Katrin Jonas

Schmerzfrei ohne Medikamente


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von der Überzeugung lösen, dass es nicht primär um den konkreten Schmerzherd als solchen, um den Quadratzentimeter Bandscheibe zwischen L4 und 5, um den dritten oder den siebenten Nackenwirbel, den schiefsitzenden Atlas, den 2. Strang des Trigeminusnervs, den Ischias, den Piriformismuskel, Ihre unterschiedlich langen Beine oder Ihr linkes Knie geht. Gießen Sie den nächsten Schluck aus und „inhalieren“ Sie den Grundsatz Nummer zwei:

       Verabschieden Sie sich vom Irrtum des symptomfokussierten Behandelns. Sehen und schätzen Sie Ihren Körper als System, das nur systematisch behandelt werden kann.

      3. Schmerzvertreibung

      Was in der symptomorientierten Schmerzbekämpfung aus therapeutischer Sicht so gut wie außer Acht gelassen wird, ist der Vorgang der Schmerzvertreibung. Selbst dann nämlich, wenn ein Schmerzmittel oder eine therapeutische Aktion Linderung verschafft, kann das zwar den Siegeszug über den Schmerz bedeuten, muss aber nicht das Ende der Problematik sein. Oftmals geschieht es sogar, dass die Grundlage des Schmerzes nicht einmal annähernd berührt worden ist. Durch das massive Bearbeiten der betroffenen Region wurde dem Körper einzig die funktionelle Möglichkeit des Ausdrucks entzogen. Die Folge ist, dass sich der Umstand im Körper sogar noch verschärft.

      Nach erfolgreicher Chirotherapie im Nacken beispielsweise, wenn der Wirbel wieder eingerenkt und seinem ordentlichen Platz zugewiesen worden ist, treten nicht selten Kieferprobleme auf, während die Kiefermuskeln ausdrücken, dass der Zustand von Anspannung dort immer noch derselbe ist. Würde man dann am Kiefer weitermanipulieren, renkt sich der Nackenwirbel in die Fehlposition zurück, sodass ein immer regelmäßigeres Einrenken und Manipulieren nötig wird. Entweder tut der Nacken oder der Kiefer weh, je nachdem, wohin die Spannung vertrieben wird. Wenn die Intervention übermäßig stark ist, kann das Szenario auch kippen: Die Spannungssituation wandert weiter zu einem anderen Ort, der mit dem ursprünglichen Geschehen funktionell zusammenhängt.

      Bleiben wir noch beim stressgebeutelten Kiefer und nehmen wir hier das Beispiel einer Bissschiene. Diese verordnen Zahnärzte zumeist, um das Zähneknirschen in der Nacht zu unterbinden. Logisch, werden Sie sagen, mit der Bissschiene geht das Zähneknirschen nun mal nicht mehr. Doch Sie werden einsehen, dass die Spannungssituation, welche zum Zähneknirschen in der Nacht führt, ja keine andere geworden ist. Folglich muss sie sich woanders entladen. Meistens verlegt sie sich auf den Nacken, bringt dort Wirbel und Nerven in die Klemme und beeinflusst die Wirbelsäule in ihrer Elastizität. Das gesamte Bewegungssystem leidet in der Folge. Ich erinnere mich an einige Klienten, die sich bei mir nach einer „erfolgreichen“ Bissschienentherapie aufgrund von Kopf-, Nacken- oder Ohrenschmerzen, Trigeminusreizungen, Tinnitus, Schulter- und Lumbalschmerzen vorgestellt haben.

      Solche Teufelskreise sehe ich in den Körpern meiner Klienten immer wieder. Wenn der Organismus zur Verlagerung des Schmerzherdes gezwungen wird, leistet er dem Folge, doch am ursprünglichen Zustand ist keine Verbesserung geschehen.

      Oder schauen wir auf Medikamente: Sie betäuben den Schmerz, ja. Doch was tun sie zunächst? Sie unterbrechen die Reizleitung, sodass die gewohnte Übertragung von Schmerzsignalen aus der rebellierenden Region zum Gehirn unterbrochen wird. Das kann durchaus sinnvoll sein, wenn anfängliche akute Schmerzen stark sind oder der Schmerz offensichtlich von verletztem Gewebe verursacht wurde. Doch reine Schmerzmittel heilen nicht. Sie ändern nicht einen einzigen Fakt am Ursprung des Schmerzes und schon gar nichts an Beschwerden, die durch funktionelle Dysregulationen entstanden sind.

      Noch einmal: Während der Einsatz von Schmerzmedikamenten in akuten Schmerzzuständen durchaus sinnvoll sein kann, weil er verhindert, dass das sogenannte „Schmerzgedächtnis“ gebahnt wird, tragen sie bei vielen chronisch gewordenen Schmerzen eher dazu bei, dass die komplexen Hintergründe der Schmerzsituation im Dunkeln bleiben und sich der Betroffene in falscher Sicherheit wiegt. Außerdem setzen sie, wie Schmerzforscher belegen, die Schmerzschwelle herunter, sodass das Nervensystem immer schmerzempfindlicher wird.

      Der Ansatz der Schmerzvertreibung wird dann auf die Spitze getrieben, wenn nach schiefgelaufenen Therapieversuchen die schmerzende Struktur entfernt wird. Hüft- oder Kniegelenke zum Beispiel werden heute wie im Fließbandmodus ersetzt. Klar, die Struktur kann dann nicht mehr wehtun, was den Operationswilligen einleuchten und entgegenkommen mag. Doch wenn wir etwas genauer hinsehen, gleicht der Ansatz des bedenkenlosen Ersetzens schmerzender Strukturen dem Entfernen des Warnlichts bei einem Fahrzeug, das durch sein Blinken einen Fehler im Mechanismus zum Ausdruck bringt. Wenn der Monteur käme, kurzerhand die Glühlampe aus der Warnblinkanlage entfernte und seinen Job als erledigt ansähe, würden Sie das sicherlich nicht tolerieren. Anders beim Körper. Hier geben sich viele Menschen mit dem Entfernen der schmerzhaften Struktur zufrieden, ohne vorher herausgefunden zu haben, welche Störung sie gemeldet hat.

      Gießen Sie sehr bewusst weiter und kommen Sie mit mir zu Grundsatz Nummer drei:

       Verabschieden Sie sich von der Idee, dass vertriebener Schmerz automatisch geheilter Schmerz bedeutet. Kurzzeitlösungen taugen nicht. Lernen Sie Ihren Körper als Ganzes kennen und profitieren Sie davon auf lange Sicht!

      4. Der zerteilte Mensch

      Es gibt noch enorm viel Aufklärungsarbeit zu leisten, bis auch in die letzten Arzt- und Therapiepraxen durchgesickert ist, dass wir Menschen keine in Stücke zerlegbare Wesen sind. Folgt man diesem Ansatz, kommt dabei heraus, dass wir auch bruchstückhaft behandelt werden und für unsere Einzelteile verschiedene Spezialisten verantwortlich sind: Für ein normales Zipperlein im Lendenbereich zeichnet noch der Hausarzt verantwortlich, doch um die ernsten Rücken- und Gelenkschmerzen kümmert sich der Orthopäde. Wenn dieselben Beschwerden aber als entzündlich diagnostiziert werden, ist der Rheumatologe zuständig. Liegen Schmerzen in der Herzregion, fallen sie ins Behandlungsspektrum des Kardiologen, selbst dann, wenn es reine Rippen- oder Brustbeinschmerzen betrifft. Bei Problemen der Blutgefäße, die ja letztlich auch zum Herzen hin und vom Herzen wegführen, meldet allerdings der Phlebologe sein Zuständigkeitsrevier an. Nervenschmerzen behandelt dann wiederum der Neurologe, auch wenn unsere körperlichen Funktionen neuronal instruiert werden, während die neuromuskulären Beschwerden dann aber doch wieder beim Orthopäden landen.

      Doch damit nicht genug: Sobald ein Mensch Schmerzen an mehreren Körperstellen hat, beispielsweise am Herzen, im Knie und im Kreuz, und dies eine mehrgleisige Intervention erfordert, kann das zu einem Therapiespektakel ohnegleichen führen, sodass es Ihnen kalt den Rücken hinunterlaufen lässt, wenn Sie davon nur hören. Glauben Sie mir, ich habe in meinen zwanzig Jahren Praxis mit Schmerzklienten viele Szenarien erlebt, in denen eine solche oder ähnliche Vorgehensweise eine Heilung regelrecht verhinderte und Therapie frontal gegen den Baum lief. Die Betroffenen wurden ursprünglich nur der Abklärung halber zu einem Facharzt geschickt und versackten in einer Therapiespirale, weil ihnen jeder der Spezialisten etwas anderes verordnete oder zu einem anderen Vorgehen riet. Weil ihr Körper als ein in Teile zerlegtes Ding galt, blieb am Ende ein erschöpfter Mensch übrig, dessen Schmerz noch immer derselbe war.

      Ein Schmerzspezialist brachte das einmal auf einem Schmerzkongress auf den Punkt. Seine Worte sind mir sinngemäß im Ohr geblieben, weil viel Wahrheit in ihnen liegt: Der Schmerz wird äquivalent dazu behandelt, durch welche Tür der Patient geht. Gehen Sie durch die Tür des Chirurgen, werden Sie eher mit der Operation im Schmerzgebiet rechnen müssen. Betreten Sie das Zimmer des Neurologen, werden Sie medikamentiert, und wenn Sie sich an den Orthopäden wenden, erhalten Sie Spritzen, Krankengymnastik oder Elektroanwendungen. Durch die Teilung des Körpers entstehen bestimmte Vorgehensweisen und diese wendet man auf Sie an. Das Fazit: In der klassischen Schmerztherapie werden Sie leider nur selten als „System Mensch“, ja, „als menschliches Wesen“ behandelt werden. Dessen sollten Sie sich bewusst sein, bevor Sie die Türklinke der Facharztpraxis herunterdrücken.

      Verstehen Sie mich nicht falsch. Die hochspezialisierte Medizin verlangt, dass es für Fachgebiete Spezialisten geben muss. Der Orthopäde sollte keinen Herzschrittmacher einbauen, der Urologe keine Endoprothese für die Hüfte, auch wenn es in der Nähe seines anatomischen Reviers liegt, und der Hausarzt muss sich genauso wenig mit dem Lesen eines MRTs auskennen, wie der Radiologe in der Lage sein muss, die Litanei der Schmerzmittel auswendig herzusagen. Aber ein jeder Mediziner sollte ein solides Grundverständnis vom Organismus haben und diesem in seiner