die Frage ist, ob oder unter welchen Umständen eine ähnliche „Gegenseitigkeitsregel“ auch für unseren Umgang mit Freunden und Familienmitgliedern gilt. Sozialpsychologen haben festgestellt, dass es tatsächlich Personen gibt, zu denen wir eine Art Austauschbeziehung haben: Ich tue nur etwas für dich, wenn du etwas für mich tust (oder mir etwas gibst). Doch sie fügen hinzu, dass dies (glücklicherweise) nicht für all unsere Beziehungen gilt, von denen manche auf Zuneigung statt auf Austausch beruhen. Eine Studie kam sogar zu dem Ergebnis, dass Menschen, die ihre Beziehungen zu ihrem Ehepartner als ein Tauschgeschäft sehen und darauf achten, genau so viel zu bekommen, wie sie geben, oft Ehen führen, die weniger befriedigend sind.4
Wenn unsere Kinder heranwachsen, werden sie reichlich Gelegenheit haben, wirtschaftlich zu agieren, ihre Rolle als Verbraucher und Arbeitskraft einzunehmen, wobei die Regeln des Eigeninteresses und die Bedingungen jedes wirtschaftlichen Austausches präzise kalkuliert werden können. Doch das bedingungslose Erziehungskonzept plädiert dafür, dass die Familie ein sicherer Hafen, ein Ort der Zuflucht vor solchen Geschäften sein sollte. Insbesondere sollte man in keiner Hinsicht für die Liebe seiner Eltern bezahlen müssen. Sie ist schlicht und einfach ein Geschenk. Es ist etwas, worauf alle Kinder ein Anrecht haben.
Wenn Ihnen das einleuchtet und auch andere der zugrunde liegenden Annahmen des bedingungslosen Erziehungskonzepts für Sie plausibel klingen – dass wir das ganze Kind und nicht nur einzelne Verhaltensweisen betrachten sollten, dass wir nicht stets das Schlechteste über die Neigungen von Kindern annehmen sollen und so weiter –, müssen wir all die konventionellen Erziehungsmethoden, die auf dem Gegenteil dieser Annahmen beruhen, in Frage stellen. Diese Praktiken, die das an Bedingungen geknüpfte Erziehungskonzept bestimmen, sind meistens Arten, mit Kindern (als Objekten) etwas zu tun, um Gehorsam herbeizuführen. Im Gegensatz dazu sind die Empfehlungen in der zweiten Hälfte dieses Buches, die sich ganz natürlich aus dem bedingungslosen Erziehungsansatz ergeben, Variationen des Themas, mit Kindern zusammenzuarbeiten, um ihnen zu helfen, gute Menschen zu werden und gute Entscheidungen zu treffen.
Die Unterschiede zwischen diesen beiden Konzepten könnte man also folgendermaßen zusammenfassen:
BEDINGUNGSLOS | AN BEDINGUNGEN GEKNÜPFT | |
Blick richtet sich auf | Das ganze Kind (einschließlich der Gründe, Gedanken und Gefühle) | Verhalten |
Sicht der menschlichen Natur | Positiv oder ausgeglichen | Negativ |
Sicht der Elternliebe | Ein Geschenk | Ein Privileg, das verdient werden muss |
Strategien | Zusammenarbeiten (Problemlösungen finden) | Mit Kindern als Objekten etwas tun (Kontrolle durch Belohnungen und Bestrafungen) |
Die Folgen eines an Bedingungen geknüpften Erziehungskonzepts
Ebenso, wie es sein kann, dass unsere Erziehungsmethoden nicht im Einklang mit unseren langfristigen Zielen für unsere Kinder stehen (siehe Einleitung), kann es einen Widerspruch zwischen Methoden des an Bedingungen geknüpften Erziehungsansatzes und unseren tiefsten Überzeugungen geben. In beiden Fällen kann es sinnvoll sein, zu überdenken, was wir mit unseren Kindern tun. Doch die Argumente gegen ein an Bedingungen geknüpftes Erziehungskonzept hören nicht damit auf, dass es im Zusammenhang mit Werten und Annahmen steht, die viele von uns beunruhigend finden. Sie werden sogar noch stärker, wenn wir untersuchen, wie sich ein solcher Erziehungsstil tatsächlich auf Kinder auswirkt.
Vor fast einem halben Jahrhundert antwortete der bahnbrechende Psychologe Carl Rogers auf die Frage: „Was geschieht, wenn die Liebe der Eltern davon abhängt, was Kinder tun?“ Er erklärte, dass die Empfänger einer solchen Liebe die Teile von sich, die nicht geschätzt werden, ablehnen. Schließlich sehen sie sich selbst nur dann als wertvoll an, wenn sie sich auf eine bestimmte Weise verhalten (oder entsprechend denken oder fühlen).5 Das ist im Grunde ein Rezept für eine Neurose – oder schlimmer. In einer Publikation des irischen Department of Health and Children (die von anderen Organisationen auf der ganzen Welt verbreitet und übernommen wurde) sind zehn Beispiele für „emotionale Misshandlung“ aufgeführt. Die Nummer zwei auf dieser Liste, gleich hinter „ständiger Kritik, Sarkasmus, Feindseligkeit oder Beschuldigung“, lautet „an Bedingungen geknüpfte Erziehung, bei der das Maß an Zuneigung, das einem Kind gegenüber ausgedrückt wird, von seinem Verhalten oder seinen Handlungen abhängig gemacht wird“.6
Wenn man sie fragte, würden die meisten Eltern beteuern, natürlich liebten sie ihre Kinder bedingungslos, und dies gelte trotz der Verwendung von Strategien, deren Problematik ich (und andere Autoren) herausgestellt habe. Manche Eltern würden vielleicht sogar sagen, dass sie ihre Kinder auf diese Weise disziplinieren, weil sie sie lieben. Doch ich möchte auf eine Bemerkung zurückkommen, die ich bisher nur nebenbei geäußert habe. Welche Gefühle wir gegenüber unseren Kindern empfinden, ist nicht so wichtig wie die Frage, wie sie diese Gefühle erleben und wie sie unsere Art, mit ihnen umzugehen, ansehen. Pädagogen erinnern uns daran, dass es in einer Klasse nicht so sehr darauf ankommt, was der Lehrer lehrt, wie darauf, was der Schüler lernt. So verhält es sich auch in Familien. Es kommt auf die Botschaft an, die bei unseren Kindern ankommt, nicht auf die, die wir zu senden glauben.
Forscher, die sich bemüht haben, die Auswirkungen unterschiedlicher Erziehungsstile zu untersuchen, hatten oft Schwierigkeiten, das, was bei den Leuten zu Hause tatsächlich geschieht, zu ermitteln und zu erfassen. Es ist nicht immer möglich, die relevanten Interaktionen aus erster Hand zu beobachten (oder auf Video aufzuzeichnen), daher mussten einige Versuche in Labors durchgeführt werden, wo ein Elternteil und ein Kind aufgefordert wurden, gemeinsam etwas zu tun. Manchmal werden Eltern auch befragt oder gebeten, einen Fragebogen auszufüllen, um Angaben über ihren Erziehungsstil zu machen. Wenn die Kinder alt genug sind, werden vielleicht sie gefragt, was ihre Eltern tun – oder, wenn sie schon erwachsen sind, was ihre Eltern früher getan haben.
Jede dieser Methoden hat ihre Nachteile und die Wahl der Methode kann sich auf die Studienergebnisse auswirken. Wenn Eltern und Kinder zum Beispiel aufgefordert werden, einzeln zu beschreiben, was bei ihnen zu Hause üblich ist, weichen ihre Schilderungen oft deutlich voneinander ab.7 Wenn es eine objektive Möglichkeit gibt, die Wahrheit herauszufinden, erweisen sich die Berichte der Kinder über das Verhalten ihrer Eltern interessanterweise als genauso zutreffend wie die Berichte der Eltern über ihr eigenes Verhalten.8
Doch die entscheidende Frage lautet nicht, wer Recht hat, was sich ohnehin kaum beantworten lässt, wenn es um Gefühle geht. Vielmehr kommt es darauf an, wessen Sicht im Zusammenhang mit verschiedenen Auswirkungen auf die Kinder steht. Betrachten wir eine Studie, in der eine Variante des an Bedingungen geknüpften Erziehungsansatzes untersucht wurde. Kindern, deren Eltern angaben, auf diese Weise zu erziehen, ging es nicht schlechter als Kindern, deren Eltern angaben, anders zu erziehen. Doch als der Forscher die Kinder daraufhin einteilte, ob sie den Eindruck hatten, dass ihre Eltern diesen Erziehungsstil verwendeten, war der Unterschied auffallend. Im Durchschnitt ging es Kindern, die sagten, nach ihrem Empfinden sei die Zuneigung ihrer Eltern zu ihnen an Bedingungen geknüpft, nicht so gut wie Kindern, die den gegenteiligen Eindruck hatten.9 Die Einzelheiten der Studie werde ich später diskutieren; hier geht es mir darum, dass das, was wir zu tun glauben (oder wovon wir überzeugt sind, dass wir es nicht tun), hinsichtlich der Auswirkungen auf unsere Kinder keine so große Rolle spielt wie die Art, wie sie unser Tun erleben.
Im Lauf der letzten Jahre hat es einen kleinen Anstieg der Forschungsarbeiten über den an Bedingungen geknüpften Erziehungsstil gegeben, und eine der bemerkenswertesten wurde 2004 veröffentlicht. Im Rahmen dieser Studie wurden über hundert Hochschulstudenten einzeln befragt, ob die Liebe, die sie von ihren Eltern bekommen hätten, von einem der folgenden vier Faktoren abhängig gewesen sei: ob der Betreffende als Kind (1) in der Schule erfolgreich gewesen sei, (2) sich beim Sport angestrengt habe, (3) sich anderen gegenüber rücksichtsvoll verhalten habe oder (4) negative Gefühle, wie etwa Angst, unterdrückt habe. Den Studenten wurden noch mehrere andere Fragen gestellt, unter anderem, ob sie tatsächlich dazu neigten, sich so zu verhalten (also ihre Gefühle zu verbergen, viel für Prüfungen lernten usw.), und wie sie sich mit ihren Eltern verstanden.
Es stellte sich heraus, dass das Knüpfen von Liebe an Bedingungen zumindest teilweise das erwünschte Verhalten hervorrief. Bei Kindern, die nur dann