Alfie Kohn

Liebe und Eigenständigkeit


Скачать книгу

zu haben: Wenn man im Internet nach Varianten des Wortes bedingungslos sucht, stößt man größtenteils auf Diskussionen über Religion oder über Haustiere. Offenbar fällt es vielen Leuten schwer, sich Liebe zwischen Menschen ohne Bedingungen vorzustellen.

      Für ein Kind beziehen sich diese Bedingungen zum Teil auf gutes Benehmen und zum Teil auf Leistung. In diesem und dem folgenden Kapitel geht es um das Benehmen und vor allem darum, wie viele verbreitete Erziehungsstrategien bei Kindern das Gefühl hervorrufen, sie würden nur dann akzeptiert, wenn sie sich so benehmen, wie wir es von ihnen verlangen. In Kapitel 5 werde ich erläutern, wie manche Kinder schlussfolgern, die Liebe ihrer Eltern hänge von ihrer Leistung – etwa in der Schule oder beim Sport – ab.

      In der zweiten Hälfte dieses Buches mache ich konkrete Vorschläge, wie wir diesen Ansatz hinter uns lassen und unseren Kindern etwas schenken können, was der Art von Liebe, die sie brauchen, näher kommt. Zunächst jedoch möchte ich das Konzept von Elternliebe, die an Bedingungen geknüpft ist, umfassender untersuchen: welche Annahmen ihm zugrunde liegen (und inwiefern sich diese von denen unterscheiden, die bedingungsloser Liebe zugrunde liegen) und welche Auswirkungen es auf Kinder hat.

      Zwei Arten, mit Kindern umzugehen: Annahmen, die ihnen zugrunde liegen

      Meine Tochter Abigail machte einige Monate nach ihrem vierten Geburtstag eine schwierige Phase durch, vielleicht weil ein Rivale in die Familie gekommen war. Sie widersetzte sich, wenn man sie um etwas bat, war oft schlecht gelaunt, schrie, stampfte mit den Füßen auf. Alltägliche Rituale eskalierten schnell zu Machtkämpfen. Ich weiß noch, wie sie eines Abends versprochen hatte, nach dem Essen gleich in die Wanne zu gehen. Doch sie tat es nicht – und als wir sie an ihr Versprechen erinnerten, schrie sie so laut, dass ihr kleiner Bruder aufwachte. Als wir sie baten, leiser zu sein, schrie sie weiter.

      Nun stellt sich folgende Frage: Sollten meine Frau und ich, nachdem sich alles wieder beruhigt hatte, zum normalen Abendritual, das darin bestand, mit Abigail zu kuscheln und ihr ein Buch vorzulesen, übergehen? Bei einem Erziehungsansatz, bei dem Elternliebe an Bedingungen geknüpft ist, lautet die Antwort nein: Wir würden ihr inakzeptables Verhalten belohnen, wenn wir die üblichen angenehmen Beschäftigungen darauf folgen ließen. Diese Beschäftigungen sollten heute ausfallen und man sollte ihr sanft, aber bestimmt mitteilen, warum diese „Konsequenz“ verhängt werde.

      Diese Handlungsweise kommt vielen von uns angenehm vertraut vor und stimmt mit dem überein, was in vielen Elternratgebern empfohlen wird. Darüber hinaus muss ich zugeben, dass ich eine gewisse Genugtuung dabei empfunden hätte, meine Autorität zu demonstrieren, weil ich mich über Abigails Trotz wirklich ärgerte. Ich hätte das Gefühl gehabt, dass ich, der Vater, mich durchsetzte, ihr klarmachte, dass sie sich nicht so aufführen durfte. Ich wäre wieder derjenige, der die Macht hätte.

      Der bedingungslose Erziehungsansatz sagt jedoch, dass dies eine Versuchung sei, der man widerstehen sollte, und dass wir sehr wohl mit unserer Tochter kuscheln und ihr wie gewohnt eine Geschichte vorlesen sollten. Das bedeutet allerdings nicht, dass wir das, was gerade geschehen war, einfach ignorieren sollten. Bedingungslose Elternliebe ist kein schicker Begriff für die Vorstellung, man solle Kinder alles tun lassen, was sie wollen. Es ist sehr wichtig (sobald der Sturm vorüber ist), etwas zu lehren, gemeinsam nachzudenken – und genau das taten wir auch mit unserer Tochter, nachdem wir ihr eine Geschichte vorgelesen hatten. Was wir ihr vermitteln wollten, konnte sie viel besser lernen, wenn sie wusste, dass unsere Liebe zu ihr durch ihr Verhalten ungeschmälert war.

      Ob wir uns darüber Gedanken gemacht haben oder nicht – jeder dieser beiden Erziehungsstile beruht auf ganz bestimmten Ansichten über Psychologie, über Kinder und sogar über die Natur des Menschen. Zunächst einmal steht der an Bedingungen geknüpfte Erziehungsansatz in einem engen Zusammenhang mit einer als Behaviorismus bekannten Gedankenrichtung, die im Allgemeinen mit B. F. Skinner verbunden wird. Sie zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie den Blick ausschließlich auf das Verhalten richtet, wie der Name schon sagt. Gemäß dieser Ansicht ist an Menschen nur das von Bedeutung, was man sehen und messen kann. Einen Wunsch oder eine Angst kann man nicht sehen, daher konzentriert man sich nur darauf, was Menschen tun.

      Weiterhin glaubt man, alle Verhaltensweisen träten nur auf, wenn sie „verstärkt“ würden, und hörten ebenso wieder auf, wenn sie nicht „verstärkt“ würden. Behavioristen gehen davon aus, dass sich alles, was wir tun, dadurch erklären lässt, ob es eine Art Belohnung nach sich zieht, sei es eine, die gezielt angeboten wird, oder eine, die von Natur aus auftritt. Wenn sich ein Kind seinen Eltern gegenüber liebevoll verhält oder seinen Nachtisch mit einem Freund teilt, liege das nur daran, dass dies in der Vergangenheit positive Folgen für es gehabt hat.

      Kurzum: Äußere Faktoren, zum Beispiel wofür man schon einmal belohnt (oder bestraft) wurde, bestimmen, wie „wir uns verhalten“ – und „wie wir uns verhalten“, ist gleichbedeutend mit „wer wir sind“. Sogar Menschen, die noch nie ein Buch von Skinner gelesen haben, scheinen seine Annahmen akzeptiert zu haben. Wenn Eltern und Lehrer ständig über das „Verhalten“ eines Kindes sprechen, tun sie so, als käme es nur darauf an, was auf der Oberfläche zu sehen ist. Es spielt keine Rolle, was für ein Mensch ein Kind ist, was es denkt oder fühlt oder braucht. Vergessen Sie Motive und Werte: Es kommt nur darauf an, das, was sie tun, zu ändern. Das ist natürlich eine Aufforderung, sich auf Erziehungsmethoden zu verlassen, deren einziger Zweck darin besteht, ein bestimmtes Verhalten von Kindern zu fördern oder abzustellen.

      Ein konkreteres Beispiel für alltäglichen Behaviorismus: Vielleicht sind Sie schon Eltern begegnet, die ihre Kinder zwingen, sich zu entschuldigen, wenn sie etwas Verletzendes oder Gemeines getan haben. („Kannst du sagen, dass es dir leid tut?“) Was geschieht hier? Glauben die Eltern, dadurch, dass sie ihre Kinder dazu bewegen, diesen Satz auszusprechen, stellte sich auf wundersame Weise das Gefühl ein, es tue ihnen wirklich leid, trotz jedes gegenteiligen Anscheins? Oder, was noch schlimmer wäre, interessiert es Sie gar nicht, ob es dem Kind wirklich leid tut, weil Ehrlichkeit unwichtig ist und es nur darauf ankommt, die richtigen Worte auszusprechen? Durch erzwungene Entschuldigungen lernen Kinder nur, Dinge zu sagen, die sie gar nicht wirklich meinen – mit anderen Worten, zu lügen.

      Doch dies ist nicht einfach eine isolierte Erziehungspraxis, die man überdenken sollte, sondern eins der vielen möglichen Beispiele dafür, wie das Skinnersche Denken – die alleinige Konzentration auf das Verhalten – unser Verständnis von Kindern eingeschränkt und der Art, wie wir mit ihnen umgehen, geschadet hat. Man kann dies auch bei Programmen feststellen, mit deren Hilfe kleine Kinder lernen sollen, alleine einzuschlafen oder aufs Töpfchen zu gehen. Vom Blickwinkel dieser Programme aus gesehen, spielt es keine Rolle, warum ein Kind im Dunkeln weint. Der Grund könnte Angst, Langeweile, Einsamkeit, Hunger oder sonst etwas sein. Ebenso ist es unwichtig, warum ein Kleinkind nicht in die Toilette pinkeln will, wenn seine Eltern es dazu auffordern. Experten, die Schritt-für-Schritt-Rezepte anbieten, damit Kinder „lernen“, alleine in einem Zimmer zu schlafen, oder die uns empfehlen, das Pinkeln in die Toilette mit Sternchen, Süßigkeiten oder Lob zu belohnen, interessieren sich nicht für die Gedanken, Gefühle und Absichten, die einem Verhalten zugrunde liegen, sondern nur für das Verhalten als solches. (Zwar habe ich nicht nachgezählt, um den Beweis zu erbringen, aber ich würde versuchsweise folgende Faustregel vorschlagen: Der Wert eines Erziehungsbuches ist umgekehrt proportional zu der Anzahl der Erwähnungen des Wortes Verhalten.)

      Kommen wir noch einmal auf Abigail zu sprechen. Bei einem an Bedingungen geknüpften Erziehungskonzept wird angenommen, dass wir, wenn wir ihr vorlesen oder auf andere Weise das Fortbestehen unserer Liebe zu ihr zum Ausdruck bringen, sie nur ermutigen, noch einen Tobsuchtsanfall zu bekommen. Sie lerne, es sei in Ordnung, das Baby zu wecken und sich gegen das Baden zu wehren, weil sie unsere Zuneigung angeblich als Verstärkung für das, was sie getan hat, interpretiert.

      Bei einem bedingungslosen Erziehungsansatz sieht man diese Situation – und Menschen im Allgemeinen – völlig anders. Zunächst einmal sollten wir diesem Konzept zufolge darüber nachdenken, dass die Gründe für das, was Abigail getan hat, möglicherweise mehr „innen“ als „außen“ zu finden sind. Ihr Handeln kann nicht unbedingt auf mechanische Weise erklärt werden, indem man externe Faktoren wie positive Reaktionen auf früheres ähnliches Verhalten