Sicht auf den Laster. Dann führte der Weg nach links, jetzt entfernte er sich von dem Parkplatz. Nach vielleicht hundertfünfzig Metern hörte der Nadelwald auf, sein Saum war mit niedrigen, undurchsichtigen Büschen bewachsen. Dahinter lag die Feltenwiese, eine riesige Fläche mit leichter Neigung; der Wirtschaftsweg verlief quer den Hang hinab und schien unten in eine asphaltierte Straße zu münden. Die Autobahn war an dieser Stelle immer noch zu hören, aber nunmehr schwach, wie ein stetes, nicht sehr angenehmes Rauschen.
So genau wusste Rogge gar nicht, wonach er Ausschau hielt. Immerhin schien es möglich, dass der Wagen, in dem Inge Weber gesessen hatte, gar nicht über die Autobahn auf den Parkplatz gekommen war; wer sich in der Gegend auskannte, konnte unten im Tal durchs Dorf fahren, bis zu der schmalen, ausgebauten Straße, dann den Wirtschaftsweg hochsteuern bis auf den Parkplatz und sich von dort auf die Autobahn einfädeln. Eine Auffahrt, die nicht im Autoatlas verzeichnet und bestimmt nicht im Sinne der Erfinder war; aber Rogge wusste, dass an vielen Stellen die langen Strecken zu den regulären Autobahnauffahrten abgekürzt wurden.
Von dem Dorf unter ihm sah Rogge nur die Dächer und den Kirchturm. Jenseits des Baches, auf dem Gegenhang, glänzte halbrechts in der Sonne ein weißes Gebäude, die Schrift auf dem Dach konnte er auf diese Entfernung nicht entziffern.
Nach den tiefen Spurrillen zu schließen wurde der Wirtschaftsweg recht häufig genutzt. Rogge sah sich um und stutzte. In dem Gras vor dem Buschsaum entdeckte er Reifenspuren, links und rechts, und als er sich bückte, fand er die gleichen Spuren auf der Wiese, alle von dem Weg abzweigend. Einen Moment grinste er. Die Lösung eines alten und immer noch akuten Problems: Wo war man mit seiner Freundin ungestört? Ein Auto besaß heute fast jeder, aber mit sturmfreien Buden sah es schlechter aus.
Er schlenderte nach rechts, den Blick auf den Boden gerichtet. Und ob hier Autos geparkt hatten! Der Buschsaum war nicht planvoll gepflanzt worden, sondern wild entstanden, es gab Buchten und Nischen, zwischen einigen Büschen sogar kleine Labyrinthe mit unverkennbaren Hinweisen, geknickten Asten, abgerissenen Blättern, an einer Stelle glänzten Öltropfen. Und dann entdeckte Rogge eindeutige Zeugnisse, bräunlich angelaufene Tempotücher und gebrauchte Kondome. Bonbonpapier, Kippen, zwei zerknüllte Zigarettenschachteln, leere Bierdosen. Vergnügt spazierte er zurück. Vorsorgliche Gemüter hatten sogar große Steine aus den Spuren beseitigt und die Löcher mit Erde aufgefüllt, was ja wohl bedeutete, dass hier häufiger Verkehr im doppelten Sinne des Wortes stattfand. Jenseits des Wirtschaftsweges das gleiche Bild, in Gedanken klopfte Rogge sich auf die Schulter und zelebrierte mit Winnetou Blutsbrüderschaft, während er am Rand der Büsche entlangschlich und den Boden links und rechts musterte.
Von der Feltenwiese stand nichts in Grems Akten. Der 15. September des Vorjahres war ungewöhnlich warm gewesen, in der Nacht war es für die Jahreszeit zu wenig abgekühlt. Ein Wetter für Liebespärchen?
Zur Kontrolle ging Rogge den Wirtschaftsweg noch einmal Richtung Parkplatz zurück. Unmittelbar hinter den Büschen entdeckte er auf dem braunen Teppich aus trockenen Nadeln eine schwach ausgefahrene Spur zwischen den Stämmen, nach zwanzig Metern schlug sie eine Kurve nach rechts und endete hinter einem prächtigen und übermannshohen Ilex. Wenn hier ein Auto parkte, konnte es vom Wirtschaftsweg aus nicht gesehen werden, es sei denn anhand von eingeschalteten Scheinwerfern und Rücklichtern. Und eine Wendespur, entstanden beim Rückwärts-vorwärts-Rangieren. Donnerwetter! Als normaler Spaziergänger, der sich nach langer Fahrt nur die Beine vertreten wollte, hätte Rogge auf diese Einzelheiten auch nicht geachtet.
Ein wunderschöner Vormittag zum Spazierengehen! Warm und sonnig, der wolkenlose Himmel zeigte ein seidiges Blau. Bis ins Tal brauchte Rogge auf dem Wirtschaftsweg eine gute Viertelstunde. Der mündete tatsächlich in eine asphaltierte Straße, die nach hundert Metern auf die Hauptstraße stieß, unmittelbar vor dem Ortseingangsschild Stockau, Kreis Herlingen. Zur Autobahn ging es nach links, der nächste Ort musste Dreschbach sein, wenn Rogge die Karte richtig im Kopf hatte.
Das Dorf schlug Rogge aufs Gemüt. Obwohl ihn der Lärm, die Enge und die Hetze in der Stadt manchmal bis zur Weißglut erregten, würde er an dieser menschenleeren Stille ersticken. Zwölf Höfe links und rechts der Straße, ein kleiner Platz mit Kirche, Kneipe und Supermarkt. Gleich daneben ein windschiefer Fachwerkbau, dazu ein scheußliches mehrstöckiges Mietshaus, das vom Einsturz bedroht schien. Das Regendach an der Bushaltestelle hing zerbeult und schräg auf seinen Stützen. Am anderen Ende des Ortes kehrte Rogge um, ein Hund näherte sich ohne sonderliches Interesse und begutachtete ihn aus der Entfernung, bellte und wedelte aber nicht. Von hier aus konnte Rogge die Buchstaben auf dem großen weißen Gebäude lesen: Meierei Stockbachtal. Bis jetzt hatte er nur eine Seitenstraße entdeckt, die nach rechts zu einer Brücke über den Bach führte. An ihr lagen die wenigen Neubauten, Ein- und Zweifamilienhäuser, manche Gebäude noch unverputzt, als habe das Geld dazu nicht mehr gelangt. Oder die Zeit des Häuslebauers. Hauptstraße und Brückenstraße, Fantasie wurde nicht verschwendet.
Wenn es ein soziales Leben gab, spielte es sich auf dem kleinen Platz ab. Die Kneipe hatte noch nicht geöffnet, Rogge amüsierte sich über den Namen Zum Bären. Mittagstisch ab 12 Uhr. Links an dem frisch renovierten Klinkerhaus vorbei führte ein Weg nach hinten, in eine Art Garten; er blieb vor dem niedrigen Zaun stehen und staunte ein wenig über den modernen einstöckigen Bau: Gästehaus. Ein Bärenzwinger, witzelte er erheitert. Wer mochte sich hier wohl einmieten?
Das Kirchlein war verschlossen, Rogge spazierte über den kleinen Friedhof, auf dem hohe, breitkronige Buchen wuchsen.
Im Schatten ihres Laubes herrschte eine kühle Ruhe. Der Supermarkt verdiente seinen Namen; offenbar wurde hier alles feilgeboten, was der Mensch brauchte, von Zeitungen über Briefmarken, Gummistiefel und Batterien bis hin zu Ersatzreifen.
Eine ältere Frau verließ den Laden, sie schleppte ein schweres Netz und warf Rogge einen misstrauischen Blick zu. Seinen höflichen Gruß erwiderte sie nicht.
Keine Polizeistation; das nächste Revier lag in Herlingen und auch die Notrufsäule neben dem Wartehäuschen war nicht mehr fest verankert.
Die Tür des Bären wurde geöffnet, eine junge Frau brachte ein neues Schild heraus und hängte es neben dem Eingang auf. Heute: Jägerschnitzel mit gemischtem Salat und Pommes frites für 8,00 DM. Als die Frau sich umdrehte, lachte sie Rogge zu und er winkte zurück. Wer's drall liebte, musste seine Freude an ihr haben, mittelgroß, enge weiße Bluse und enger, kurzer schwarzer Rock, sie zeigte, was sie hatte, und auch am Lippenstift hatte sie nicht gespart.
Ein ganz hübsches Gesicht, dachte Rogge und schaute ihr nach. Aufgeweckt - nein, ausgeschlafen. Diese brünetten Afro-Löckchen gefielen ihm allerdings gar nicht. Hier tanzt der Bär! Über die Unterschiede zwischen dem Land und der Stadt staunte er immer wieder.
Jetzt muhten irgendwo Kühe, der Polizist kratzte sich den Kopf und überlegte, was Bauern im September eigentlich taten. Ernten? Umpflügen? Säen? Ziemlich erschreckend, wie wenig man über die wichtigen Alltagsdinge wusste. Auf dem Marsch über die Feltenwiese zurück wurde ihm warm. Der Lastzug war weggefahren, dafür rüstete sich eine Familie aus Norddeutschland zum Picknick, die Kinder tobten schreiend durch den Wald und achteten nicht auf die Rufe der besorgten Mutter.
Nach fünf Kilometern tauchte das Schild für die Abfahrt Dreschbach/Bellhorner Berge auf und Rogge ordnete sich rechts ein. Berge war eine hübsche Übertreibung, er kannte diese hügelige Gegend, weil er sich am Wochenende gelegentlich hierher verirrte, rund um den Bellhorner Stausee konnte man stundenlang durch Wald laufen und auf dem Wasser war immer etwas los. Fast hätte er die Abzweigung nach Stockau verpasst und dann zockelte er eine ganze Weile hinter einem hochbeladenen Heuwagen her, der Traktor röhrte aus Leibeskräften und Rogge schaltete in den zweiten Gang zurück. Einmal sah er eine Gruppe von Männern, die von niedrigen Bäumen Obst pflückten und wie Artisten auf ihren Leitern herumturnten. In Stockau parkten jetzt Autos auf dem kleinen Platz, Rogge hielt nicht an und auf der Strecke nach Herlingen freute er sich an dem Stockbach, der auf der rechten Seite unter ihm in vielen Kurven plätscherte, eingerahmt von Weiden, Büschen und einem mit rostbrauner Erde belegten Wanderweg. Ab und zu zweigten schmale Wege ab, bessere oder eher schlechtere Einfahrten, die zu Gehöften am Hang oder einzeln stehenden Häusern führten.
Herlingen