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Milieusensible Pastoral


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sein auf dem Wege einer kritischen Auseinandersetzung und einer analytisch verfahrenden Reflexion des hier angebotenen Werkzeugs. Zugespitzt formuliert: Kritik ist für den hauptamtlichen Berufsstand eine Form der Aneignung, kritische Distanz eine Form der Annäherung an diese Perspektive. D. h. aber

      – es braucht die Foren, in denen Raum für solche kritische Aneignung gegeben ist,

      – es wird bei dieser Klientel im Regelfall nicht zu enthusiastischer Zustimmung kommen; im Gegenteil! Je mehr wir in der Kirche etwa auch auf begeisterte Rezeption der Lebenswelt-tools treffen, umso skeptischer wird ein ideologiekritischer Blick die angebotene Perspektive anschauen. Die Rückfragen, die sich hieraus ergeben, muss sich ein Plädoyer für Milieusensibilisierung und die Aufnahme sozialempirischer Methoden gefallen lassen. Wichtig ist, dass es überhaupt zu Diskussion und Klärung kommt.

      – Von der Milieulogik her müssen wir damit rechnen, dass es immer Pfarrerinnen und Pfarrer geben wird, die in Distanz bleiben. Das gehört zum Prozess dazu und ist nicht zu beklagen. Chancen ergeben sich vielmehr durch die in der Milieulogik ja angelegte Perspektive der Korrektur und rationalen Auseinandersetzung, auch mit der eigenen Haltung.

      (3) Die Notwendigkeit einer Doppelstrategie: Aufklärung über lebensweltliche Fragmentierung und institutionelles Denken

      Wir brauchen eine Doppelstrategie, die die ambivalenten Kennzeichen von Kirche berücksichtigt. Wer in einer Institution Veränderung will, muss sich auf sie und ihre Strukturen einlassen. Notwendig ist zwar einerseits ein Ringen um die Priorisierung der Lebensweltperspektive, um eine Präsenz der entsprechenden Fragestellungen, eine Verdeutlichung der Relevanz und Reichweite der Milieufragen. Das geschieht medial und inhaltlich. In einer Kirche, die durch festgelegte Entscheidungswege bestimmt ist, ist mit einer solchen Präsenz allein aber nur wenig gewonnen. Dauerhafte Wirkung entfaltet nur, was auch eine institutionelle, etwa haushaltsrechtliche Verankerung oder strukturelle Manifestation bekommt. Wir brauchen darum ebenso ein Procedere, das die Anliegen in einer Gestalt formatiert, die eine institutionelle Verankerung und Förderung erlaubt. Das geschieht im Ernstnehmen der Entscheidungswege einer altehrwürdigen Institution, die immer noch Veränderungen top down zu erreichen sucht; deren bei weitem dominierende ortskirchengemeindliche Struktur nicht ohne sachlichen Grund32 die stärkste Lobby hat. M.a.W., es reicht nicht, eine möglichst große Zahl von Menschen für die Lebensweltperspektive zu begeistern.

      (4) Milieusensibilisierung, Ressourcenverteilung und Haushaltspläne

      Teil dieser Doppelstrategie ist es, einerseits den Blick für Milieudifferenzen zu stärken und andererseits zu fragen, wie Kirche die von allen Kirchenmitgliedern erhobenen Kirchensteuern einsetzt; ob diese „gerecht“ verteilt werden, also in etwa in Relation der Verteilung der Kirchenmitglieder auf die verschiedenen Milieus diese Mittel auch wieder den unterschiedlichen Milieus zu Gute kommen. Wir brauchen dann auf institutioneller Ebene Haushaltsdebatten, in denen Milieusensibilisierung unter dem Gesichtspunkt der Ressourcenverteilung und -gerechtigkeit behandelt wird. In ihnen wird dann auch für Menschen, die vielleicht für kulturhermeneutische Gesichtspunkte ein weniger ausgebildetes Sensorium haben, abbildbar, dass diese Perspektive konkrete, finanziell und haushaltspolitisch fassbare Konsequenzen generiert. Inwieweit kommen die Milieus, die ihren erheblichen Beitrag zu den kirchlichen Finanzen leisten, angemessen in Haushaltsstellen vor? Inwieweit konzentrieren wir die Verwendung kirchlicher Mittel in einem ortsgemeindlichen Netz, von dem ganz vorwiegend eine prämoderne Klientel profitiert, die mit Kirche vor allem Versorgungserwartungen verbindet? Inwieweit müssen wir nicht offen über die Interessengegensätze sprechen, die sich durch das Gegenüber von Versorgungskirche einerseits und missionarisch und milieusensibel orientierter Kirche andererseits ergeben, das sich konkret in Haushaltsplänen von Synoden niederschlägt? Was geben wir beispielsweise als Kirche denen zurück, die Kirche durch ihre hohe Kirchensteuer ganz wesentlich finanzieren?

      (5) Projekte – Innovationen Raum schaffen, plausibilisieren und durchsetzen

      Wir brauchen theologische Foren, in denen über ergänzende Angebote zur Parochie nachgedacht werden kann, und finanzielle Mittel für Projekte, in denen diese ausprobiert, erprobt und konzeptioniert werden können. Wir brauchen kirchenleitende Strukturen, die fresh expressions of church ebenso fördern, wie sie sie einbinden; die sie ebenso segnen und gerade in der Wachstumsphase schützen, wie sie sie als Teil des Ganzen begreifen und ihnen so theologische Identität geben.

      Kirche in ihrer gegenwärtigen Gestalt hat eine große, erfolgreiche Vergangenheit, bei allem, was auch kritisch zur Herkunft des parochialen Netzes zu sagen ist. Das dominierende ortsgemeindliche Gestaltungsschema33 hat sich sehr bewährt. Es hat lange Zeit auf eine sehr effektive Weise Kirche als Volkskirche organisiert. Es manifestiert sich in den gegenwärtigen Kirchen nicht nur mental, sondern eben auch juristisch und durch ein umfangreiches Regelwerk. Es ist kein Wunder, dass es mentale Widerstände und institutionelle Hindernisse gegen alles gibt, was seine Bedeutung einschränken könnte. Man kann sich Kirche mittlerweile kaum anders vorstellen denn als Gebilde, das ortskirchengemeindlich organisiert ist, mit einem/einer leitenden hauptamtlichen kirchlichen MitarbeiterIn an der Spitze.

      Wer ergänzende und alternative Formate will, sollte, kann und will wahrscheinlich nicht darauf warten, bis auf dem Gang durch die Instanzen und Leitungsebenen vermutlich erst nach (zu) langer Zeit und in einer (zu) stark beschnittenen Form Strukturen gebildet und Rechtsräume geschaffen sind, die diese institutionell verankern. Es legen sich im Rahmen der oben beschriebenen Doppelstrategie folgende Verfahren nahe:

      – Fresh expressions, alternative und ergänzende Formate von Kirche sollten wir nicht zuerst kirchenrechtlich zu sichern suchen, sondern als Projekte formatieren. Projekte haben nur eine begrenzte Laufzeit. Sie sind grundsätzlich provisorischer Natur. Sie müssen nicht funktionieren. Man kann sie beenden. Deshalb lösen sie auch weniger Angst und Abwehr aus. Für sie besteht kirchenleitend eine größere Offenheit. Wenn sie funktionieren und sich als sinnvoll erweisen, gewinnen sie für das hinter ihnen stehende Konzept Vertrauen und machen Mut, weitere, auch grundsätzliche Schritte zu gehen.

      Vielfach ist es auch schon hilfreich, zu zeigen, dass das Neue so neu nicht ist, sondern schon lange existiert, etwa unter einem anderen Namen, und sich bereits gesamtkirchlich bewährt hat. In mannigfachen Sonderpfarrämtern, Spezialstellen und besonderen Einrichtungen dokumentiert sich eine bereits auch früher gegebene Sensibilität für Lebenswelten, die Kirche mit ihrem parochialen Netz und einer vorwiegend traditionsorientierten Mentalität und Kultur nicht oder kaum erreicht. Milieusensibilisierung kann freilich dazu beitragen, den Status dieser Einrichtungen und Provisorien zu stärken und ihre Logik, ihren Sinn, ihre Existenzberechtigung zu plausibilisieren.

      Literatur

      Aristoteles, Metaphysik Buch Lambda (12), 1072a19–1073a14.

      Jan Assmann, Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München/Wien 1998.

      Jan Assmann, Die mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München/Wien 2003.

      Ulrich Beck, Der eigene Gott. Von der Friedensfähigkeit und dem Gewaltpotential der Religionen, Frankfurt a.M./Leipzig 2008.

      Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M. 1987.

      Stephen Croft, Jesus People/Format Jesus. Unterwegs zu einer neuen Kirche, Neukirchen-Vluyn 2012.

      Heinrich Detering, Der Antichrist und der Gekreuzigte. Friedrich Nietzsches letzte Texte, Göttingen 2010.

      Philipp Ehlhaus/Christian Hennecke, Gottes Sehnsucht in der Stadt. Auf der Suche nach Gemeinden von Morgen, Würzburg 2011.

      Ingrid Eilers, Kurse zum Glauben für verschiedene Sinus-Milieus, in: Erwachsen Glauben. Missionarische Bildungsangebote. Grundlagen – Kontexte – Praxis, hg. von der Arbeitsgemeinschaft missionarischer Dienste (AMD) Berlin, Gütersloh 2011, 83–122.

      Christian Grethlein, Die Kommunikation des Evangeliums in der Mediengesellschaft, Leipzig 2003.

      Daniel Havemann, Der „Apostel der Rache“. Nietzsches Paulusdeutung, Berlin/New