      Vielleicht war es der Aufregung zuzuschreiben; oder dem schlechten Gewissen, wie Leos Freundin Katie gesagt hätte. Beides waren jedenfalls hervorragende Gründe, etwas aus dem Gedächtnis zu verlieren. Leo erinnerte sich erst in dem Augenblick wieder an den Zettel, als sie sich bis zum Schreibtisch vorgearbeitet hatte.

      Ganz unschuldig lag er oben auf dem Stapel der Post, die in den letzten Tagen noch für Ludwig Heller gekommen war. Praktischerweise mit der Rückseite nach oben, so wie sie ihn hastig abgelegt hatte, bevor sie die Polizei rief. Sandved hatte ihn nicht weiter zur Kenntnis genommen, als er am Schreibtisch stand.

      Leo betrachtete den Zettel mit gemischten Gefühlen. Irgendwo zwischen den dumpf hämmernden Kopfschmerzen tauchte der Gedanke auf, dass sie Informationen unterschlagen hatte, möglicherweise sogar Beweismittel. Hatte Onkel Ludwig tatsächlich Geschäfte mit Anton Jablonsky gemacht?

      Nein. Niemals.

      Sie faltete das Papier auseinander. Mit einem harten Bleistift, dessen Spitze offenbar durch zu festes Aufdrücken mitten im Wort abgebrochen war, hatte jemand eine kurze Mitteilung daraufgekritzelt; wenn man die kryptischen Zahlen und Wortfetzen überhaupt so nennen konnte.

      13/11 Ma t

      Wied hl »Backstube«, 15.00

      —> C.

      |23|Beeindruckend. Es fehlte nur noch der Zusatz, dass der Zettel sich nach Ablauf eines geheimen Verfallsdatums selbst vernichten würde.

      Stammte das von Jablonskys Hand? Die Schrift wirkte hektisch, die Buchstaben hasteten in großer Eile über das Papier.

      13/11