Klaus Kamphausen

Ich bringe mich um!


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hinzugefügt: Wenn von „Selbsttötung“ die Rede ist, dann ist sie natürlich im Sinne einer nicht von einer dritten Person erzwungenen Selbsttötung gemeint.

      Verbale Konstruktionen sind oft noch treffender als die oben angeführten Substantive. Sie transportieren das aktive Handeln der Person deutlicher und unmittelbarer.

      Zwei Ausnahmen sind jedoch die Formulierungen „Hand an sich legen“ und „sich das Leben nehmen“. Beide Redewendungen sind extrem verharmlosend. Wie oft legt jeder Mensch am Tag Hand an sich, wenn er sich die Hände wäscht, wenn er sich kratzt, wenn er sich die Nase putzt, wenn er sich durch die Haare fährt. Hand an sich legen ist eine alltägliche, harmlose, oft nützliche Tätigkeit. Das Gleiche gilt für das Verb „nehmen“. Ich nehme mir einen Kaffee, einen Apfel, eine Zeitung …

      Keine dieser beiden Formulierungen trifft das, wovon in diesem Buch die Rede sein soll.

      Der Titel dieses Buches verharmlost nicht.

      „Ich bringe mich um!“ ist eine Aussage, die jeden auf der Stelle erbeben, erschrecken, erzittern lässt. Die niemanden unberührt lässt. Die vier Worte treffen wie ein schwerer Schlag. Sie tragen die Energie, die Gewalt, das Zerstörerische, das Unumkehrbare, das Endgültige, das Einmalige, das Folgenreiche, aber auch die Verzweiflung, die Ausweglosigkeit, die Unverständlichkeit, das Menschliche und das Unmenschliche der Selbsttötung.

      Vielleicht auch die Erlösung?

      Im Lauf des 19. Jahrhunderts begannen sich die Naturwissenschaften, vor allem die Medizin, mit dem Tabuthema Selbsttötung zu befassen. Im Zuge dieser Entwicklung wurden die ersten, repräsentativen Statistiken in den Staaten Mitteleuropas vorgelegt.

      Die aktuellste veröffentlichte „Todesursachenstatistik“ des Statistischen Bundesamts Deutschland zeigt, dass 2009 durch „vorsätzliche Selbstbeschädigung“ – so das offizielle Amtsdeutsch – 9.616 Menschen in Deutschland verstorben sind. Das sind 11,7 Selbsttötungen auf 100.000 Einwohner.

      Im Jahr 2009 sind in der Bundesrepublik laut Statistik insgesamt 854.544 Menschen verstorben, das heißt etwa 1,1 Prozent der Todesfälle wurden durch Selbsttötung herbeigeführt.

      Im selben Jahr starben 4.330 Menschen bei Verkehrsunfällen, mehr als doppelt so viele (9.616) durch Selbsttötung.

      Die Zahl der Männer, die sich das Leben genommen haben, ist dabei mehr als dreimal so hoch wie die Zahl der Frauen: 7.228 Männer stehen 2.388 Frauen gegenüber.

      Die Zahl der Selbsttötungsversuche liegt etwa zehn- bis 15-mal so hoch wie die Zahl der Selbsttötungen. Diese Werte beruhen auf Schätzungen, weil die Dunkelziffer, also die Zahl der Selbsttötungsversuche, die nie als solche registriert wurden, extrem hoch ist. Selbsttötungsversuche, von denen außer dem Betroffenen keiner weiß. Bei jungen Frauen ist die Häufigkeit von Selbsttötungsversuchen am größten, bei älteren Männern am niedrigsten.

      In wissenschaftlichen und medizinischen Abhandlungen wird bei den Arten der Selbsttötung nach „harten“ und „weichen“ Methoden unterschieden.

      Zu den weichen Methoden zählen zum Beispiel die Einnahme von Tabletten oder Drogen sowie Vergiftungen. Zu den harten Methoden zählen Erhängen, Erschießen, Ertränken, Sturz aus der Höhe, Sturz vor einen sich bewegenden Gegenstand und tiefe Stiche und Schnitte. Die harten Methoden führen darüber hinaus zu sichtbaren äußeren Veränderungen des Körpers.

      In der Statistik werden die Arten der vorsätzlichen Selbstbeschädigung noch detaillierter typisiert, unterschieden und beschrieben. Die hier aufgeführten Kategorien X60 bis X84 sind die Oberkategorien, die in einzelnen Statistiken noch einmal in mehrere Punkte unterteilt werden.

      Von X60 bis X69 werden die diversen Methoden der Selbsttötung durch „vorsätzliche Selbstvergiftung“ unterschieden. Von X70 bis X84 werden die verschiedenen Arten der Selbsttötung durch „vorsätzliche Selbstbeschädigung“ aufgeführt, dazu zählen unter anderem: Erhängen, Ertränken, Erschießen, Verbrennen, sich vor Fahrzeuge werfen oder wahlweise in die Tiefe stürzen.

      Im Anhang 1 (S. 284) finden sie die detaillierte Auflistung, wie sie im Bundesamt für Statistik geführt wird.

      Die Typisierung X70, die vorsätzliche Selbstbeschädigung durch Erhängen, Strangulierung oder Ersticken, ist in Deutschland in allen Altersgruppen die mit Abstand meistgewählte Methode, sich das Leben zu nehmen.

      Nach Altersgruppen unterteilt zeigt die Statistik für 2009 folgendes Bild:

5 bis 10 Jahre1
10 bis 15 Jahre20
15 bis 20 Jahre194
20 bis 25 Jahre372
25 bis 30 Jahre394
30 bis 35 Jahre394
35 bis 40 Jahre513
40 bis 45 Jahre861
45 bis 50 Jahre1054
50 bis 55 Jahre999
55 bis 60 Jahre828
60 bis 65 Jahre610
65 bis 70 Jahre859
70 bis 75 Jahre780
75 bis 80 Jahre616
80 bis 85 Jahre554
85 bis 90 Jahre423
90 und älter144

      In der Todesursachenstatistik 2009 werden auch die Zahlen der vorsätzlichen Selbstbeschädigungen nach Bundesländern unterschieden aufgeführt:

BundeslandSelbsttötungen gesamtpro 100.000 Einwohner
Sachsen-Anhalt36015,2
Sachsen62414,9
Thüringen32714,5
Bayern174914,0
Baden-Württemberg140413,1
Bremen8412,7
Hessen76912,7
Hamburg21912,3
Saarland12512,2
Schleswig-Holstein34412,1
Mecklenburg-Vorpommern18511,2
Rheinland-Pfalz43010,7
Brandenburg26610,6
Niedersachsen7789,8
Nordrhein-Westfalen1.6669,3
Berlin2868,3

      Die höchste Zahl an Selbsttötungen verzeichnete in diesem Zeitraum das Land Bayern. Die höchste Selbsttötungsrate weist das Land Sachsen-Anhalt auf. Berlin hat mit 8,3 Selbsttötungen auf 100.000 Einwohner die niedrigste Rate. Im Vergleich dazu lag das frühere Westberlin vor dem Fall der Mauer mit weitem Abstand auf Platz 1 der Bundesländerstatistik.

      Für die letzten 30 Jahre folgt die Zahl der Selbsttötungen in Deutschland einem deutlich fallenden Trend:

      1980 lag sie bei 18.451 (24,6 je 100.000 Einwohner)

      1990 lag sie bei 13.924 (17,4 je 100.000 Einwohner)

      2000 lag sie bei 11.065 (13,0 je 100.000 Einwohner)

      2009 liegt sie bei 9.616 (11,7 je 100.000 Einwohner)

      Die sogenannte dunkle Jahreszeit von Oktober bis März weist im Gegensatz zur allgemein verbreiteten Annahme keine höheren Zahlen an Selbsttötungen auf als die Sommermonate April bis September. In einer Statistik aus dem Jahr 2006 zeigen die Monate Mai und Juli die höchsten Zahlen an Selbsttötungen.

      Eine steigende Tendenz zeigt das durchschnittliche Sterbealter bei vorsätzlichen Selbstbeschädigungen. Seit 1980 stieg es bei Männern um etwa fünf Jahre auf 54,7 Jahre, bei Frauen um zwei Jahre auf 59,0 Jahre (Statistik 2006).

      Mediziner und Pharmazeuten weisen eine deutlich höhere Rate an Selbsttötungen auf als die Allgemeinbevölkerung. Bei den Ärzten liegt die Rate mehr als dreimal so hoch wie bei den Männern, bei den Ärztinnen ist die Rate mehr als fünfmal so hoch wie der Durchschnittswert der Frauen (2006).

      Diese überraschende Tatsache ließe sich auf den berufsbedingten Stress der Mediziner und die fast tägliche Auseinandersetzung mit Krankheit und Tod erklären. Eine andere Begründung wäre in der Tatsache zu finden, dass Ärzte und Pharmazeuten im Gegensatz zu