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Verwundbar


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      Die menschliche Verwundbarkeit ist von großem humanem Interesse, denn sie hat vielfache Auswirkungen: in der Politik und im persönlichen Zusammenleben, in Migrationsdebatten und Religionskonflikten, in Persönlichkeitsentwicklung und Traumabearbeitung. Aus diesem Grund entwickelt sich in den letzten Jahren Vulnerabilität zu einem Forschungsthema, das auch gesellschaftliches Interesse weckt. Welche Machtwirkungen entfaltet die Vulnerabilität in aktuellen Debatten um Migration und interkulturelle Kompetenz, Homosexualität und Vielfalt der Lebensformen, sexuellen Missbrauch und systemische Gewalt, Terrorgefahr und Radikalisierungsprävention?

      Solche Fragen lassen sich interdisziplinär klarer beleuchten. Im Folgenden finden sich daher zu jedem Thema zwei Perspektiven, eine humanwissenschaftliche und eine theologische. „Gemischtes Doppel“ nannten wir dies, als wir in den Sommersemestern 2018 und 2019 an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg zwei Ringvorlesungen durchführten, die diesem Buch zugrunde liegen. Im Folgenden rücken dabei zum einen die zerstörerischen Wirkungen der Vulnerabilität in den Blick. Zum anderen gehen wir der Frage nach, ob Verwundung und Verlust auch schöpferische Kräfte freisetzen können; denn Vulnerabilität macht angreifbar, aber auch berührbar. Sie ist Voraussetzung für Empathie und Solidarität, für Freundschaft, Liebe und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Selbst das Stiften von Frieden, eine der wichtigsten humanen Kompetenzen, ohne die die Menschheit keine Überlebenschance hätte, gelingt nur in Öffnung, in Verletzlichkeit.

      Das vorliegende Buch ist in drei Themenkomplexe gegliedert, die vielfältig miteinander vernetzt sind.

       I Vulneranz – eine humane Herausforderung

      Wenn man Vulnerabilität erforscht, stößt man unweigerlich auf das, was seit kurzem und eher noch am Rande Vulneranzgenannt wird: die menschliche Gewaltsamkeit, die auf die Vulnerabilität Anderer zielt und eine Verletzungsmacht entwickelt, die persönlich und politisch verheerend wirkt. Dies zeigen Traumatisierungen, die durch Folter und Krieg, Terror und Fluchtmigration entstehen, in besonderer Weise. Für die Theologie, aber auch für andere Wissenschaften wie die Pädagogik ist zudem das Offenbarwerden der sexuellen Gewalt gegen Kinder und Jugendliche durch Missbrauch und Vertuschung in der katholischen Kirche ein Schlüsseldatum. Wer die Vulnerabilität untersucht, dabei aber die Vulneranz außer Acht lässt, bleibt auf einem Auge blind. Vulneranz ist daher eine humane Herausforderung, die es interdisziplinär zu analysieren und zu erforschen gilt. In diesem Sinn will das vorliegende Buch dazu beitragen, den Begriff der Vulneranz als Schlüsselbegriff der Vulnerabilitätsforschung zu etablieren.

       II Liebe und Verletzlichkeit – die Wunde als Ort der Kommunikation

      Weil Wunden schmerzlich sind, tun Menschen vieles, um sie zu vermeiden. Zu Recht sichern sie sich gegen Gefahren ab und wollen Schaden präventiv vermeiden. Aber wenn dennoch eine Verwundung geschieht, so zeigt sich Überraschendes: die Wunde wird zum Ort intensiver Kommunikation. Dies ereignet sich in Familienbanden, wo gemeinsam erlittene Wunden Menschen zusammenschweißen, im Guten wie im Bösen. Die Zärtlichkeit zeigt sich als sanfte Macht, die in Zeiten der Spaltung auf größeren gesellschaftlichen und politischen Einfluss drängt. Auch wo homosexuelle Menschen sich lieben, aber gesellschaftlich diskriminiert werden, entwickeln sie kreative Kulturen, die der Diskriminierung wehren. Religionspolitische Gewalt offenbart die dringliche Notwendigkeit zum interkulturellen und interreligiösen Diskurs, der sich in aller Verletzlichkeit dem Fremden öffnet. In Liebe und Zuneigung, Fürsorge und Zärtlichkeit wächst eine Kraft, die Menschen so zusammenführt, dass sie der erlittenen Vulneranz gemeinsam widerstehen.

       III Widerstand aus Vulnerabilität – Blickwechsel

      Um den kreativen Widerstand zu entdecken, der aus Vulnerabilitätserfahrungen erwachsen kann, sind Blickwechsel erforderlich. Wenn man im Gefängnis nicht nur die Vulneranz, sondern auch die hohe Vulnerabilität der inhaftierten Menschen wahrnimmt, kann vielleicht die unscheinbare, aber wirksame Präsenz Gottes offenbar werden. Die Hölle wird oft von Anderen erzeugt, aber auch im Narzissmus lauert eine Gefahr, die eigene Verwundbarkeit zu leugnen und sich selbst vom Leben abzuschneiden. Vertrauen ist ein hohes Gut, aber in der Pädagogik braucht es auch die Kompetenz, mit verletztem Vertrauen umzugehen und die Praktiken von Kindern zu verstehen, die wieder und wieder Verrat erlebt haben. Die Machtwirkungen, die der menschlichen Vulnerabilität erwachsen, sind vielfältig und immer wieder voller Überraschungen.

      Unser herzlicher Dank gilt allen, die zum vorliegenden Buch beigetragen haben:

      • Der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), welche die Ringvorlesungen und die Entstehung des Buchs über das Forschungsprojekt „Verwundbarkeiten“ inhaltlich und finanziell ermöglicht hat (gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 3892490411)

      • Der Katholisch-Theologischen und der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg für ihre nachhaltige Unterstützung unserer interdisziplinären Forschung

      • Unserer Würzburger Forschungsgruppe „Vulnerabilität, Sicherheit und Resilienz“ für die tatkräftige Mitwirkung in allen Phasen unserer Arbeit

      • Dem Würzburger Studienprogramm „Gesellschaftliche Systeme und interkulturelle Kompetenz“, der sich ein roter Faden des vorliegenden Buchs verdankt, für die hervorragende Kooperation in Ringvorlesung und Buchentstehung

      • Der Domschule Würzburg mit Dr. Rainer Dvorak für ihre entgegenkommende Gastfreundschaft bei der Ringvorlesung

      • Dem Echter-Verlag mit Thomas Häußner für die sorgfältige Betreuung der Publikation

      • Frau Alexandra Birk für ihre große Mühe mit Formatierungs- und Zusammenführungsaufgaben

      • Der Osnabrücker Künstlerin Sybille Hermanns, die uns ein zur Vulnerabilität passendes Bild ihrer Farblandschaften als Titelbild zur Verfügung gestellt hat

      • Und last but not least den Autorinnen und Autoren, die sich auf das interdisziplinäre Duett eingelassen und einen Beitrag für dieses Buch verfasst haben. Engagiert kommen sie dem Anspruch nach, Forschung in gesellschaftlicher Verantwortung zu betreiben

      Den Leserinnen und Lesern wünschen wir eine anregende Lektüre.

      Würzburg, im Januar 2020

       Hildegund Keul & Thomas Müller

      I Vulneranz,

      eine humane Herausforderung

      Topographie des Traumas – wie entsteht Resilienz?

      Das Wort Trauma ist mittlerweile in aller Munde. Unglück und Katastrophen, Kriege und menschliche Gewalt verletzen Menschen so nachhaltig, dass es sie häufig ein Leben lang zeichnet. Aber was genau ist ein Trauma, was eine Posttraumatische Belastungsstörung? Gibt es Wege, mit der erlittenen Gewalt anders umzugehen und ihr Zerstörungspotential einzudämmen? Das erläutern die Praktische Theologin Maike Schult und die Psychologin Eva Barnewitz.

       Maike Schult

      1. Loch, Lücke, wunder Punkt: Zur Topographie des Traumas

      Trauma ist ein kurzes Wort für ein komplexes Phänomen. Ein sprachliches Gefäß für Erfahrungen, die unfasslich scheinen und sich kaum auf den Begriff bringen lassen. Das hängt mit der Vielzahl der Ereignisse zusammen, die traumatisierend wirken und heftige Affekte auslösen können. Es hängt aber auch an der Verstörung sprachlicher Zusammenhänge durch das, was die Sprache verschlägt, was fassungslos macht und sich nicht begreifen lässt. Traumatische Ereignisse fahren direkt in die Glieder. Sie wollen nicht in den Kopf. Sie brechen in den Alltag ein, plötzlich und unerwartet. Sie lösen Angst und Schrecken aus, übersteigen die Verarbeitungskapazität eines Individuums, entmächtigen es seiner Souveränität und Handlungsmöglichkeit und ziehen tiefes Leid nach sich. Sie verletzen das menschliche Bedürfnis nach Verlässlichkeit und erschüttern die Vorstellung von dem, was sein sollte und was nicht. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, und alles anders wird, wenn