Alfie Kohn

Liebe und Eigenständigkeit


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schikanieren, die Stirn bieten und Gruppendruck widerstehen können, vor allem wenn es um Sex und Drogen geht. Doch wenn es uns wichtig ist, dass unsere Kinder nicht „Opfer der Ideen anderer“ werden, müssen wir sie lehren, „selbst über alle Ideen, einschließlich der von Erwachsenen, nachzudenken“.8 Oder anders herum: Wenn wir zu Hause großen Wert auf Gehorsam legen, kann das dazu führen, dass unsere Kinder auch das befolgen, was Menschen außerhalb von zu Hause ihnen sagen. Die Autorin Barbara Coloroso bemerkt, dass sie Eltern von Teenagern oft klagen hört: „Er war so ein braves Kind, so wohlerzogen, hatte so gute Manieren, hat sich so gut gekleidet. Doch sehen Sie sich ihn jetzt an!“ Darauf antwortet sie:

      Seit er klein war, zog er sich so an, wie Sie es ihm sagten; er verhielt sich so, wie Sie es ihm sagten; er sagte das, was Sie ihm vorsagten. Er hat stets darauf gehört, dass ihm jemand anders sagte, was er tun sollte … Er hat sich nicht verändert. Er hört noch immer darauf, dass ihm jemand anders sagt, was er tun soll. Das Problem ist nur, dass derjenige nicht mehr Sie sind, sondern Leute in seinem Alter.

      Je mehr wir über unsere langfristigen Ziele für unsere Kinder nachdenken, umso komplizierter wird es. Jedes Ziel könnte sich als problematisch herausstellen, wenn wir es isoliert betrachten: Nur wenige Eigenschaften sind so wichtig, dass wir bereit wären, alles andere zu opfern, um sie zu erreichen. (Zum Thema Glück etwa siehe Kapitel 10, Anmerkung 1.) Vielleicht ist es klüger, Kindern zu helfen, ein Gleichgewicht zwischen entgegengesetzten Eigenschaften zu erreichen – also etwa unabhängig, aber auch fürsorglich zu sein oder zuversichtlich und dennoch bereit, die eigenen Grenzen zu erkennen. Ebenso betonen manche Eltern vielleicht, ihnen sei es am wichtigsten, ihren Kindern zu helfen, sich selbst Ziele zu setzen und sie zu erreichen. Wenn wir derselben Ansicht sind, müssen wir uns auf die Möglichkeit gefasst machen, dass sie andere Entscheidungen treffen als wir und sich Werte zu eigen machen, die nicht dieselben sind wie unsere.

      Das Nachdenken über langfristige Ziele kann uns in vielerlei Richtungen führen, doch was ich betonen will, ist, dass wir gründlich über diese Ziele nachdenken sollten. Sie sollten unser Prüfstein sein und uns daran hindern, im Treibsand des täglichen Lebens mit seiner ständigen Versuchung, alles zu tun, wodurch sich Folgsamkeit erreichen lässt, zu versinken. Als Vater zweier Kinder kenne ich die Frustrationen und Herausforderungen, die zu diesem Job dazugehören, nur zu gut. Es gibt Zeiten, wenn meine besten Strategien versagen, wenn mir die Geduld reißt, wenn ich einfach nur will, dass meine Kinder tun, was ich ihnen sage. Es ist schwer, den Gesamtzusammenhang im Blick zu behalten, wenn eins meiner Kinder im Restaurant herumkreischt. Im Übrigen ist es manchmal ebenso schwer, daran zu denken, was wir eigentlich für Menschen sein wollen, wenn wir gerade einen hektischen Tag erleben oder merken, wie uns weniger edle Regungen überkommen. Es ist schwer, aber es lohnt sich.

      Manche Menschen begründen das, was sie tun, dadurch, dass sie die bedeutsameren Ziele – etwa den Versuch, ein guter Mensch zu sein oder sein Kind zu einem guten Menschen zu erziehen – als „idealistisch“ abtun. Doch das bedeutet nur, Ideale zu haben, ohne die wir nicht viel wert sind. „Idealistisch“ muss nicht „praxisfern“ bedeuten. Ja, sowohl pragmatische als auch moralische Gründe sprechen dafür, sich auf langfristige Ziele statt auf sofortige Folgsamkeit zu konzentrieren und daran zu denken, was unsere Kinder brauchen, statt nur daran, was wir von ihnen verlangen, und das ganze Kind statt nur das Verhalten zu sehen.

      In diesem Buch werde ich erläutern, warum es sinnvoll ist, sich von den üblichen Strategien, Kinder als Objekte zu behandeln, abzuwenden und Wege zu finden, mit ihnen zusammen zuarbeiten. Zwar wird mit vielen Menschen – Erwachsenen wie Kindern – ständig etwas getan, als wären sie Objekte. Doch es genügt nicht, zu antworten: „Nun, so ist die Welt eben“, wenn man etwas dagegen einwendet, Strafen und Belohnungen zu benutzen, um das Verhalten von Menschen zu steuern. Die entscheidende Frage lautet: Was für Menschen sollen unsere Kinder werden? Menschen, die Dinge so hinnehmen, wie sie sind, oder Menschen, die versuchen, etwas zu verbessern?

      So etwas zu sagen, ist subversiv. Es verkehrt konventionelle Erziehungsratschläge ins Gegenteil und es stellt das kurzsichtige Bemühen, sie dazu zu bringen, nach unserer Pfeife zu tanzen, auf die Probe. Für manche von uns stellt es vielleicht vieles von dem, was wir tun – und möglicherweise auch das, was mit uns getan wurde, als wir klein waren –, in Frage.

      In diesem Buch geht es nicht nur um Erziehungsmethoden, sondern umfassender um die Art, wie wir uns unseren Kindern gegenüber verhalten sowie darum, wie wir über sie denken und fühlen. Das Buch soll Ihnen helfen, zu Ihrer eigenen Intuition zurückzufinden und sich bewusst zu werden, was wirklich wichtig ist – nachdem der Schlafanzug angezogen ist, die Hausaufgaben erledigt und die Geschwisterstreitereien endlich beigelegt sind. Es fordert sie auf, Ihre grundlegenden Annahmen über Eltern-Kind-Beziehungen zu überdenken.

      Vor allem bietet dieses Buch praktische Alternativen für die Taktiken, die wir manchmal versucht sind zu benutzen, um unsere Kinder dazu zu bewegen, sich besser zu benehmen oder erfolgreicher zu werden. Ich glaube, dass diese Alternativen unseren Kindern helfen können, zu guten Menschen heranzuwachsen – gut im umfassendsten Sinne des Wortes.

1Wenn Elternliebe an Bedingungen geknüpft ist

      Bisweilen hat mich der Gedanke getröstet, dass sich meine Kinder trotz all der Fehler, die ich als Vater gemacht habe (und die ich weiterhin machen werde), gut entwickeln werden, ganz einfach deshalb, weil ich sie aus ganzem Herzen liebe. Schließlich heilt Liebe alle Wunden. Alles besiegt die Liebe. Liebe bedeutet, sich nie dafür entschuldigen zu müssen, dass man heute Morgen in der Küche einen Wutanfall bekommen hat.

      Dieser beruhigende Gedanke beruht auf der Vorstellung, es gäbe ein Ding namens Elternliebe, eine einzige Substanz, die man seinen Kindern in einer größeren oder kleineren Menge schenken könne (wobei eine größere Menge natürlich besser sei). Doch was ist, wenn sich diese Annahme als verhängnisvolle Vereinfachung erweist? Was ist, wenn es tatsächlich verschiedene Arten gibt, ein Kind zu lieben, und wenn nicht alle davon gleichermaßen wünschenswert sind? Die Psychoanalytikerin Alice Miller hat einmal bemerkt, es sei möglich, ein Kind hingebungsvoll zu lieben – ihm jedoch nicht die Art von Liebe zu schenken, die es braucht. Falls sie Recht hat, ist nicht nur die Frage entscheidend, ob – oder wie sehr – wir unsere Kinder lieben. Es kommt auch darauf an, wie wir sie lieben.

      Wenn wir das verstanden haben, könnten wir ziemlich schnell eine lange Liste verschiedener Arten elterlicher Liebe erstellen und Ratschläge geben, welche besser sind als andere. In diesem Buch wird ein solcher Unterschied näher beleuchtet: Kinder dafür zu lieben, was sie tun, oder Kinder dafür zu lieben, wer sie sind. Die erste Art von Liebe ist an Bedingungen geknüpft, das heißt, Kinder müssen sich unsere Liebe dadurch verdienen, dass sie sich so verhalten, wie wir es für angemessen halten, oder dadurch, dass ihre Leistungen unseren Erwartungen entsprechen. Die zweite Art von Liebe ist bedingungslos: Sie hängt nicht davon ab, wie sie sich verhalten, ob sie erfolgreich sind oder gute Manieren haben oder irgendetwas sonst.

      Ich möchte das Konzept bedingungsloser Elternliebe mit einem Werturteil und einer Voraussage begründen. Das Werturteil lautet ganz einfach: Kinder sollten sich unsere Anerkennung nicht verdienen müssen. Wir sollten sie, wie meine Freundin Deborah sagt, „ohne jeden Grund“ lieben. Darüber hinaus kommt es nicht nur darauf an, dass wir selbst davon überzeugt sind, sie bedingungslos zu lieben, sondern dass sie sich auch auf diese Weise geliebt fühlen.

      Die Voraussage lautet, dass es sich positiv auswirken wird, wenn wir Kinder bedingungslos lieben. Es ist nicht nur in moralischer Hinsicht das Richtige, sondern es ist auch klug, dies zu tun. Kinder haben das Bedürfnis, so, wie sie sind, und als die Menschen, die sie sind, geliebt zu werden. Wenn sie das erleben, können sie sich selbst als im Grunde gute Menschen annehmen, auch wenn ihnen etwas misslingt oder sie einmal versagen. Und wenn dieses Grundbedürfnis erfüllt ist, sind sie auch freier, andere Menschen anzunehmen und ihnen zu helfen. Kurz gesagt, bedingungslose Liebe ist das, was Kinder brauchen, um zu gedeihen.

      Dennoch tendieren wir Eltern oft dazu, unsere Anerkennung an Bedingungen zu knüpfen. Dies liegt nicht nur an den Überzeugungen, die uns vermittelt wurden, sondern auch an der Art, wie wir erzogen wurden. Man könnte sagen, wir wurden dazu konditioniert, unsere Liebe von Bedingungen abhängig