deutschen Bischöfe sahen in ihrem gemeinsamen Kriegshirtenbrief „eine ihrem ganzen Wese nach unchristliche, undeutsche und ungesunde Überkultur mit ihrem äußeren Firnis und ihrer inneren Fäulnis, mit ihrer rohen Geldsucht und Genußsucht, mit ihrem ebenso anmaßenden wie lächerlichen Übermenschentum, mit ihrem ehrlosen Nachäffen einer fremdländischen [gemeint war die französische], verseuchten Literatur und Kunst und auch der schändlichsten Auswüchse der Frauenmode“ mitverantwortlich für den Krieg, den Gott nun als „Kriegsgericht“ über die „gottfeindlichen, irreligiösen, ungläubigen und unsittlichen Weltmächte“ hereinbrechen lasse73. Hier artikulierte sich noch einmal der Kulturpessimismus des katholischen Antimodernismus. Interessant ist, dass die Schuld zwar generalisierend für alle artikuliert, aber dennoch individualisiert wurde. Demgegenüber wurde bei gleicher Interpretation in Frankreich die Schuld kollektiv und strukturell gesehen, und auf den Staat bzw. den Laizismus bezogen.
Es waren vor allem die Bischöfe, die in ihren Hirtenbriefen „ein schwarzes Sittengemälde“ insbesondere der modischen Kultur, des Eheverständnisses und der Sexualität zeichneten. Es wurde also nicht zuerst der Krieg für den Niedergang der Moral verantwortlich gemacht, sondern andersherum: Weil die Menschen von Glaube und Sitte abgekommen waren, strafte Gott sie mit Krieg.
Die Perversion oder zumindest die Aporie einer solchen Kriegsdeutung brachte ein Soldat 1917 zum Ausdruck, als er schrieb:
„Etwas ironisch klang mal ein Artikel, wo dieser Krieg als eine Geißel, als furchtbare Strafe für die sündige Menschheit hingestellt wurde. Natürlich hat die Menschheit vor dem Kriege gesündigt. Aber ich frage: wann wurde mehr gesündigt, vor dem Krieg oder während dem Kriege? Ganz entschieden wurde nie mehr gesündigt als gerade in diesem unheilvollen Kriege. Mit welcher Geißel werden denn diese Sünden gestraft?“74
Freilich gab es auch theologisch vorsichtigere Stimmen. Nach den enormen menschlichen Verlusten an der West- und der Ostfront meinte zum Beispiel der Fuldaer Bonifatiusbote im Herbst 1915, das Argument, Gott wolle den Krieg, sei zu relativieren:
„Gott hat den Krieg nicht gewollt, er will auch nicht, daß derselbe so lange fortdauere. […] Aber dieser große, unendliche Gott hat dem Menschen einen freien Willen gegeben. […] Man bleibe also uns fern mit der gedankenlosen Phrase, der Krieg komme von Gott oder wenn es einen gerechten Gott gäbe, dann müßte das Morden ein Ende haben. Wenn die Engländer erklären, wir geben nicht nach und wir wollen keinen Frieden, wenn Frankreich erklärt, bis zum endgültigen Siege dulden wir nicht, daß man vom Frieden spreche, wenn Rußland trotz seiner ungeheuren Niederlagen sich immer noch als halber Sieger wähnt, […] dann leuchtet jedem vernünftigen Menschen ein, daß der Herrgott im Himmel mit der längeren Dauer des Krieges nichts, aber auch gar nichts zu tun hat“75. – Eine selbstkritische Stimme, die aber doch eher eine Ausnahme zu sein scheint!
Die katholische Deutung des Krieges als „Appell zu Buße und Sühne“, als „Strafgericht Gottes über die sündige Menschheit“ und als „Anruf, die Tugenden der Christen zu bewähren“76 wurde allerdings lange Zeit beibehalten77. Sie wurde übrigens auch eingesetzt, um sich gegen die Feinde abzugrenzen, so wenn von der „Pariser Sitte“ die Rede war78.
Möglicherweise war diese Deutung allerdings auch eine Folge der Erfahrung des Kriegsbeginns, als es in ganz Deutschland zu einem großen Ansturm auf die Kirchen kam. Die Zahl der Taufen nahm sprunghaft zu, die Gottesdienste waren vielbesucht, die Sakramente wurden bewusst empfangen79. Auch wenn dieser „Massenandrang der Soldaten“, aber auch der Zivilisten, nicht unbedingt einen religiösen Ursprung gehabt haben muss80, legte sich die geschilderte Deutung doch nahe. Die Frage ist, wie in diesem Zusammenhang das bereits in den ersten Kriegsmonaten deutliche Nachlassen religiöser Betätigung der Soldaten, aber auch die Rückkehr der Daheimgebliebenen zu einem „religiösen Routineverhalten“ zu deuten ist. Als Beweis für den nichtreligiösen Ursprung des ersten Andrangs, also im Sinne eines „Akts der Vergemeinschaftung in der Unsicherheit und der Bedrohung“, oder als Beleg für eine rasche Verrohung der Soldaten unter den unmittelbaren Eindrücken des Krieges? Oder wurde die theologische Legitimierung des Krieges einfach zunehmend als „falsch“ erkannt und entlarvt? Schwand also im Zuge der Manifestation des Krieges als Dauerzustand das „Vertrauen in die göttliche Vorsehung“? Es wird wohl das eine wie das andere stimmen. Die zunehmenden Klagen über den sittlichen Verfall, sowohl zuhause bei den zurückgebliebenen Frauen, als auch bei den Soldaten im Feld, zeigen jedenfalls nicht nur, dass alle (vielleicht auch nur zweckoptimistischen) Hoffnungen des Klerus auf eine religiössittliche Erneuerung enttäuscht wurden, sondern dass auch die daran geknüpfte Kriegstheologie absurde Züge aufwies.
Paradigmatisch für den Krieg als „Anruf“ Gottes mag eine Predigt des Paderborner Bischofs Karl Joseph Schulte (1871–1941) stehen:
„Auch von heiligen Tagen, Tagen der Heiligung, darf Gott sei Dank gesprochen werden. In welch unübersehbaren Scharen und mit welch tiefem Ernste haben unsere wehrpflichtigen Männer uns Jünglinge – selbst solche, die Gott und der Kirche jahrelang entfremdet waren – vor dem Auszuge in den Krieg am Beichtstuhl und am Tisch des Herrn sich eingefunden! Der Gedanke an die Ewigkeit und an des Menschen letzte Dinge leuchtete blitzhell in Millionen Seelen auf, die dem Tode täglich nun ins Antlitz sehen müssen; er hat zahllose und unvergeßliche Wunder einer kindlich frommen Rückkehr zu Gott, dem Ewigen und Allbarmherzigen, bewirkt. Und die Daheimgebliebenen? Wann hat man je zuvor solchen Ernst im Lebenswandel, solche Anspruchslosigkeit, solchen Eifer im Guttun wahrgenommen? Wie sehnen sich jetzt die Gläubigen nach den übernatürlichen Kraft- und Trostquellen der heiligen Gnadenmittel der Kirche, wie drängen sie sich täglich am Morgen und am Abend zu den kirchlichen Stätten des Wortes Gottes, des gemeinsamen Gebetes und des heiligen Opfers!“81
Diese Argumentation wurde auch dann noch aufrechterhalten, als bereits in den ersten Kriegsmonaten ein deutliches Nachlassen der religiösen Betätigung der Soldaten82, ja ein deutlicher Sittenverfall83 zu bemerken war. Der Jesuit Peter Lippert (1879–1936) pries – nach über einem Jahr Kriegserfahrung – geradezu hymnisch die inneren „Errungenschaften“ des Krieges, die vielleicht größer seien als der äußerliche Sieg: Die „Hochspannung des Geistes“, den „rastlosen, unverdrossenen Arbeits- und Opferwillen“, das Aufhören von „Partei- und Bruderzwist“, die Überwindung sozialer und gesellschaftlicher Schranken, die „Kameradschaftlichkeit des ganzen Volkes“, die soziale „Gebe- und Opferfreudigkeit“, die sich allgemein zeige.
„Als vor vierzehn Monaten das gigantische Ringen anhob, da war es uns, als ob neue Morgenröten aufgingen hinter den Bergen, als ob neue Lebensquellen aufspringen wollten in allen Gründen, als ob neues Geisteswehen herangebraust käme von allen Höhen und Tiefen. Da fühlten wir uns, nach dem ersten ungeheuren und unfaßbaren Eindruck, wie neugeboren. Wir erwachten zu einer neuen Wirklichkeit. Wie wenn ein langer und böser Traum verflogen wäre und frische Morgenwinde uns die von Nichtigkeiten und Narrheiten heißgewordenen Stirnen kühlten. Wir sprachen erstaunt und beglückt von der Wiedergeburt des Volkes, von der politischen, sittlichen, religiösen Wiedergeburt. Und es war nicht alles Täuschung. So lange wir leben werden, wir Zeitgenossen dieses Krieges, werden wir Gott kniefällig zu danken haben, daß wir sie erleben durften, diese Zeit, wo wir unser Vaterland, unsere Seele, unsern Gott neu entdeckten“84.
Lippert sah allerdings die Gefährdung solcher Errungenschaften und er verband deshalb mit seinem Jubel sehr konkrete Vorstellungen, Erwartungen und Aufgaben an das Volk, vor allem aber an die ganze Seelsorgstätigkeit der Nachkriegszeit. Die gemachten Erfahrungen müssten seiner Ansicht nach auch zu einer Läuterung der Kirche, der Pastoral führen. Alles komme darauf an, „daß eine regelmäßige Seelsorge auch die Bevölkerungsschichten erfasse, die ihr bisher entgangen“ waren, „besonders in den Großstädten“. „Die Sammlung und Betreuung der in besonderem Maße Gefährdeten, der Zugewanderten und der schulentlassenen Jugend“ werde zu einer der dringendsten Aufgaben werden. Lippert forderte eine individuellere Gruppenseelsorge, das Ausschöpfen der liturgischen Möglichkeiten. Die von vielen Feldgeistlichen an den Tag gelegte „außergewöhnliche Rührigkeit, Weitherzigkeit und Entschlossenheit“ müsse weitergehen. Religiöse und liturgische Gebräuche und Gepflogenheiten hätten keinen Wert an