Alfie Kohn

Liebe und Eigenständigkeit


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      Das bedingungslose Erziehungskonzept geht davon aus, dass Verhaltensweisen nur der äußere Ausdruck von Gefühlen und Gedanken, Bedürfnissen und Absichten sind. Auf den Punkt gebracht: Es geht um das Kind, das ein bestimmtes Verhalten zeigt, nicht nur um das Verhalten selbst. Kinder sind keine Haustiere, die man dressiert, oder Computer, die man darauf programmiert, auf eine Eingabe immer gleich zu reagieren. Kinder verhalten sich aus vielen unterschiedlichen Gründen, die manchmal schwer zu ermitteln sind, so und nicht so. Doch wir können diese Gründe nicht einfach ignorieren und nur auf die Auswirkungen (sprich die Verhaltensweisen) reagieren. Ja, jeder dieser Gründe erfordert wahrscheinlich eine ganz unterschiedliche Vorgehensweise. Sollte es sich zum Beispiel herausstellen, dass Abigail so trotzig war, weil es sie verunsichert, dass wir ihrem kleinen Bruder so viel Aufmerksamkeit widmen, müssen wir uns damit auseinandersetzen und nicht einfach versuchen, die Art, wie sie ihre Angst zum Ausdruck bringt, zu unterdrücken.

      Neben unseren Bemühungen, Gründe für bestimmte Verhaltensweisen zu finden und uns damit zu befassen, ist eines unbedingt erforderlich: Sie muss wissen, dass wir sie lieben, komme, was wolle. Ja, heute Abend ist es besonders wichtig für sie, mit uns kuscheln zu können, an dem, was wir tun, erkennen zu können, dass unsere Liebe zu ihr unerschütterlich ist. Das wird ihr helfen, diese schwierige Phase zu überstehen.

      Auf jeden Fall wird das Verhängen von etwas, was auf eine Strafe hinausläuft, kaum einen konstruktiven Beitrag leisten. Wahrscheinlich wird sie daraufhin noch einmal zu weinen anfangen. Und selbst wenn diese Maßnahme sie vorübergehend zum Schweigen bringt oder sie daran hindert, ihre Gefühle morgen Abend zum Ausdruck zu bringen, aus Angst, dass wir dann auf Distanz zu ihr gehen, wird die Gesamtwirkung kaum positiv sein. Das liegt erstens daran, dass diese Maßnahme nicht berücksichtigt, was in ihrem Kopf vorgeht, und zweitens daran, dass das, was wir als Lektion für sie ansehen, in ihren Augen wie ein Liebesentzug wirkt. Im Allgemeinen wird sie sich dadurch noch unglücklicher, einsamer und hilfloser fühlen. Im Besonderen wird sie lernen, dass sie nur dann geliebt wird – und liebenswert ist –, wenn sie sich so verhält, wie wir es wollen. Die vorhandene Forschung, mit der ich mich gleich befassen werde, legt nahe, dass die Lage dadurch nur verschlimmert wird.

      Im Lauf der Jahre habe ich über diese Dinge nachgedacht und bin zu der Überzeugung gelangt, dass sich ein an Bedingungen geknüpftes Erziehungskonzept nicht allein durch den Behaviorismus erklären lässt. Noch etwas anderes spielt hier eine Rolle. Stellen Sie sich noch einmal die Situation vor: Ein kleines Mädchen schreit, offenbar ganz außer sich, und als sie sich wieder beruhigt hat, liegt ihr Vater mit dem Arm um sie im Bett und liest ihr eine Geschichte vor. Der Verfechter eines an Bedingungen geknüpften Erziehungskonzeptes erwidert darauf: „Nein, nein, nein, dadurch verstärken Sie nur ihr schlechtes Benehmen! Sie bringen ihr bei, es sei in Ordnung, ungezogen zu sein!“

      Diese Interpretation spiegelt nicht nur eine Annahme darüber wider, was Kinder in einer bestimmten Situation lernen, sondern auch wie sie lernen. Sie zeugt von einer schrecklich negativen Ansicht über Kinder – und, davon abgeleitet, über die menschliche Natur. Sie beruht auf der Annahme, dass Kinder uns ausnutzen wollen, wo sie nur können. Wenn man ihnen den kleinen Finger reicht, nehmen sie gleich die ganze Hand. Sie ziehen den schlimmstmöglichen Schluss aus einer mehrdeutigen Situation (nicht „Ich werde trotzdem geliebt“, sondern: „Ja! Es ist okay, Ärger zu machen!“). Ein Kind ohne Wenn und Aber anzunehmen wird dann nur als Erlaubnis interpretiert, sich selbstsüchtig, fordernd, gierig oder rücksichtslos zu benehmen. Zumindest teilweise beruht das an Bedingungen geknüpfte Erziehungskonzept also auf der zutiefst zynischen Überzeugung, das Annehmen von Kindern so, wie sie sind, gebe ihnen nur die Freiheit, schlecht zu sein – weil sie eben schlecht seien.1

      Im Gegensatz dazu sollten wir uns beim bedingungslosen Erziehungskonzept als Erstes ins Gedächtnis rufen, dass Abigails Ziel nicht darin besteht, mich unglücklich zu machen. Sie handelt nicht böswillig. Sie teilt mir auf die einzige Weise, die sie kennt, mit, dass etwas nicht stimmt. Das kann etwas sein, was geschehen ist, etwas, was ihr unterschwellig schon eine Weile zu schaffen macht. Dieser Ansatz zeugt von Vertrauen in Kinder und stellt die Annahme in Frage, sie würden die falsche Lektion lernen, wenn man ihnen Zuneigung schenkt, oder sie wollten sich immer schlecht benehmen, wenn sie glaubten, damit durchkommen zu können.

      Eine solche Sichtweise ist weder romantisch noch unrealistisch, noch leugnet sie die Tatsache, dass Kinder (und Erwachsene) manchmal gemeine Dinge tun. Kinder brauchen Anleitung und Hilfe, ja, aber sie sind keine kleinen Monster, die gezähmt oder gefügig gemacht werden müssen. Sie besitzen die Fähigkeit, mitfühlend oder aggressiv zu sein, altruistisch oder selbstsüchtig, kooperativ oder konkurrierend. Viel hängt davon ab, wie sie aufwachsen – einschließlich der Frage, ob sie das Gefühl haben, bedingungslos geliebt zu werden. Und wenn kleine Kinder einen Trotzanfall bekommen oder sich weigern, wie versprochen in die Badewanne zu gehen, lässt sich dies oft auf ihr Alter zurückführen – das heißt auf ihre Unfähigkeit, die Ursache ihrer Unzufriedenheit zu verstehen, ihre Gefühle auf angemessenere Weise auszudrücken, sich an ihre Versprechen zu erinnern und sie einzuhalten. Die Entscheidung zwischen einem an Bedingungen geknüpften und einem bedingungslosen Erziehungskonzept ist also eine Entscheidung zwischen zwei radikal unterschiedlichen Sichtweisen der menschlichen Natur.

      Doch es gibt noch mehr Annahmen, die wir offenlegen sollten. In unserer Gesellschaft wird uns beigebracht, etwas Gutes müsse man sich stets verdienen und dürfe es niemals geschenkt bekommen. Viele Menschen werden sogar wütend, wenn sie glauben, diese Regel sei verletzt worden. Denken Sie zum Beispiel an die Ablehnung, die viele Menschen gegenüber Sozialhilfe und denjenigen, die sie beziehen, empfinden. Oder an die rasante Ausbreitung von leistungsorientierten Entlohnungssystemen am Arbeitsplatz. Oder an die vielen Lehrer, die alles, was Spaß macht, (etwa die Pause) als eine Art Lohn dafür definieren, dass die Schüler den Erwartungen des Lehrers entsprechen.

      Letztlich spiegelt ein an Bedingungen geknüpftes Erziehungskonzept die Tendenz wider, fast jede Interaktion, sogar zwischen Mitgliedern einer Familie, als eine Art wirtschaftliche Trans aktion anzusehen. Die Gesetze des Marktes – Angebot und Nachfrage, wie du mir, so ich dir – haben den Status universeller und absoluter Grundsätze angenommen, als entspräche alles in unserem Leben, einschließlich unseres Verhaltens gegenüber unseren Kindern, dem Kauf eines Autos oder dem Mieten einer Wohnung.

      Ein Autor eines Erziehungsratgebers – ein Behaviorist, was natürlich kein Zufall ist – drückt es so aus: „Wenn ich mit meinem Kind einen Ausflug machen oder wenn ich es umarmen und küssen möchte, muss ich mir erst sicher sein, dass es das auch verdient hat.“2 Bevor Sie dies als die Ansicht eines einzelnen Extremisten abtun, denken Sie daran, dass die berühmte Psychologin Diana Baumrind (siehe S.124) ein ähnliches Argument gegen ein bedingungsloses Erziehungskonzept vorbringt: „Das Gesetz der Wechselseitigkeit, des Bezahlens für einen erhaltenen Wert, ist ein Lebensgesetz, das für uns alle gilt.“3

      Auch scheinen viele Autoren und Therapeuten, die das Thema nicht explizit ansprechen, dennoch von einer Art ökonomischem Modell auszugehen. Wenn man zwischen den Zeilen liest, scheinen ihre Ratschläge auf der Ansicht zu beruhen, man solle Kindern das, was sie mögen, vorenthalten, wenn sie sich nicht so verhalten, wie wir es wollen. Schließlich sollte man nichts ohne Gegenleistung bekommen. Nicht einmal Glück. Oder Liebe.

      Wie oft haben Sie Leute schon sagen gehört – nachdrücklich und trotzig –, etwas sei „ein Privileg und kein Recht“? Manchmal male ich mir aus, eine wissenschaftliche Studie durchzuführen, um zu ermitteln, welche Persönlichkeitsmerkmale im Allgemeinen bei Menschen zu finden sind, die diese Haltung vertreten. Stellen Sie sich jemanden vor, der darauf besteht, dass man alles, von Eis bis hin zu Aufmerksamkeit, davon abhängig machen sollte, wie Kinder sich benehmen, und es nie einfach verschenken sollte. Können Sie sich diese Person vorstellen? Welchen Gesichtsausdruck sehen Sie? Wie glücklich ist dieser Mensch? Genießt er oder sie es wirklich, mit Kindern zusammen zu sein? Hätten Sie diese Person gern zum Freund?

      Wenn ich den Spruch „ein Privileg und kein Recht“ höre, frage ich mich oft, was derjenige, der das sagt, überhaupt als Recht ansehen würde. Gibt es irgendetwas, auf das Menschen einfach einen Anspruch haben? Gibt es keine Beziehungen, auf die wir lieber keine Wirtschaftsgesetze anwenden wollen?