Der Fall Gillbrecht.«
»Ich hab ein sauschlechtes Gefühl. Drei der Vergewaltigungen werde ich ihm wohl anhängen können, aber der Mord an der kleinen Elvira ...«
»Genetische Fingerabdrücke werden heute von allen Gerichten akzeptiert.«
»Sicher. Aber dass die in dem verdammten Labor keine Ordnung halten können. Ackerknecht hat mich überfallen und herumgetönt, dass er erstens von der Schlamperei gehört hat und zweitens den Beweis antreten will, dass die zum Schluss untersuchte Spermaprobe zweifellos von einem Mann, aber eben nicht von seinem Mandanten stammt.«
»Kannst du darauf nicht einfach verzichten?«
»Wie denn? Wenn ich’s rechtzeitig erfahren hätte, sicher, dann wär’s vielleicht auch ohne gegangen, aber als die Labormäuse endlich beichteten, hatte die Kammer die Klage schon angenommen.«
Und ausgerechnet Bello Born hatte die Ermittlungen geführt. Sexualstraftäter hasste er wie persönliche Feinde. Wenn Gillbrecht mit dem Mord durchkommen sollte, würde Born ausrasten. Hoffentlich nicht schon vor Gericht. Rogge hatte ihm unter vier Augen die Meinung gegeigt, weil er sich nicht darum gekümmert hatte, dass mit dem Spermaabstrich nichts schief ging, zumal zu dem Zeitpunkt bereits bekannt war, dass Ackerknecht die Verteidigung übernommen hatte. Und Ackerknecht, zwei Meter groß und drei Zentner schwer, beherrschte alle Tricks; wenn sein Name fiel, schrillten bei Kripo und Staatsanwalt die Alarmglocken.
»Toi, toi, toi«, wünschte er und sie warf ihm eine Kusshand zu, die jeden anderen Mann von ihrer ungetrübten Zuneigung zu ihm überzeugt hätte. Rogge wusste es besser und machte sich keine falschen Hoffnungen.
V.
Ihre Besprechungen fanden immer am frühen Abend statt, wenn die meisten Angestellten nach Hause gegangen waren und sie den dritten Stock für sich allein hatten. Das kleine Konferenzzimmer lag günstig, zwischen einer Aktenkammer und Ralf Weinerts Arbeitsraum. Das einzige Fenster ging zum Hof hinaus und auf der anderen Seite des Platzes erhob sich eine fensterlose Wand, die zu einer Lagerhalle gehörte. Ein scheußlicher Anblick, aber die beste Garantie, dass sie von dort nicht abgehört wurden, und die Techniker kontrollierten das kleine Konferenzzimmer vor jeder Sitzung auf Wanzen.
»Jockel Pertz hat mich angerufen«, begann Dieter Ellwein nüchtern. »Die Ehefrau dieses Tepper ist wieder in Deutschland und sucht ihren Mann. Möglicherweise, um endlich die Scheidung einzuleiten. Sie hat sich bei dem Staatsanwalt erkundigt, der seinerzeit das Verfahren auf Anweisung eingestellt hat. Sein Vorgesetzter hat sich mit Reineke in Verbindung gesetzt, der hat Pertz alarmiert.«
»Auch das noch!«, brummte Arno Gönter.
»Kann sie uns gefährlich werden?« Der rundliche Weinert sah zwar aus, als bringe nichts und niemand ihn aus der Ruhe, er neigte aber zu nervöser Hast und Ängstlichkeit.
»Kaum«, erwiderte Ellwein fest.
»Ehrlich gesagt verstehe ich nicht, warum wir den Kerl nicht endgültig abschreiben.« Arno Gönter schaute Dieter Ellwein finster an. »Er nutzt uns doch nichts mehr.«
»Nein, nein«, widersprach Weinert. »Selbst wenn er sich verbrannt hat - wir müssen herauskriegen, ob und was er verraten hat.«
»Das wird er uns gerade auf die Nase binden«, knurrte Gönter. »Und was kann er schon auspacken? Wir haben doch diesen ganzen Zirkus nur veranstaltet, damit er immer schön abgeschirmt blieb.«
»Und was ist mit der Frau?«, warf Ellwein ein.
»Das hat Pertz am Wochenende geregelt.« Weinert kniff sich in die Nasenwurzel und presste die Lider zu. »Obwohl - ich glaub nicht mehr an die Ködertheorie.«
»Abwarten. Auf einen oder zwei Monate kommt es jetzt auch nicht mehr an.« Ellwein hütete sich, den Chef herauszukehren, pro forma waren sie nämlich gleichberechtigt und jeder besaß ein Vetorecht. Gleichwohl hatte es sich im Lauf der Jahre ergeben, dass er und der Bundesnachrichtendienst bestimmten und den Takt angaben, was den robusten Arno Gönter vom Zollkriminalinstitut nicht störte, aber den empfindlichen Weinert immer wieder kränkte. Wie immer sie diese Affäre über die Bühne brachten, eine Lehre war schon jetzt zu ziehen: Nie wieder ein Führungstrio. Als der erste Zweifel an Teppers Zuverlässigkeit auftauchte, hätte einer sofort entscheiden und befehlen müssen, statt dass sie wertvolle Zeit mit Diskussionen, Vertagungen und faulen Kompromissen vergeudeten. Nun klammerten sie sich an Strohhalme.
Gönter vom Zollkriminalamt schmunzelte behäbig. Zu dieser Aktion Tepper war er abkommandiert worden, er hatte sich nicht danach gedrängt, aber auch nicht gewehrt, weil er neugierig war, diesen geheimnisvollen Apparat einmal kennen zu lernen. Zu Anfang hatte ihn die Geheimniskrämerei beeindruckt, aber nach fünf Jahren zweifelte er an ihrem Sinn und überlegte immer häufiger, ob sie nicht eine Ersatzhandlung darstellte. Wenn seine Kollegen jemanden erwischten, hielten sie etwas in der Hand, Papiere oder Akten oder auch Waren, doch seine beiden Mitstreiter mussten sich mit vagen Andeutungen begnügen, Gerede, Gerüchten. Sobald Gönters Behörde zulangte, trat sie offen auf, Weinerts Verfassungsschutz hatte keine Exekutivrechte, dasselbe hatte für Ellweins Bundesnachrichtendienst im Inland gegolten; Ellwein und Weinert mussten deshalb im Schatten bleiben, sich ihre eigene Realität schaffen, was nicht nur den Blickwinkel, sondern auch die Wahrnehmung der Wirklichkeit beeinflusste.
Weinert ahnte, was Kollege Gönter dachte, und manchmal beneidete er ihn um seine Handlungsmöglichkeiten. Das mündete meistens in hilflosem Zorn, dass sie auf die Hilfe anderer angewiesen blieben, diese mit Informationen fütterten, selbst aber nie den Ruhm kassierten. Was für ein Blödsinn! Und Ellweins schlecht kaschierte Überheblichkeit ertrug er von Mal zu Mal schwerer.
»Was Neues von unseren Freunden?«, erkundigte sich Ellwein jovial und Ralf Weinert schnaufte: »Nein. Da herrscht nach wie vor absolute Funkstille.«
»Nun denn. Ich würde vorschlagen, wir machen bis Ende des Jahres weiter. Widerspruch?«
»Das Konto ist gesperrt?«
»Nein, aber wir haben zwei Vertrauenspersonen zusätzlich eingesetzt. Wenn er versucht, Geld abzuheben, wird es hinausgezögert, bis wir uns dranhängen.«
»Einverstanden«, knurrte Gönter und stemmte sich hoch. Und dafür hatte er einen schönen Abend geopfert! Seit einiger Zeit plagte ihn der Verdacht, dass Weinert sie aushorchte und nicht mehr alle Karten offen auf den Tisch legte. Genau davor hatten ihn seine Chefs gewarnt, als er sich gut gelaunt abmeldete,
»Was bleibt uns anderes übrig?«, maulte Weinert.
»Prima. Dann hoffen wir, dass Pertz was erreicht hat.«
Sie verließen das Bürogebäude im Abstand von dreißig Minuten. Möglichst nicht zusammen gesehen zu werden zählte zu den einfachen Vorsichtsregeln.
Dienstag, 12. September
Auf der linken Seite des Rastplatzes stand nur ein Lastzug; der Fahrer schlief tief. Auf der rechten Seite, für Pkw reserviert, knatterte gerade ein überladener Kleinwagen heran. Rogge stellte sich ganz ans Ende. Viel los war hier wirklich nicht, der Platz bot auch wenig, was zu einer längeren Rast einlud. Drei Tische mit Bänken aus halben Baumstämmen und drei Papierkörbe. Auf der Autobahn herrschte vormittags um neun Uhr Hochbetrieb, der vielleicht dreißig Meter tiefe Streifen aus verkrüppeltem Nadelholz zwischen Straße und Parkplatz versperrte zwar die Sicht, dämpfte aber den Lärm nicht.
Die Autobahn schnitt hier den Nordhang eines Hügels. Auf der anderen Seite, hinter dem West-Ost-Fahrstreifen, stieg das Gelände an, dicht bestanden mit Nadelbäumen, Mehr als einmal hatte Rogge versucht, sich die Unterschiede zwischen Fichten und Kiefern zu merken, es gab da eine Eselsbrücke mit Hngern wie Züchte, aber die konnte er sich einfach nicht merken. Auf seiner Seite setzte sich der Wald fort; der Karte hatte Rogge entnommen, dass der Hang sich noch mehrere hundert Meter bis ins Stockbachtal erstreckte. Er lief ein paar Schritte weiter, Richtung Ausfahrt, und blieb vor einem Forstwirtschaftsweg mit tief ausgefahrenen Radspuren stehen. Neugierig spazierte Rogge den Weg entlang, der nach zwanzig Metern