tun in der Zeit bis zum Untergang der Sonne?
Weshalb also sagen sie, es sei nicht recht, sich selbst zu töten, o Sokrates? Denn ich habe dies auch schon, wonach du eben fragtest, vom Philolaos gehört, als er sich bei uns aufhielt, und auch schon von andern, daß man dies nicht tun dürfe. Genaues aber habe ich von keinem jemals etwas darüber gehört.
So mußt du dich noch weiter bemühen, sagte er, du kannst es ja wohl noch hören. Vielleicht aber kommt es dir auch wunderbar vor, daß dies allein unter allen Dingen schlechthin so sein soll, und auf keine Weise, wie doch sonst überall, nur bisweilen und nur für einige Menschen: nämlich es sei besser zu sterben als zu leben. Und denen nun besser wäre zu sterben, wird dir wunderbar vorkommen, daß es diesen Menschen nicht erlaubt sein solle, sich selbst wohlzutun, sondern daß sie einen andern Wohltäter erwarten sollen.
Da sagte Kebes etwas lächelnd und in seiner Mundart: Das mag Gott wissen.
Es kann freilich so scheinen, unvernünftig zu sein, sprach Sokrates, aber es hat doch auch wieder einigen Grund. Denn was darüber in den Geheimlehren gesagt wird, daß wir Menschen wie in einer Feste sind und man sich aus dieser nicht selbst losmachen und davongehen dürfe, das erscheint mir doch als eine gewichtige Rede und gar nicht leicht zu durchschauen. Wie denn auch dieses, o Kebes, mir ganz richtig gesprochen scheint, daß die Götter unsere Hüter und wir Menschen eine von den Herden der Götter sind. Oder dünkt es dich nicht so?
Allerdings wohl, sagte Kebes.
Also auch du würdest gewiß, wenn ein Stück aus deiner Herde sich selbst tötete, ohne daß du angedeutet hättest, daß du wolltest, es solle sterben, diesem zürnen und, wenn du noch eine Strafe wüßtest, es bestrafen?
Ganz gewiß, sagte er.
Auf diese Weise nun wäre es also wohl nicht unvernünftig, daß man nicht eher sich selbst töten dürfe, bis der Gott irgend eine Notwendigkeit dazu verfügt hat, wie die jetzt uns gewordene?
Dieses freilich, sagte Kebes, scheint ganz billig. Was du jedoch vorher sagtest, daß jeder Philosoph gern werde sterben wollen, dieses, o Sokrates, kommt dann ungereimt heraus; wenn doch, was wir eben sagten, sich richtig so verhält, daß Gott es ist, der uns hütet, und daß wir zu seiner Herde gehören. Denn daß nicht die Vernünftigsten gerade am unwilligsten aus dieser Pflege sich entfernen sollten, wo diejenigen für sie sorgen, welche die besten Versorger sind für alles, was ist, die Götter, das ist gar nicht zu denken. Denn sie können ja nicht glauben, daß sie sich selbst besser hüten werden, wenn sie frei geworden sind; sondern nur ein unvernünftiger Mensch könnte das vielleicht glauben, daß es gut wäre, von seinem Herrn zu fliehen, und könnte nicht bedenken, daß man ja von dem Guten nicht fliehen muß, sondern sich soviel als möglich daran halten, und daß er also unvernünftigerweise fliehen würde; der Vernünftige aber würde immer streben, bei dem zu sein, der besser wäre als er. Und so käme ja wohl, o Sokrates, das Gegenteil von dem heraus, was eben gesagt ward: den Vernünftigen nämlich ziemte es, ungern zu sterben, und nur den Unvernünftigen gern.“14
Dieser kurze Ausschnitt aus Platons „Phaidon“ zeigt, dass Sokrates bereit ist, für seine Ideen zu sterben. Aber er spricht sich hier, so wie später auch Platon (428 v. Chr.–348 v. Chr.) oder Aristoteles (384 v. Chr.–328 v. Chr.), klar gegen die Selbsttötung aus.
Bleibt die Frage, hat Sokrates sich selbst getötet, als er den Schierlingsbecher nahm? War es ein Freitod oder eine erzwungene Selbsthinrichtung?
„Ich verstehe, sagte Sokrates. Beten aber darf man doch zu den Göttern und muß es, daß die Wanderung von hier dorthin glücklich sein möge, worum denn auch ich hiermit bete, und so möge es geschehen!
Und wie er dies gesagt, setzte er an, und ganz frisch und unverdrossen trank er aus. Und von uns waren die meisten bis dahin ziemlich imstande gewesen, sich zu halten, daß sie nicht weinten; als wir aber sahen, daß er trank und getrunken hatte, nicht mehr.“15
• Platon
Das eigentliche Wesen des Menschen ist seine Seele. Diese ist nicht in unserer physischen Welt, sondern in einer transzendenten Ideenwelt beheimatet. Diese zeit- und raumlose Welt ist die ursprüngliche Wirklichkeit, von der die physische Welt abhängt. Die Existenz des Menschen ist also keine eigenständige, unabhängige, sondern eine Projektion der Ideenwelt, die in der physischen Welt nur zur materiellen Erscheinung kommt. Die Urbilder der Ideenwelt verleihen den Abbildern der physischen Welt Gestalt.
Aus dieser komplexen Weltsicht heraus sagt Platon, dass der Mensch in der Macht der Götter steht und deswegen nur mit Erlaubnis oder auf Befehl der Götter das Leben verlassen dürfe. Wer sich gar aus Schlaffheit und unmännlicher Feigheit umbringe, solle an unbebauten, namelosen Plätzen ruhmlos bestattet werden.
• Aristoteles
Noch deutlicher spricht sich Aristoteles gegen die Selbsttötung aus. Er sieht den Selbstmord durch das Gesetz der Polis16 verboten: „Recht in einem Sinne ist, was vom Gesetze in Bezug auf jede einzelne Tugend geboten ist. Nun gebietet das Gesetz aber zum Beispiel nicht, sich selbst zu tödten; was es aber nicht zu tödten gebietet, das zu tödten verbietet es.“17
Er spricht auch über die entsprechende Bestrafung, den Verlust von Ansehen und Ehre: „Er leidet ja freiwillig, und niemand leidet freiwillig Unrecht. Darum straft ihn auch die Obrigkeit und haftet dem Selbstmörder, als einem Menschen, der sich am gemeinen Wesen versündigt hat, eine Makel an.“18
Der „Selbstmörder“, so Aristoteles, verletzt durch seine Tat seine Pflichten gegenüber der Gesellschaft. Somit sei es verantwortungslos, sich selbst zu töten. Und die Gesellschaft habe das Recht, mit schärfsten Strafen zu reagieren.
An anderer Stelle wertet Aristoteles den Selbstmord als Anzeichen von Weichlichkeit. Dann, wenn der Selbstmörder durch seine Tat den Übeln des Lebens fliehen will. Er rät „dem Feigling“ dazu, sich der Tugend der Tapferkeit zuzuwenden, anstatt sein Wohl im Tod zu suchen.
Nach Aristoteles kann es keine guten Gründe geben, sich das Leben zu nehmen.
• Hegesias
Eine ganz andere Sicht vertrat der griechische Philosoph Hegesias von Kyrene. Er lebte und wirkte um 300 v. Chr. in Alexandria.
Die Metropole am Mittelmeer, die Alexander der Große etwa 30 Jahre vorher gegründet hatte, wuchs zu dieser Zeit nicht nur zum wirtschaftlichen und politischen, sondern auch zum geistigen Zentrum der hellenistischen Welt.
Hegesias war als Denker aus der Schule der Kyrenaiker19 ein Hedonist. „Hedonismus“, vom Griechischen „hedone“, bedeutet Freude, Vergnügen, Lust.
Der Leitgedanke der Hedonisten in der Antike war, dass einzig die Maximierung von Lust und Freude – körperlicher wie auch seelischer – und die Vermeidung von Schmerz und Leid als höchstes zu erreichendes Ideal anzusehen sind – als eigentlicher Sinn des Lebens.
Hegesias entwickelte seine Gedanken vom Hedonismus zu einem seltsam radikalen Pessimismus. Das Leben, so argumentierte er, halte in den meisten Fällen mehr Schmerz als Lust bereit. Da die Lust also unerreichbar ist, gilt es zumindest, Schmerz und Leid zu vermeiden. Der Tod birgt diese totale und einzig wirkliche Befreiung vom Leid. Im Tod gibt es weder Lust noch Schmerz. Daher ist er besser als das Leben. Der Weise kann also in letzter Konsequenz nur zu dem Schluss kommen, sich selbst zu töten.
Seine Werke und Schriften, in denen er diese Philosophie darlegte, sind nicht erhalten geblieben. Aber seine Reden müssen so vortrefflich und für die Massen verführerisch gewesen sein, dass die Menschen sich scharenweise das Leben nahmen.
Mit seinen Reden gegen das Leben verdiente er sich schnell den Beinamen „Peisithanatos“, der „Zum-Tode-Ratende“.
Die Frage bleibt:
Warum ist er seinem eigenen Rat nicht gefolgt?
Warum hat er selbst nicht diesen letzten Schritt des Weisen getan?
König Ptolemaios I. Lagu machte dem Spuk ein Ende und untersagte dem „Zum-Tode-Ratenden“, weiterhin in öffentlicher