A. F. Morland

Extra Krimi Paket Sommer 2021


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ihr Gedächtnis verloren hatte?«

      »Genau die. Wir wissen immer noch nicht, wer sie ist.«

      »Und deswegen sind Sie hier?«

      Scheinbar widerwillig nickte Rogge. »Warum ist sie gerade hier, auf diesem gottverlassenen Parkplatz, aus dem Auto gestoßen worden?«

      Thelen spitzte überrascht die Lippen und Rogge blickte wie zufällig zu Monika Ziegler, die blass geworden war und sich erleichtert zu Gertrud umdrehte, die ein volles Tablett absetzte: »So, die letzte Runde, einverstanden?«

      »Ich hab morgen frei«, sagte Thelen verwirrt.

      »Müssen Sie nicht melken?«, erkundigte sich Rogge.

      Thelen schüttelte stolz den Kopf: »Wir haben kein Milchvieh mehr. Nur noch Fleischrinder, in Robusthaltung.«

      »Na, denn mal Prost.« Als sie die Gläser abstellten, kicherte Thelen unvermittelt: »So gottverlassen ist der Parkplatz gar nicht.«

      »Wie meinen Sie das?«

      »Sind Sie mal da oben gewesen?«

      »Natürlich.«

      »Man kann von dem Parkplatz aus in den Wald fahren und da laufen merkwürdige Dinge ab. Manchmal wenigstens.«

      »Ja?« Ein höfliches Desinteresse, Thelen reagierte gekränkt, die guten alten Verhörtricks funktionierten doch immer wieder.

      »Vor allem, wenn es dunkel ist«, beteuerte er.

      »Liebe findet überall statt«, kommentierte Rogge trocken, doch damit forderte er Thelen endgültig heraus: »Keine Liebe, Herr Rogge. Ganz andere Dinge.«

      »Da bin ich aber gespannt.«

      »Freunde von mir haben zweimal einen Lieferwagen gesehen, der in dem Wald parkte. Und dann kam über die Wiese ein anderer Wagen, zwei Männer luden etwas um und der Lieferwagen fuhr wieder auf die Autobahn.«

      »Nachts? Im Dunkeln?«, zweifelte Rogge höflich und Thelen nickte eifrig, als müsse er den Skeptiker überzeugen.

      »Glauben Sie, das hat was zu bedeuten?«

      »Sie nicht? Im Dunkeln ein- und ausladen?«

      Mit der Antwort ließ sich Rogge Zeit: »Ich weiß nicht. Vielleicht. Aber eigentlich glaube ich eher an ein harmloses Treffen. In meinem Beruf erlebt man Dinge, die glaubt einem kein Mensch, die kann man gar nicht erfinden.«

      Thelen wollte etwas einwenden, aber Monika legte ihm eine Hand auf den Arm.

      »Ich will Ihnen mal eine Geschichte erzählen, die ich selbst erlebt habe. Eine Frau kommt auf ein Revier und meldet ihren Mann als vermisst ...« Mit der Geschichte von dem Zwillingsbruder hatte er schon mehrere Runden unterhalten, sie war auch mehr als kurios und unwahrscheinlich, erklärbar nur durch die Tage des Zusammenbruchs 1945. Eine Frau brachte auf der Flucht eineiige Zwillinge zur Welt, die neugeborenen Jungen wurden getrennt, als sich der Treck vor den nachrückenden russischen Truppen zerstreute und in alle Richtungen zerstob. Die Kinder wurden gerettet, von der Mutter gab es keine Spur und die Zwillinge wuchsen in Heimen und bei Pflegefamilien auf, ohne voneinander zu wissen. Dann verließ der eine Zwilling seine Frau, sie meldete ihn auf dem Revier als vermisst und begegnete auf dem Weg zurück in ihre Wohnung dem anderen Zwilling ...

      Am meisten amüsierte sich Gertrud, sie besaß, wie Rogge argwöhnte, einen winzigen Hang zum Sadismus, gerade groß genug, um Gefallen an Katastrophen, Pannen und Verwicklungen zu finden. Thelen lauschte scheinbar ungerührt und Monika litt mit. Drei Personen, drei Temperamente. Die beiden Alten am Tresen schienen sich alles gesagt zu haben und dösten stumm über ihren leeren Gläsern. Auf der Bank der jungen Wilden war den Streithähnen die Kraft aus gegangen, einer hatte schon den Kopf auf den Tisch gelegt und schlief, der andere gähnte, dass es ihn schier zerriss. Benno Brockes flüsterte mit Andrea Wirksen, die ihm fast auf dem Schoß saß, und griff ihr dabei ungeniert an den Busen; sie wehrte ihn nicht ab. Plötzlich roch und schmeckte alles schal. Kneipenschluss.

      »Eine verrückte Geschichte«, urteilte Thelen und wollte nicht zugeben, dass sie ihn beeindruckt hatte. Monika wischte sich verstohlen zwei Tränen weg und Gertrud holte tief Luft: »Was es nicht alles gibt ...«

      »Vor allem gibt es kein Bier mehr«, jammerte Rogge theatralisch und zwinkerte ihr zu. »Ich verziehe mich.«

      Als Rogge aufstand, rückte Andrea ein Stück zur Seite, was Brockes mit einem drohenden Grunzen quittierte; seine Augen waren jetzt rot unterlaufen und der tückische Blick, mit dem er Rogge und Gertrud bedachte, verhieß nichts Gutes.

      »Soll ich Ihnen helfen ...?«

      Die Bedienung hatte sein halblautes Angebot richtig verstanden: »Keine Angst, mit Benno werd ich fertig.«

      »Dann wünsche ich Ihnen allen eine gute Nacht.«

      Gertrud klatschte in die Hände, die beiden alten Knaben schossen auf ihren Hockern regelrecht in die Höhe: »Schluss für heute.«

      Rogge saß noch am offenen Fenster und rauchte eine letzte Zigarette, als es leise an seiner Zimmertür klopfte. Verwundert, aber auch beunruhigt stand er auf.

      »Herr Rogge?« Trotz des Flüsterns erkannte er Gertrud.

      »Moment.« Was sollte das denn?

      Doch sie schien gar nicht daran zu denken, dass er sie missverstehen könnte, sondern legte erleichtert los: »Gut, dass Sie noch nicht schlafen.«

      »Wollen Sie hereinkommen?«

      »Gerne.« Gertrud huschte ins Zimmer und wirbelte herum: »Ich wollte mich bei Ihnen bedanken.«

      »Wofür denn das?«

      »Dass sie die - die Sache mit Monika nicht erwähnt haben.«

      Ihm ging ein Licht auf: »Thelen weiß nicht, dass Monika ...?«

      »Nein. Er darf es auch nie erfahren. Sonst rastet er aus.«

      »Ich werde schweigen!«, versprach er großzügig und sofort verwandelte sich der gespannte Zug in ihrem Gesicht.

      »Ich hab Blut und Wasser geschwitzt«, bekannte Gertrud. »Das hätte ich Ihnen vorher sagen müssen.«

      »Es ist ja alles gut gegangen und jetzt weiß ich Bescheid.«

      »Fein.«

      »Sagen Sie mal, Gertrud, wenn Sie schon hier sind: Diese Andrea Wirksen, die da mit dem Brockes rumgeknutscht hat, wer ist das?«

      »Andrea?« Sie runzelte die Stirn, ihr Blick wurde finster. »Die treibt’s mit allen.«

      »Auch mit Benno Brockes?«

      »Das war mal, Benno will jetzt nichts mehr von ihr wissen.«

      »Und sie? Hat sie was für Benno übrig?«

      »Ja, scheint so«, entgegnete Gertrud so zaghaft, dass er aufhorchte. »Manchmal hängen sie wie die Kletten zusammen und dann wieder kracht’s, dass man fürchtet, er schlägt sie tot.« Dabei strich sie unwillkürlich mit beiden Händen über ihren Busen und Körpersignale verstand er besser als sie.

      »Der Benno ist hinter Ihnen her, was?«

      »Klar«, erwiderte sie, wieder unbefangen. »Benno ist hinter jeder Frau her, und wenn er sie herumgekriegt hat, wirft er sie auf den Müll.«

      »Was macht er beruflich?«

      »Fahrer bei der Molkerei. So öde wie der ganze Kerl.« Bis jetzt hatte sie spontan geantwortet, aber weil ihm das leise Zögern vor ihren letzten Worten nicht entgangen war, verkniff er sich alle weiteren Fragen.

      »Wegen Monika müssen Sie sich wirklich keine Sorgen machen.«

      »Danke. Schlafen Sie gut.« Auch nach einem langen, schweren Tag konnte Gertrud nicht langsam gehen, sondern sie stürmte aus seinem Zimmer.