– sei es aus Selbstschutz, sei es aus Rache oder um das tiefe Ohnmachtserleben, das für eine traumatogene Situation charakteristisch ist, durch eigenes Machterleben zu kompensieren. Sie können aber auch durch ihre eigene (Straf-) Tat traumatisiert werden (sogenanntes ‚Tätertrauma‘) oder durch die Haft, die sich der Tat anschließt.16 Einen Automatismus zwischen verletzenden Vorerfahrungen und eigenem verletzenden Verhalten gibt es aber nicht: „Nachdrücklich muss davor gewarnt werden, davon auszugehen, dass jeder Mensch mit eigenen Gewalterfahrungen zwangsläufig zum Täter wird“, so der Psychotraumatologe Günter H. Seidler (2013, 163). Und die allermeisten Täter, auch das ist festzustellen, bleiben eigenartig unberührt von dem, was sie getan und zu verantworten haben.17
Ereignisse, die wir mit dem Traumabegriff sprachlich zu fassen suchen und die das Leben von Einzelnen, aber auch ganzer Gesellschaften über die Generationen hinweg prägen können, setzen in der Regel eine Zäsur, die sich trotz guter Therapiemöglichkeiten nicht wieder aus der Welt bringen lässt. Das Leben vor dem Trauma gibt es nicht mehr, und dies zu akzeptieren ist die schmerzhafte, manchmal lebenslange Aufgabe der Betroffenen. Das macht nicht nur den Begriff der Heilung schwierig. Es wirft auch grundsätzlich die Frage auf, wie man mit Unabänderlichem im Leben zurechtkommt und die Spiralen der Gewalt unterbricht. Getanes lässt sich nicht rückgängig machen. Weiße Flecken wie auf den Verlustbildern von Khaled Barakeh lassen sich nicht wieder füllen. Und doch gibt es Möglichkeiten, sich auf die Realität der Verletzlichkeit einzustellen, ohne dem Erlittenen oder Selbstverursachten nur schicksalhaft ausgeliefert zu bleiben, wie ich abschließend an zwei Ansätzen skizzieren will:
1. Mit der jüdischen Philosophin Hannah Arendt (1906– 1975) können wir die menschliche Fähigkeit des Verzeihens als ein „Heilmittel gegen die Unwiderruflichkeit“ (Arendt 2010, 301) verstehen. Das Verzeihen ist für sie der natürliche Gegensatz zur Rache und eine Möglichkeit, die einmal entfesselte Gewalt zu regulieren, die in Gang gebrachte Kettenreaktion zu unterbrechen und sich aus dem Automatismus eines einmal losgelassenen Handlungsprozesses auszulösen: „Verzeihen ist die einzige Reaktion, auf die man nicht gefaßt sein kann, die unerwartet ist, und die daher, wiewohl ein Reagieren, selber ein dem ursprünglichen Handeln ebenbürtiges Tun ist. Weil das Verzeihen ein Handeln eigener und eigenständiger Art ist, das zwar von einem Vergangenen provoziert, aber von ihm nicht bedingt ist, kann es von den Folgen dieser Vergangenheit sowohl denjenigen befreien, der verzeiht, wie den, dem verziehen wird“ (ebd. 307). Das Vergeben ist also eine dem Handeln innewohnende Fähigkeit zur „Korrektur des Mißratenen“ (ebd. 308). Es beziehe sich aber nur auf die Person, nicht auf die Sache selbst – Unrecht bleibt unrecht. Und auch das Verzeihen brauche die Freiheit, es nicht zu tun und stattdessen zu bestrafen. Gerade die Vergehen, die sich als unbestrafbar herausstellen, sind nach Hannah Arendt auch die, die wir außerstande sind zu vergeben: das mit Kant gesprochen „radikal Böse“ (ebd. 309). Wir erkennen es eben daran, dass wir es weder bestrafen noch vergeben können. Es übersteigt den Bereich menschlicher Angelegenheiten und entzieht sich menschlicher Macht. Solche Taten, so Arendt, sind ‚Un-Taten‘, die alles weitere Tun unmöglich machen. Was aber das Verzeihen innerhalb des Bereichs menschlicher Angelegenheiten betrifft, so habe wohl Jesus von Nazareth dies zuerst gesehen und entdeckt (ebd. 304).18
2. Ein Trauma kann auch theologisch nicht geheilt und nicht aus der Welt gebracht werden. Auch wenn wir mit dem biblischen Erzählbestand beides haben: Traumanarrative19 und Hoffnungsbilder, die die „Pathologie der Realität“ (Hillebrandt 2004, 108-109) anzeigen und die Vision eines anderen Zusammenlebens entwerfen, jenseits von Hass und Gewalt. Doch selbst am auferstandenen Christus sind die Wundmale nicht verschwunden, wie insbesondere der ungläubige Thomas verifizieren muss, indem er mit der Hand die Wunden berührt (Johannes 20, 24–29). Mit dem Marburger Theologen Henning Luther (1947–1991) werden wir darum vielleicht insgesamt vorsichtiger, uns über die Bedingungen unseres Zusammenlebens zu täuschen und uns zu schnell mit den „Lügen der Tröster“ (Luther 1998, 376f.) über Verletzungen hinwegzutrösten. Denn selbst wenn wir uns durch Theologie oder Therapie für uns privat beruhigt und wieder in Ordnung fühlen könnten – die strukturellen Bedingungen unseres Zusammenlebens sind damit nicht aus der Welt; das Leid der anderen bleibt.20
Für den theologischen Traumadiskurs wird es daher in Zukunft darum gehen, auch religiös eine Haltung zu finden, die „Schmerz und Sehnsucht“ (Luther 1992, 231ff.) einschließt und Religion nicht als ein Heilmittel (miss-) zu verstehen, das das Leben angenehm macht, sondern sie, in Anlehnung an einen Gedanken von Joachim Gauck, stärker noch als die Kraft zu profilieren, die Menschen dazu ermächtigt, sich dem Unangenehmen im Leben zu stellen,21 um auch angesichts tiefster Verwundungen beunruhigt und berührbar zu bleiben.22
1 Dieses Ziel verfolgt die Narrative Expositionstherapie (NET), vgl. den Beitrag von Eva Barnewitz im vorliegenden Band.
2 Zum Wortfeld Wunde, Haut und Narbe vgl. Fischer-Homberger, E. (2005). Zur Geschichte der Verletzung: Seidler, G. H. & Eckart, W. (2005).
3 Zu dem Verbum τιτρώσκω: eigentlich „durchbohren“, „verwunden“, „verletzen“, aber auch „beschädigen“ (in Bezug auf Schiffe) und „betören“; vgl. Gemoll, W. (1991) und Kluge, F. (2002, 927).
4 Vgl. dazu auch die Sturm-Beispiele im Beitrag von Eva Barnewitz im vorliegenden Band sowie: Schult, M. (2018).
5 Auch die PTBS tritt ja erst „post“, also nach dem Ereignis selber ein.
6 Zur grundlegenden Unterscheidung von Trauma als einem klinischen Fachbegriff und Trauma als einem kulturellen Deutungsmuster vgl.: Schult, M. (2019). Vgl. auch Lançon, Ph (2019), in dem der Autor als Überlebender des Anschlags auf die Redaktion von Charlie Hebdo 2015 Leere und Schmerz der Katastrophe beschreibt.
7 Die „Tage des Exils“ werden von der Körber-Stiftung veranstaltet. Die dritte Reihe fand vom 15. Oktober bis 16. November 2018 statt.
8 Vgl. dazu den Kurztext und die Abbildung von The Untitled Images 2/2014 in: Forschung & Lehre 12 (2018), 1091. Sowie das Interview mit K. Barakeh von M. M. Müller: „Ich will die Strategie von Zeigen und Nichtzeigen begreifen“, Orbanism (17.03.2016). Abrufbar unter: https://orbanism.com/frohmann/tabletalk-europe/2016/ich-will-die-strategie-von-zeigen-und-nichtzeigen-begreifen/.
9 Ähnliche Sprachbilder finden wir in Forschungsberichten zum transgenerationalen Zusammenhang von Traumatisierungen. Dort erscheint das Trauma als dissoziative Lücke, psychische Leere und schwarzes Loch, als Phantom und leerer Kreis, als Fremdkörper im eigenen Selbst, als Schatten oder Introjekt. Vgl. Danieli, Y. (1998).
10 Als „Vulnerabilitäts-Hypothese“ wird hier z.B. die höhere Wahrscheinlichkeit verstanden, aufgrund einer anderen Prädisposition wie Suchtverhalten nach einer Traumaexposition eine Störung wie die PTBS zu entwickeln. Vgl. Schäfer, I (2015, 267).
11 Zur Genese des Vulnerabilitätsdiskurses vgl. Keul, H. (2017).
12 Vgl. dazu Schult, M. (2017). Zur Frage, ob es sich bei den Diskursen zu Verwundung und Resilienz wirklich um Gegenspieler handelt oder ob sich die Phänomene nicht auch konstruktiv zusammendenken lassen vgl. Keul 2017.
13 Der Unterschied im Zeitbezug ist aber nur das eine. Das andere ist, dass in der Geschichte der Traumaforschung sehr lange um die Einsicht gekämpft werden musste, dass nicht nur ‚schwache‘ Naturen Traumafolgestörungen ausprägen, weil sie eine wie auch immer geartete Prädisposition dafür bereits mitbringen, sondern dass Trauma jeden Menschen und auch jede ‚starke‘ Persönlichkeit unwiderruflich aus dem Lot bringen kann.
14 Die Diskursbegriffe Vulneranz und Vulnerabilität gehen zurück auf das lateinische „vulnus“ für „Wunde“ und das Verbum „vulneare“ („jemanden verwunden“) und zeigen damit sprachliche Nähe zum Trauma. Trauma bezeichnet aber eben auch Loch, Leck und Verlust und damit stärker das Nicht-Fassbare und Nicht-Sichtbare einer einschneidenden Verletzung.
15