die Nation also in der Wertehierarchie weit oben eingruppiert, also gewissermaßen zur „Religion“ erhebt, die unbedingten Einsatz verlangt.
Diese drei bisher genannten Motive sind – dies möchte ich festhalten – keine konfessionsspezifischen Motive, möglicherweise aber Motive, zu denen die verschiedenen Konfessionen durchaus unterschiedliche Affinitäten entwickeln konnten.
Daneben scheinen mir aber zumindest noch zwei weitere Motive nicht nur denkbar, sondern auch belastbar, die einen klaren katholizismusspezifischen Bezug aufweisen. Da wäre zum einen
4. ein allgemeines, innen- und kulturpolitisches Motiv: Die Katholiken konnten, nach dem Ende der deutschen Kulturkämpfe der 1870er und 1880er Jahre, zufrieden sein mit dem nach der Jahrhundertwende erreichten Status quo. Sie waren, nach einem langen, steinigen Weg, im freilich noch immer protestantisch dominierten Kaiserreich „angekommen“. Diese nach vielen Jahrzehnten endlich vollzogene nationale Integration sollte nicht gefährdet werden, um dem alten Vorwurf, Katholiken seien keine wahren Deutschen, keine neue Nahrung zu geben17. Im Gegenteil, man hegte angesichts der „Blutopfer“ berechtigte Hoffnungen bzw. Ansprüche auf Gewährung vollständiger Parität18. – Und schließlich
5. ein Motiv, das ich als ein religionspolitisches bezeichnen möchte: Gemeint ist der klare, nicht nur bekenntnismäßige sondern auch getätigte Schulterschluss des protestantisch dominierten Deutschland mit dem katholischen Österreich. Seit dem 19. Jahrhundert gehörte die Wiedervereinigung mit Österreich, und damit die Überwindung des kleindeutsch-protestantischen Deutschen Reiches, zu den Visionen und Hoffnungen der deutschen Katholiken. Dieses Ziel schien nach wie vor erstrebenswert19. Den katholischen Österreichern zu Hilfe zu kommen und eine mentale Allianz zwischen Österreich und Deutschland zu schmieden, musste im Interesse des Katholizismus liegen.
Neben den möglichen Motiven der Katholiken für eine Bejahung des Krieges gibt es jedoch auch mögliche Motive der Ablehnung:
1. Ein entweder generell ethisch, vielleicht aber auch religiös-christlich begründetes Motiv ist eine dezidiert pazifistische Grundeinstellung. Dazu ist zu sagen, dass die Ausbildung eines solchen Bewusstseins in den Jahren vor 1914 alles andere als eine Selbstverständlichkeit war20, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich von der christlichen und auch katholischen Staatslehre her keineswegs nahelegte, vielmehr völlig quer dazu stand. Es war eine Position, die sich der einzelne vielleicht mühsam aneignen konnte, die aber nicht im Mainstream der Zeit und auch nicht im Verkündigungs- und Bekenntnismainstream des Katholizismus lag, obwohl Pius X. (1903–1914) die internationalen Friedensgesellschaften gefördert hatte21.
2. Ein Motiv, das man vielleicht als konfessionspolitisch oder gar religiös bezeichnen könnte, das dann aber nur für einen Teil des 1914 ausbrechenden Krieges Geltung beanspruchen dürfte, wäre die Maxime, katholische Glaubensbrüder (wie sie auf belgischer und französischer Seite standen) nicht mit kriegerischen Mitteln zu bekämpfen, und das hieß: Glaubensbrüder nicht zu töten. Aus der Perspektive eines – wie es für den deutschen Katholizismus ja absolut zutrifft – lange eingeübten mentalen Ultramontanismus, der gerade sehr pointiert die nationalen Grenzen überschritt und nicht nur die Religion, sondern die Konfessionszugehörigkeit zum höchsten Maß aller Dinge machte, war dies keineswegs eine abwegige sondern eine durchaus evidente Position.
Eine letzte Überlegung: Muss nicht davon ausgegangen werden, dass die Haltung der Katholiken (wie auch anderer Sozialmilieus) zum Krieg, und damit auch die Motivationen, einem Wandel unterworfen waren? Je nach Lage und Stand des Krieges, je nach kollektiver oder individueller Erfahrung, dürften sich Modifikationen oder gar „Wenden“ ergeben haben22. Ich meine damit nicht nur, dass Kriegsglück oder Kriegspech die Stimmung der Akteure und der Erleidenden beeinflussten, dass es etwa im Sieg eine größere Bereitschaft zum Krieg gab, während sich in depressiven Kriegsphasen durchaus kritischdistanzierte Haltungen ausbildeten. Es war sicher auch nicht dasselbe, ob man gegen den Balkan oder Russland, oder gegen die belgischen Nachbarn kämpfte. Frankreich war ohnedies noch einmal ein Sonderfall: Da gab es die (mal traumatischen, mal freudigen) Erinnerungen an vergangene Kriege (nicht nur 1871, sondern auch 1618–1648 und Napoleon), da war das Bewusstsein, gegen Katholiken vorzugehen, aber gegen Katholiken eines Staates, der sich spätestens im zurückliegenden Jahrzehnt von der Religion verabschiedet und einen durchaus kirchenfeindlichen Laizismus ausgebildet hatte.
2. Ungünstige Voraussetzungen? Der lange Weg der Katholiken ins Reich
Ich beginne meinen zweiten Gedankenschritt mit einem zeitgenössischen Zitat:
„Die Frage, wie sich der Deutsche Kaiser als oberstes Organ des Reiches zum Problem des Verhältnisses der verschiedenen Konfessionen im paritätischen Staate tatsächlich gestellt hat, betrifft nicht so sehr den Schöpfer des Reiches, Kaiser Wilhelm I., als vielmehr dessen zweiten Nachfolger. […] Der gegenwärtig regierende deutsche Kaiser ist für seine Person ein gläubiger Protestant. Tief durchdrungen von dem Glauben an einen persönlichen Gott, voller Bekenntnisfreude zu Christus, betrachtet er seine Herrscheraufgabe als ein ihm von Gott anvertrautes Amt und Gut, für dessen gerechte Verwahrung er dereinst Rechenschaft abzulegen habe. […] Aus diesem Glauben schöpft der Kaiser das Bewusstsein seiner Pflicht und zugleich mit der Überzeugung die Mission, die er auf Erden zu erfüllen hat, das demütige Vertrauen auf Gottes Vorsehung. Das Wort Gottes ist ihm dabei ein untrüglicher Leitstern. […] Aus seinen zahlreichen Ansprachen an die Truppen des Landheeres und der Marine sei hier nur ein Ausspruch Wilhelms II. angeführt: ‚Ebenso wie die Krone ohne Altar und Kruzifix nichts ist, ebenso ist das Heer ohne die christliche Religion nichts‘ (12. November 1896). Dieses offene Bekenntnis des Kaisers hat im christlichen deutschen Volke jederzeit freudigen und begeisterten Widerhall gefunden. Wiederholt haben auch die geistlichen Oberhirten des katholischen Volksteils dem Kaiser wärmsten Dank dafür ausgesprochen. […] In seiner Stellung als König von Preußen, dessen Kernlande schon im Zeitalter der Reformation zum protestantischen Glauben übertraten, betrachtet der Kaiser sich wohl im besondern als Schirmherrn der evangelischen Kirche und als Hüter der Glaubensgüter der Reformation. […] Es hat den Kaiser [aber] nicht gehindert, bei zahlreichen Anlässen seiner toleranten, achtungsvollen und aufrichtig friedfertigen Gesinnung gegen seine katholischen Untertanen in bestimmter Weise Ausdruck zu verleihen“23.
Kaiser Wilhelm II. – durch seine religiöse Glaubwürdigkeit und Toleranz die zentrale Autorität – weil Integrationsfigur aller Deutschen? Tatsächlich dürfte diese Einschätzung des katholischen Journalisten und Schriftstellers Karl Hoeber (1867–1942) mitten im Ersten Weltkrieg einer der wichtigsten Faktoren gewesen sein, die es auch den Katholiken 1914 leicht machten, ihm in jenen Krieg zu folgen, der zum Ersten Weltkrieg werden sollte. Zwar wurde der Kaiser schon zu Beginn des Krieges politisch zur Randfigur degradiert. Aber propagandistisch stand er noch lange im Vordergrund. Und es erstaunt nicht, dass von katholischer Seite auch ausdrücklich auf Wilhelm II. rekurriert wurde, etwa, wenn der Jesuit Bernhard Duhr (1852–1930) in einer Predigt über den „echten Soldatengeist“ ausführte:
„Unser Kaiser will fromme Soldaten: Im Jahre 1910 sagte er in weihevoller Stunde zu seinen jungen Gardisten: ‚Vergeßt euren Gott nicht, denn durch den Segen des Allerhöchsten wird euch der Dienst leicht und lernt ihr schwere Stunden überstehen. Scheut euch auch des Gebetes nicht, das einst eure Mutter euch gelehrt hat, denn ich will Soldaten haben, die ihr Vaterunser beten’“24.
Zweifellos war der Kaiser als Integrationsfigur wichtig, gerade für die Katholiken, die aus ihrer geschichtlichen Erfahrung mit dem preußischen Militarismus eigentlich nichts anfangen konnten.
Dass die Katholiken sich 1914 so geschmeidig mit dem Krieg arrangierten, war, zumal angesichts der zurückliegenden jüngeren Geschichte, alles andere als selbstverständlich. Hatten sie doch einen vom Protestantismus deutlich verschiedenen Weg durch das 19. Jahrhundert zurückgelegt, auch eine durchaus grundlegend differierende Ansicht über „Religion“ und „Nation“ adaptiert.
Nur zur Erinnerung: Der erste große „Bruch“ der deutschen Katholiken mit der „Nation“ hatte zu Beginn des 19. Jahrhunderts stattgefunden: Der Untergang der kirchlichen Territorialherrschaften, die „Enteignung“