kommt hier auf die Idee, wegen einer Rauferei mit blutigen Nasen und ausgeschlagenen Zähnen die Polizei zu holen.«
»Danke, ich werde aufpassen.«
In dem Buchladen bediente ihn ein junges blasses Mädchen, das vor Nervosität zappelte, der lange Pferdeschwanz pendelte pausenlos. Aber sie fand auf Anhieb die gewünschte Wanderkarte und piepste zum Abschied aufgeregt: »Hoffentlich hält sich das Wetter.«
Auf dem Markt wurden die Stände abgeräumt, zwei Männer mit rot-weißen Armbinden fegten im Zeitlupentempo Papier, Gemüse- und Obstabfälle zusammen. Man hielt ein letztes Schwätzchen, hier schien jeder jeden zu kennen. Was für Stockau wohl noch mehr zutraf.
Hertha Wassmuth schluckte zweimal trocken: »Wo, Chef?«
»Das Gasthaus heißt Zum Bären, in Stockau. Ich lass mein Handy an, für alle Fälle, und Kili schärfen Sie ein, dass ich ihn dort erst sehen will, wenn ich ihn gerufen habe.«
Als leidgeprüfte Vorzimmerchefin hatte Hertha die kurze Erschütterung schon überwunden.
»Und wenn sich Simon meldet, sagen Sie ihm nur, ich sei auf seinen Wunsch hin im Urlaub unterwegs.«
»Was im Klartext heißt, er soll nicht erfahren, wo Sie sich herumtreiben.«
»So ist es.« Dabei zwinkerte Rogge und Hertha schnaufte genussvoll. Der Moment, in dem sie Kriminalrat Simon und Bello Born jede Auskunft darüber, wo der Chef steckte, mit Rogges Segen verweigern durfte, würde ihr ein innerer Parteitag werden.
Nachdem Rogge zu Hause einen großen Koffer gepackt hatte, einschließlich aller Bücher, die er schon immer hatte lesen wollen, fuhr er zur Staatsanwaltschaft. Die Freifrau Dörte begrüßte ihn mit einem verkniffenen Lächeln, das er richtig interpretierte: »Ackerknecht hat also zugeschlagen?«
»Hat er.«
»Aber da du nicht in Tränen aufgelöst bist, vermute ich mal - nicht con brio, sondern moderato.«
»Genau so, und ich kann dir flüstern, das beunruhigt mich mehr, als wenn er die ganz große Show abgezogen hätte.«
»Was wäre, wenn er von der Schuld seines Mandanten überzeugt ist und deshalb alles unterlässt, was den Mörder seiner gerechten Strafe entziehen könnte?«
»Daran habe ich auch schon gedacht«, gestand sie. »Aber ich kann ihn ja schlecht danach fragen - oder?«
»Nein, aber du kannst dieses Gutachten ganz klein spielen und abwarten, ob und wie er sich darauf stürzt.«
»Viel anderes bleibt mir auch nicht übrig.« Sie nahm die Schultern zurück und streckte trotzig das Kinn in die Höhe.
»Du bist die schönste und gefährlichste Staatsanwältin, die ich kenne«, applaudierte Rogge. »Schrecklich schade, dass ich in einen dienstlichen Urlaub fahren muss.«
»Auch am Wochenende?«
»Mal sehen! Ich melde mich, tschüss.«
Der Bär brummte noch nicht, aber rekelte sich schon. Der große Gastraum war L-förmig angelegt und im BrauereiEinheitsstil möbliert: Tische mit heller Lindenholzplatte, stabile Stühle mit Schaumstoff-Sitzpolstern und an den Wänden die übliche Kollektion von Ziertellern, Pokalen, Wimpeln und schauerlichen Landschaft-mit-Tier-Ölschinken. Von dem Windfang mit einem altmodischen dichten Filzvorhang trat man direkt an den Tresen, hinter dem ein Riese stand, eine Hand aufgestemmt. Sein Gesicht war so kugelrund wie sein Bauch, er rollte seine Schweinsäuglein, denen wahrscheinlich nichts entging, und fuhr sich mit der anderen Hand immer wieder über die glänzende Glatze. Bei der Verteilung von Sympathie hatte ihn die Vererbung entschieden benachteiligt und Rogge schoss durch den Kopf, dass der Knabe sich wohl das Motto eines römischen Cäsaren zu Eigen gemacht hatte: Die Gäste mögen mich hassen, solange sie mich nur fürchten. Immerhin sah der Wirt so aus, als würde er mit jedem Raufbold spielend fertig. An der Theke saßen zwei alte Männer und stierten in leere Gläser, im Gastraum, der sich links nach hinten erstreckte, grölte eine unsichtbare, aber hörbar angeheiterte Männerrunde.
»Guten Tag«, grüßte Rogge höflich. »Ich hätte gerne ein Zimmer mit Bad.«
»Zimmer mit Bad.« Der Riese grunzte erfreut, ein Logiergast schien sich in dieser Jahreszeit nicht häufig in den Bären zu verirren.
»Vorerst für eine Woche.«
»Eine Woche.« Der Wirt fuhr mit der Hand zum Kopf, überlegte es sich anders und massierte sein Kinn. »Gut, eine Woche.«
»Und was kostet das?«
»Mit Frühstück fünfzig Mark pro Nacht. Eine Woche - dreihundert zwanzig.«
»Fein.«
»Gertrud!«, röhrte der Wirt los. »Gast für Zimmer eins.«
Wie der Blitz kam die Gerufene um die Ecke gefegt, setzte das volle Tablett mit leeren Gläsern so schwungvoll ab, dass es über die Metallplatte schabte und genau vor dem Wirt stehen blieb. »Zehn und zehn.«
Mit einem Tempo, das Rogge schwindelig machte, tippte sie die Bestellung in die Kasse ein, langte gleichzeitig nach einem Brett mit acht Schlüsseln und strahlte Rogge an: »Würden Sie bitte mitkommen?«
Als sie das Zimmer aufschloss, atmete er heimlich erleichtert auf. Er hatte mit Schlimmerem gerechnet, doch der Raum war groß, hell, sauber und praktisch eingerichtet, sogar mit Fernseher und Telefon, Einbauschränken und einem kleinen Tisch, an dem er schreiben konnte.
»Gefällt es Ihnen?«
»Ja, sehr schön, vielen Dank.«
»Ich bringe noch die Handtücher. Frühstück gibt’s von sieben bis zehn, vorne im Lokal.«
»Prima. Wie steht’s mit Abendessen?«
»Was Kleines können Sie jederzeit vorne bestellen. Und wenn Sie eine Amtsleitung haben wollen, bitte eine Null vorwählen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt.«
Damit wollte sie losstarten, er musste sie zurückrufen, um ihr das Fünfmarkstück in die Hand zu drücken.
»Vielen Dank!« Sie hatte eine sehr direkte Art, ihm in die Augen zu schauen, nicht dreist, aber eine Spur aufdringlich - nein, vereinnahmend.
Zwei Minuten später war sie wieder da und werkelte wie der Wirbelwind im Bad, Rogge sah ihr lächelnd zu und bedankte sich: »Wir sehen uns nachher.«
Nachdem sie davongeschossen war, öffnete er das Fenster. Bis auf zwei Hühner, die empört los gackerten, war kein Geräusch zu hören, weder von der Autobahn oder der Dorfstraße noch von vorn aus der Gaststube. Fast zu ruhig für seinen Geschmack; er schüttelte über sich selbst den Kopf und begann auszupacken.
Gegen 19 Uhr brummte der Bär aus tiefster Kehle; Gertrud rotierte wie ein Kreisel, der dicke Wirt schaute immer noch griesgrämig drein, aber arbeitete nur scheinbar langsam, die beiden waren ein gut aufeinander eingespieltes Team. Bier und Schnaps flössen in Strömen, die Durchreiche zur Küche wurde rhythmisch geöffnet und geschlossen. Mehr durch Zufall hatte Rogge einen Tisch in der Ecke des L bekommen und bald festgestellt, dass er für seine Zwecke den besten Platz besetzt hatte. Die Gaststube war durch unsichtbare Striche in drei Abteilungen auf geteilt. Am Tresen und rechts davon, an zwei Tischen mit Holzbänken entlang der Wand, tobten sich die jungen Männer lautstark und durstig aus. In seiner Abteilung herrschte etwas mehr Ruhe und deutlich weniger Durst, und in dem langen Strich des L saßen die Älteren, zum Teil mit Frauen und Kindern, und unterhielten sich. In den seltenen Momenten, in denen sie nicht laufen musste, lehnte sich Gertrud an die Ecke des Tresen, Rogge genau schräg gegenüber, sodass sie alle Tische überschauen konnte. Ab und zu begegneten sich ihre Blicke, dann strahlte sie ihn fröhlich an, als sei er bereits ein Freund und Stammgast. Den meisten Krach veranstalteten die vier jungen Männer rechts von ihm, und wenn die so dumm waren, wie ihre lauten und ordinären Sprüche andeuteten, gnade Gott ihren Kindern, Das große Wort führte ein ungewöhnlich langer und kräftiger Kerl mit einem hässlichen Gesicht, er sah