an dem Tisch die Lautstärke. Als er zurückkam, stieß er beinahe mit Gertrud zusammen, sie standen einen Moment zusammen, Rogge konnte nur ihr Gesicht im Profil sehen und hatte das Gefühl, dass Gertrud sehr zornig auf eine Bemerkung des Langen reagierte. Er versuchte, ihr einen Arm um die Taille zu legen, aber mit einer schnellen Tänzelbewegung entzog sie sich ihm und die drei Kumpane - die gespannt zugeschaut hatten - verspotteten den Hinkenden wegen seines Misserfolgs.
Nach dem zweiten Bier zahlte Rogge; das Essen hatte mehr durch Quantität als Qualität überzeugt, aber mit dem Trinkgeld knauserte er nicht und Gertrud beäugte ihn fast wohlwollend, während sie ihm eine gute Nacht und angenehme Träume wünschte. Rogge schob schon den Stuhl zurück, als eine junge Frau Anfang zwanzig den Bären betrat, von dem Quartett mit ausgelassenem Hallo begrüßt. Sie zögerte, drehte den Kopf zur Tür, eine andere junge Frau kam herein und das anzüglichfröhliche Gelächter der jungen Männer brach wie auf Befehl ab. Die zweite Frau warf den Kopf in den Nacken und sagte etwas zu der ersten, die heftig nickte; zusammen gingen sie an Rogge vorbei in den hinteren Teil der Gaststube. Das Quartett starrte ihnen nach und Rogge, der sie unauffällig beobachtete, staunte über die halb verächtlichen, halb lüsternen Mienen. Mit der ersten Frau hätten sie sich gern zusammengesetzt, gegen die zweite hatten die drei etwas, doch am meisten wunderte ihn, dass der Große, der sich auf seinem Stuhl ganz herumgedreht hatte, um den beiden Frauen nachzuschauen, für einen Moment Spannung und Sorge erkennen ließ. Zwischen der so demonstrativ Geschnittenen und dem Großen, Hinkenden, knisterte etwas und dem Langen gefiel es gar nicht, dass diese junge Frau hier im Bären aufgekreuzt war.
Mittwoch, 13. September
Beim Frühstück stellte Rogge fest, dass außer ihm nur noch ein mittelalterliches Ehepaar im Bären wohnte. Er hatte tief geschlafen und war durch den Wecker aufgewacht, den er aus lauter Gewohnheit gestellt hatte.
Gertrud war nicht zu sehen, stattdessen brachte ihm eine Frau das Frühstück, bei deren Anblick er unwillkürlich den Atem anhielt. Lange und glatte schwarze Haare, schwarze Augen, ein schmales, etwas blasses, aber wunderschönes Gesicht. Sie trug schwarze Samthosen und ein enges weißes T-Shirt, mit ihrer Figur hätte sie sofort auf jedem Laufsteg anfangen können. Was hatte eine solche Schönheit in dieses Nest verschlagen?
»Guten Morgen«, grüßte sie mit gesenkten Augen. »Ich hoffe, Sie haben die erste Nacht gut geschlafen.«
»Ja, danke, hervorragend«, stotterte Rogge. Kein Zweifel, die Wirtin. Mit diesem groben Klotz verheiratet?
Die Mengen hätten für einen Schwerstarbeiter ausgereicht und der Kaffee erinnerte an Hertha Wassmuth, schwarz, etwas bitter und stark.
Als die Wirtin bemerkte, dass er fertig war, brachte sie ihm den Meldeblock: »Würden Sie sich bitte noch eintragen?« Auch jetzt sah sie ihn nicht an.
»Natürlich.«
Er füllte den Zettel korrekt aus; nach seinem Beruf wurde nicht gefragt.
Das Geld für die Wanderkarte hatte sich gelohnt. Fünf Stunden lief Rogge durch Wälder und Wiesen auf die Beilhorner Berge zu, machte ab und zu Rast und beschimpfte seine Muskeln und Gelenke, die gefälligst zur Kenntnis nehmen sollten, dass sie bei einem 55-jährigen Kriminalhauptkommissar noch nicht zu protestieren hätten. Zehn Jahre sollten sie Vater Staat und seinem Beamten noch dienen, dann könnte man über Ruhestand reden. Als endlich der Stausee zwischen den Hügeln vor ihm auftauchte, schalt sich Rogge einen Narren, dass er sich für den ersten Tag gleich einen solchen Gewaltmarsch vorgenommen hatte. Aber das Laufen hatte ihm gut getan, seine Lungen schienen wie durchgepustet, die Sonne strahlte wieder aus einem wolkenlosen Himmel, und wenn es stimmte, dass man einmal täglich seinen Kreislauf bis zum Schwitzen belasten sollte, dann hatte er das mit dem Aufstieg zum Uferweg geleistet.
Hier oben wehte ein schwaches Lüftchen, gerade genug, um die Segel flappen zu lassen, die Boote glitten majestätisch langsam über den See und einige Abgehärtete schwammen tatsächlich, Die Mehrheit sonnte sich aber auf den Uferwiesen, was Rogge sehr vernünftig erschien. Die allwissende Wanderkarte enthielt auch einen Busstreckenplan und auf der Rückfahrt kämpfte er mit dem Schlaf. Den holte er in seinem Zimmer nach.
An diesem Abend war der Bär nur schwach besucht. Gertrud empfahl ihm ein Essen, das ihn wenig begeisterte - gebratene Fleischwurst mit Gurken-Kartoffel-Salat, doch sein Magen knurrte so laut, dass sein Geschmack gar nicht erst konsultiert wurde. Das lautstarke Quartett ließ sich nicht blicken. Gegen neun Uhr schaute ein junger Mann herein, der seine langen braunen Haare zu einem Zopf zusammengebunden hatte. Am Tresen bestellte er ein Bier und zu Rogges Verwunderung verzogen Gertrud und der Bezopfte sich in eine Ecke; sie tuschelten aufgeregt, bis der Wirt, dem der junge Gast nicht zu gefallen schien, seine Kellnerin unfreundlich in die Küche scheuchte. Der junge Mann stellte sein halb volles Glas empört ab und verließ grußlos den Bären. Kein Zweifel, er hatte etwas von Gertrud gewollt, sie sträubte sich. Während ihres Dialogs waren sie Rogge wie große Kinder vorgekommen, spontan und direkt, ohne jede Berechnung.
VI.
Nach der Pause ging Gellmann nicht mehr in den Saal zurück. Zuerst Haydn, dann Mozart und jetzt noch Brahms - nein, es gab eine Grenze auch für das, was man ihm im Verfassungsschutz dienstlich zumuten durfte. Die jungen Frauen an der Garderobe schauten ihn missbilligend an, er hob kläglich die Hände und suchte sich eine Bank außer Sichtweite. Konnte sie sich nicht für Techno interessieren? Oder für Rap? Oder seinetwegen für altertümlichen Rock? Ausgerechnet Klassik; außerdem hatte er sich in einen dunklen Anzug quälen müssen, Hemd und Krawatte, Lederschnürschuhe, wie verkleidet kam er sich vor. Und die weißhaarige Gewitterziege neben ihm hatte ihm dauernd zugezischt, er solle endlich ruhig sitzen. Dann lieber hier herumhängen und wieder einmal die Zeit totschlagen; seinen Job hatte er sich interessanter vorgestellt, aber irgendwie schien er dazu verurteilt, ewig hinter langweiligen Leuten herzuschleichen oder auf sie zu warten. Und nichts passierte. Hübsch war sie ja, aber auch ziemlich hochnäsig; und wahrscheinlich fade; für Frauen, die freiwillig Symphoniekonzerte besuchten, konnte er sich beim besten Willen nicht erwärmen.
Die Garderobenfrauen lachten. Wahrscheinlich über ihn, doch selbst das wurmte ihn nicht. Alles leichter zu ertragen als Brahms. Nur Wagner war noch schlimmer, er hatte sich dienstlich einmal Die Meistersinger anhören müssen und sich danach geschworen, nie wieder eine Oper zu besuchen, weder dienstlich noch privat.
Als die ersten Besucher zur Garderobe hasteten, verbarg er sich strategisch günstig hinter einer Säule fünf Stufen höher. Sie trug ein hochgeschlossenes hellblaues Kleid - da war sie ja schon. An ihrer Ausgabe hatte sich eine besonders lange Schlange gebildet, deswegen trat sie wohl ein paar Schritte zurück und geriet aus seinem Sichtfeld. Du blöde Gans, schimpfte er lautlos und stieg vorsichtig zwei Stufen hinunter, um sich über das Geländer beugen zu können.
Was ihn alarmierte, konnte er sich im ersten Moment nicht erklären. Irgendetwas hatte sich so bewegt, dass es seinen Verdacht erregte - dann klickte es. Drüben, auf der anderen Treppe jenseits des Vorraumes, war eine junge Frau hinter einer Säule hervorgeglitten und schien auf einen Punkt unterhalb seines Standortes zu starren, zuckte aber sofort wieder zurück und verschwand wieder hinter der Säule. So als wollte sie nicht gesehen werden. Eine große Schwarzhaarige, in einem engen Kleid mit einem auffälligen Tigermuster. Sie war ihm schon vor dem Saal aufgefallen, arg aufgedonnert und in einem Ausmaß geschminkt, dass sie besser in eine Nachtbar als in ein Symphoniekonzert passte. Er blieb stehen und hielt den Kopf gesenkt. So wie Gellmann sich langweilte, war er bereit, alles als verdächtig zu betrachten, wenn es nur etwas Ablenkung versprach. Dann sprang drüben ein junger, eleganter Bursche die Treppe hoch, einen hellgelben Mantel über dem Arm, verschwand mit dem Mantel hinter der Säule und erschien ohne Mantel wieder.
Die Blaue, die Gellmann beschatten sollte, erhielt ihre weiße Leinenjacke und marschierte auf den Ausgang zu. Prompt tauchte drüben die Schwarzhaarige auf, im gelben Mantel, und sauste in einem beachtlichen Tempo die Treppe herunter, drängte sich durch die Gäste, sodass sie nur zehn Meter hinter der Blauen die Schwirigtür erreichte. Automatisch hatte sich Gellmann in Bewegung gesetzt, das interessierte ihn nun doch und die Blaue musste er ohnehin im Auge behalten. Bildete er sich nun etwas