wusste ich nicht. Nicht so direkt, meine ich. Aber ich habe es wohl geahnt.«
»Ja«, sagte Ludwig. »Das hast du wohl. – Siehst du, so ist das. Es gibt immer noch eine zweite Geschichte.«
Im Licht dessen, was Ludwig ihr an jenem Nachmittag erzählt hatte, begann Leo, rückblickend vieles besser zu verstehen. Sie besuchte Ludwig nach wie vor nur heimlich, es war besser, wenn ihre Mutter davon nichts wusste. Einen von beiden schien sie immer zu verraten. Dann nahmen Studium und Praktika Leos Zeit immer mehr in Anspruch, und irgendwann schliefen die Besuche ganz ein.
Dass Leo weder ein allzu schweres Bündel mit Schuldgefühlen mit sich herumschleppte noch auffällige Zwangsstörungen entwickelte, lag sowohl an einer gewissen Robustheit als auch an ihrer Freundin Katie.
|37|Katarina Singer studierte Medizin und ein paar Semester Psychologie und genoss es, ihre frisch erworbenen Kenntnisse auf Leo anzuwenden. Sie wusste, dass Leo ohnehin nichts davon glauben würde, also konnte es auch keinen Schaden anrichten. Was wirklich half, war das gemeinsame Studentendasein, der Unialltag, das ganz normale Leben. Und, natürlich, auch die mit endlosen Diskussionen angefüllten alkoholgetränkten Nächte.
Leo hatte endlich erkannt, dass ihre Mutter krank war. Mehrmals hatte Hanna Heller sich wegen Depressionen bei einem alten Freund der Familie in Behandlung begeben. Während Leo jetzt das tote Laub von Ludwigs Grab scharrte, erinnerte sie sich an ihre erste Begegnung mit Katie auf der Schwelle von Irschingers Praxis. Anfangs begleitete Leo ihre Mutter zu den Sitzungen bei Irschinger und holte sie später wieder ab, bis Hanna dann schließlich in ein Heim wechseln musste.
Joseph Irschinger war ein Kriegsgefährte ihres längst verstorbenen Großvaters und der einzige Arzt, zu dem Hanna Heller Vertrauen hatte, was Leo mehr als merkwürdig fand. Sie selbst hatte als Kind vor diesem hageren Mann mit den durchdringenden blauen Augen immer Angst verspürt, auch dann, wenn er ihr kleine Geschenke mitbrachte wie den Bernsteinbrocken, der immer noch als Briefbeschwerer auf ihrem Schreibtisch lag. Joseph Irschinger musste inzwischen weit über achtzig sein; das letzte Mal waren sie sich bei der Beerdigung von Leos Mutter begegnet. Irschinger und Ludwig Heller waren sich meist aus dem Weg gegangen. Vielleicht vermied Onkel Ludwig eine Begegnung, weil er sich für den Geisteszustand seiner Schwester mitverantwortlich fühlte. Doch als er starb, schrieb Irschinger einen freundlichen Brief an die liebe Leonore mit einer Einladung nach München.
Sie hätte ihn längst schon einmal besuchen sollen und nahm sich vor, nicht so lange zu warten, bis es zu spät war wie bei ihrem Onkel.
Das brachte sie wieder zurück an das unscheinbare Grab und in die Kälte dieses nebligen Novembertages. Leo fing an, den Efeu in |38|der Schale zu arrangieren und dann die Wurzelknollen sorgfältig mit Erde zu bedecken. Ein paar Grünpflanzen waren ein jämmerlicher Dank für das, was Onkel Ludwig getan hatte. Sein Leben lang hatte er für Hanna und ihre Tochter gesorgt. Er beglich die Miete, unterstützte Leo während des Studiums und übernahm schließlich einen Großteil der Kosten für das teure Pflegeheim, in dem ihre Mutter die letzten Jahre ihres Lebens in geistiger Verwirrung verbrachte. Mit ihren sporadischen Verdiensten als Aushilfsgärtnerin hätte Leo das niemals finanzieren können. Die monatlichen Kosten konnten einen Menschen mit einer Strumpfmaske über dem Gesicht und einer Schreckschusspistole in der Hand in die nächste Bankfiliale treiben. Bevor Leo eine kriminelle Karriere startete, opferte Onkel Ludwig seine Ersparnisse und die Lebensversicherung, die er hatte. Für Hanna war das Beste gerade gut genug. Wenigstens am Ende ihres Lebens sollte seine Schwester bekommen, was ihr nach ihrer Meinung immer zugestanden hatte, auch wenn sie davon nichts mehr begriff.
Wie schnell dann alles gegangen war. Leo hielt inne, um sich geräuschvoll die Nase zu putzen. – Verdammte Kälte.
Erst Hanna, dann Onkel Ludwig. Von seinem Tod hatte Leo erst nach der Beerdigung erfahren. Zu der Zeit befand sie sich gerade auf einem Fortbildungsseminar auf der Insel Mainau. Das hatte sie dem Gartenbaubetrieb, der ihr kurzfristig gekündigt hatte, noch als Abfindung abtrotzen können.
Erst in Hamburg hatte Leo einen Anruf von Onkel Ludwigs Anwalt erhalten und die Unglücksgeschichte mit Hans, dem Raben, erfahren. Den geschraubten Worten des Testamentsvollstreckers hatte sie entnommen, dass es außer der Wohnung kaum etwas zu erben gab. Ludwig Hellers Reserven waren bis auf klägliche fünftausend Euro aufgebraucht. Ihre Gleichgültigkeit gegenüber dieser Mitteilung hatte den Mann ziemlich irritiert. Aber immerhin konnte sie die überfällige Miete und die aufgelaufenen Schulden bezahlen. Blieben noch dreitausendachthundert übrig. Leo fühlte sich eigentlich fast reich.
|39|Auf vertrackte Weise hing immer alles am Geld. Der Absturz aus dem Wohlstand hatte die Krankheit ihrer Mutter zum Ausbruch kommen lassen. Und das dramatische Augenrollen des Bankangestellten, der sich weigerte, Leos Kreditrahmen zu erhöhen, hatte letztlich dafür gesorgt, dass sie sich in Onkel Ludwigs Wohnung wiederfand. Mit allen Konsequenzen, die dazugehörten, wie toten Ratten und ebenso toten Antiquaren.
Zu allem Übel musste sie feststellen, dass die Vergangenheit immer noch nicht abgehakt war. Etwas nicht klar Erkennbares lag wie ein Schatten auf Onkel Ludwigs Grab und drängte sich dreist in die Gegenwart hinein, als wollte es Leo daran erinnern, dass sie noch etwas gutzumachen hatte.
Okay, dachte Leo und setzte die fertig bepflanzte Schale auf das Grab. Sie würde Onkel Ludwig aus den Ermittlungen der Polizei heraushalten, was immer auch dahinter steckte. Dass es ihre Sache war, genau das herauszufinden, stand fest.
Dunkelgrün hing der Efeu über das Terrakotta und umrahmte mit seinen Ranken ein Büschel weißer Heide. Dahinter hatte Leo einen Zwergwacholder gesetzt, der winzig kleine Beeren trug. Alle Pflanzen waren winterfest und sollten in dieser Schale ohne weiteres den Frost überstehen. Leo brachte das Laub weg, wusch sich die Hände im eiskalten Brunnenwasser und verabschiedete sich mit dem stummen Versprechen, wiederzukommen und zu berichten, wie die Dinge liefen.
Niemand begegnete ihr auf dem Weg zum Ausgang. In der Luft lag der Geruch von Holzfeuer und brennenden Laubhaufen; zwischen den Bäumen hing Nebel.
Auf dem Rückweg entdeckte Leo in der Fiedelerstraße eine Buchhandlung und erstand eine Radwanderkarte der Stadt und der angrenzenden Landkreise. Eine Weile trödelte sie noch in verschiedenen Geschäften herum und kaufte Batterien für das Fahrradblinklicht, eine Flasche Rum, Orangen, Schokolade und eine Wollmütze, nachdem ihr auf dem Rad fast die Ohren abgefroren waren.
|40|Als Leo vor dem Haus ankam, war es bereits dunkel. Ein anderer Wagen stand jetzt in der Parklücke vor der Linde und hielt artigen Sicherheitsabstand zu dem Baum. Bei Wang Li herrschte Hochbetrieb. Leo warf einen Blick durch das Fenster und sah voll besetzte Tische. Auch am Tresen warteten Leute, die ihre bestellte Mahlzeit abholen wollten. Leos Magen erinnerte sie knurrend, dass er seit dem Frühstück nichts bekommen hatte. Es fing an zu regnen, als sie das Fahrrad durch die Toreinfahrt auf den dunklen Hinterhof schob.
Plötzlich öffnete sich die Tür der Imbissküche und eine Lichtschneise fiel über den Hof. Wang Lis Neffe sprintete mit einem Abfalleimer durch den Regen, leerte den Kübel in einen der Container und hastete zurück. Als er Leo entdeckte, warf er ihr einen eisigen Blick zu.
Leo kettete ihr Fahrrad unter der Feuertreppe an. Dieser bizarren Außentreppe aus Stahl hatte sie in gewisser Weise die Aufmerksamkeiten der lästigen Bulldogge zu verdanken. Nachdem sie sich anfangs noch gewundert hatte, wie das Tier aus der verschlossenen Wohnung in das Treppenhaus gelangen konnte, erwischte sie den Hund auf frischer Tat. Sie war gerade dabei, die zweite Ratte in einem der Müllcontainer auf dem Hinterhof zu beerdigen, als der Mörder auf krummen Beinen durch die Toreinfahrt tappte, die Feuertreppe auf der rückwärtigen Seite des Hauses erklomm und durch eine Klappe in der Wohnung im zweiten Stock verschwand. Sehr praktisch, diese Feuertreppe, und irgendwie amerikanisch, hatte Leo gedacht und einen Eimer Blumenerde über den Kadaver gekippt.
Aus der Hundewohnung quetschte sich ein schwacher Lichtschein unter der Tür hindurch, als Leo jetzt hinaufging. Auch in der Wohnung gegenüber schien inzwischen jemand zu sein, denn leise Klaviermusik war zu hören. Im schummrigen Treppenhauslicht studierte sie das Türschild: Eine Ruth Herwig wohnte unter ihr.
Leo bog um die Ecke, stieg die letzten Stufen hoch