Klaus Kamphausen

Ich bringe mich um!


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den deutschen Zahlen zu den internationalen: Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sterben jährlich weltweit etwa eine Million Menschen durch Selbsttötung. Zehn- bis 20-mal so hoch ist die geschätzte Zahl der gescheiterten Versuche.

      Das entspricht circa 14,5 Todesfällen je 100.000 Menschen.

      Oder: Alle 40 Sekunden nimmt sich auf dieser Erde ein Mensch das Leben!

      Die weltweite nach einzelnen Staaten unterschiedene Statistik der WHO finden Sie im Anhang 2. Ein Blick auf diese Tabelle zeigt:

      Angeführt wird diese Statistik von Weißrussland (35,1/2003)2 und Südkorea (31,0/2009). Auf Rang 4 folgt bereits Russland mit 30,1 Selbsttötungen pro 100.000 Einwohner, auf Platz 10 liegt Japan mit 23,7 Selbsttötungen auf 100.000 Einwohner.

      Vergleicht man auf dieser Tabelle die sonnigen Länder des südlichen Europas mit den Staaten Skandinaviens, dann scheint die Sonne des Südens eindeutig positiv auf das Lebensgefühl einzuwirken:

      Finnland (20,1/2005), Dänemark (13,6/2001), Schweden (13,2/ 2004) und Norwegen (11,5/2005) haben alle höhere Selbsttötungsraten als Portugal (11,0/2003), Spanien (7,8/2005), Italien (7,1/ 2002) oder Griechenland, das mit 3,5 Selbsttötungen pro 100.000 Einwohnern das europäische Schlusslicht bildet.

      Ob das jedoch der Sonne, dem vorherrschenden Katholizismus, der geringeren Niederschlagsmenge, dem längeren Tageslicht oder dem Blau des Mittelmeeres zuzuschreiben ist, bleibt pure Spekulation.

      Oder warum liegt die Selbstmordrate in Neuseeland (13,2/2004), einem grünen Paradies am Ende der Welt, um mehr als das Dreifache höher als in einem Land wie Mexiko (4,1/2005), das seit Jahren von sozialen und politischen Spannungen gezeichnet ist.

      Eines der ärmsten Länder Europas, Albanien (4,0/2003), hat eine Selbsttötungsrate, die um mehr als das Vierfache niedriger ist als im reichen Frankreich (17,6/2005). Wo würde Gott wohl lieber leben?

      Die Statistiken über Selbsttötungen ließen sich hier noch über viele Seiten zu einem fast unendlichen Zahlenwerk fortsetzen.

      Am Ende lassen sich nur Vergleiche ablesen: Dass zum Beispiel in islamischen, hinduistischen und buddhistischen Staaten die Rate der Selbsttötungen niedriger ist als in den christlichen Ländern Europas. Es gibt Unterschiede zwischen Männern und Frauen, zwischen den einzelnen Altersgruppen, zwischen Jahreszeiten und Berufsgruppen, selbst zwischen einzelnen Wochentagen.

      Aber je mehr Zahlen sich sammeln, desto mehr tritt das Schicksal des einzelnen Menschen in den Hintergrund.

      Statistiken zeigen auf, wer sich umbringt, wie, wann und wo.

      Aber selbst Hunderttausende Zahlen in zahllosen Tabellen und Graphen aufgereiht, ausgewertet und verglichen werden keine einzige Antwort auf die Frage geben können:

      Warum?

      Wenn die Zahlen der Statistik zu der Frage nach dem Warum schweigen, was verraten die Zahlen der Zeitgeschichte?

      Das Thema Selbsttötung durchzieht die Menschheitsgeschichte wie ein roter Faden. Ein Kardiogramm mit Ausschlägen nach oben und unten, je nach Zeit- und Kulturepoche.

      Philosophen und Theologen, Juristen und Mediziner, Psychologen, Soziologen und Ethnologen haben aus ihrer Zeit und ihrer Perspektive die Selbsttötung diskutiert und beurteilt.

      Sie haben die Selbsttötung bewertet, haben zu ihr aufgerufen, haben sie verteufelt, haben sie gepriesen, versucht zu verhindern, versucht zu erklären, zu richten.

      Schriftsteller und Künstler haben sie immer wieder zum Thema gemacht: besungen, modelliert, gemalt, geschrieben, gedichtet.

      Lang wie die Liste dieser Kommentatoren ist die der prominenten, bekannten, berühmten Täter-Opfer3: von Kleopatra bis Hannelore Kohl, von Hannibal bis Hemingway.

      Unabhängig von einer Bewertung ist die Selbsttötung offensichtlich und unbestreitbar Teil der menschlichen Natur und Kultur. Über alle Grenzen und alle Zeiten hinweg.

      Der älteste überlieferte Text über die Selbsttötung stammt aus dem antiken Ägypten. Niedergeschrieben ist er auf einem Papyrus aus der Zeit um 1900 v. Chr. Der deutsche Ägyptologe Karl Richard Lepsius erwarb den Papyrus 1843 in Ägypten und veröffentlichte den Text 1859. Es ist das „Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele“. Die Seele wurde im alten Ägypten als der „Ba“ bezeichnet.

      Der Mann, der des Lebens müde und verzweifelt ist, versucht seinen Ba, seine Seele, von seinem Vorhaben der Selbsttötung zu überzeugen. In mehreren Reden und Liedern beschreibt er seine Abscheu, seinen Ekel vor dem Leben, seine Sehnsucht nach dem Tod. Eines der Lieder lautet:

      „Der Tod steht heute vor mir,

      (wie) wenn ein Kranker gesund wird,

      wie das Hinaustreten ins Freie nach dem Eingesperrtsein.

      Der Tod steht heute vor mir

      wie der Duft von Myrrhen,

      wie das Sitzen unter einem Segel an einem windigen Tag.

      Der Tod steht heute vor mir

      wie der Duft von Lotusblumen,

      wie das Sitzen am Ufer der Trunkenheit.

      Der Tod steht heute vor mir

      wie das Abziehen des Regens (oder: wie ein betretener Weg),

      wie wenn ein Mann von einem Feldzug heimkehrt.

      Der Tod steht heute vor mir,

      wie wenn sich der Himmel enthüllt,

      wie wenn ein Mensch die Lösung eines Rätsels findet.

      Der Tod steht heute vor mir,

      wie ein Mann sich danach sehnt, sein Heim wiederzusehen,

      nachdem er viele Jahre in Gefangenschaft verbracht hat.“4

      In mehreren Reden antwortet der Ba auf das Jammern und Wehklagen des Mannes und fordert ihn auf, das Leben wieder anzunehmen und zu genießen:

      „Lasse das Wehklagen auf sich beruhen, dieser du, der zu mir gehört, mein Bruder. Lege auf das Feuerbecken und schließe Dich dem Lebenskampf – wie Du geschildert hast – an. Sei mir hier zugetan und stelle für dich den Westen5 zurück. Wünsche erst dann in den Westen zu gelangen, wenn sich Deine Glieder dem Boden zuneigen. Nach Deinem Ermatten werde ich mich niederlassen und wir werden eine Wohnstatt zusammen machen.“6

      Selbst wenn dieser Text eine Dichtung war, zeigt er, dass auch im alten Ägypten die Selbsttötung ein Thema war, das weit über das Individuelle hinausging.

      Eine moralische oder andere Art der Wertung der Selbsttötung lässt sich aus dem Text um 1.900 v. Chr. jedoch nicht herauslesen.

      Fast 2.000 Jahre später, im Jahr 30 v. Chr., stirbt die letzte Pharaonin Ägyptens. Sie war eine der mächtigsten und schönsten Frauen der Weltgeschichte. Sie wurde als Göttin verehrt, als Hure beschimpft. Sie war Mutter von vier Kindern und Femme fatale. Geliebt und gehasst von den mächtigsten Männern ihrer Zeit. Gaius Julius Caesar und Marcus Antonius hatte sie verführt und für sich gewonnen. Octavian, der spätere Kaiser August, verfolgte sie als Feindin Roms und Rivalin seiner Macht. In Alexandria setzte er sie als Gefangene fest. Am Ende sah sie keinen anderen Ausweg, als sich selbst umzubringen. Sie lässt sich von einer Giftschlange beißen: Der Mythos „Kleopatra“ war geboren.

      Neben ihrem Leben, das von den einen verteufelt, von den anderen verherrlicht wird, ist ihr Tod bis heute ungeklärt.

      „Nach Plutarch und Cassius Dio soll die ägyptische Königin dem römischen Machthaber erfolgreich ihren angeblichen Lebenswillen vorgetäuscht und so eine weniger strenge Bewachung erreicht haben, die ihr die Ausführung ihres Selbstmordes ermöglichte. Sie nahm ein Bad und aß danach ein köstliches Mahl. Inzwischen brachte ein Bauer einen Korb, zeigte