Kanadische und deutsche Migrationserzählungen
21,9% der Kanadier und Kanadierinnen haben einen Migrationshintergrund. In großen Städten und Ballungsräumen wie Toronto liegt der prozentuale Anteil mit 51,1% nochmals wesentlich höher (Statista Research Department, Ethnien in Kanada 2014). Auf der anderen Seite nimmt das Land relativ wenig geflüchtete Menschen auf. Im Jahr 2016 war eine Zielvorgabe wegen des staatlichen Resettlement-Programms für syrische Flüchtlinge von 25.000 Personen gesetzt (was einem Anteil von 0,07% an der Gesamtbevölkerung entspricht), bereits im Folgejahr aber wieder auf 7.500 (0,02%) reduziert worden. Im Vergleich dazu nahm die Bundesrepublik Deutschland 2016 ca. 746.000 Asylsuchende auf (0,89%) und 2017 ca. 223.000 (0,27%) (Amnesty Report, Kanada 2018). Umgekehrt proportional zu den Zahlen verhalten sich die „Erzählungen“ beider Länder zu „ihren“ Migranten, Migrantinnen und geflüchteten Menschen.
Der Multikulturalismus ist seit 1971 das politische Begleitprogramm, welches 1988 im „Canadian Multiculturalism Act“ unter dem Slogan „Einheit in Verschiedenheit“ Gesetz wurde. Generell wird eine sehr positive Terminologie in Richtung eingewanderter und nach Kanada geflüchteter Menschen gepflegt: „Diversity is Canada‘s strength. (…) what’s made it work so well in Canada is the understanding that our diversity isn’t a challenge to be overcome or a difficulty to be tolerated. Rather, it’s a tremendous source of strength.”1 Gleichzeitig üben Medien, Politiker, Politikerinnen und Vertreter und Vertreterinnen der Zivilgesellschaft mit einem gewissen Lustempfinden große Kritik an der Migrationspolitik der USA. Man hält sich selbst für den kleineren, aber feineren Bruder der USA: „Amerika, nur besser.“2
Kurzum: Man feiert sich für seine Offenheit und schreibt Menschen mit Migrations- und Fluchterfahrung einen stark positiven Einfluss auf die Gesellschaft zu. Und diese Zuschreibung erweist sich als wirksam, wie Umfragen bestätigen. 60% der kanadischen Bevölkerung stehen einer weiteren Aufnahme von geflüchteten Menschen uneingeschränkt positiv gegenüber (s. „Oh wie schön ist Kanada“, Schwarte 2017), und 83% der muslimischen Kanadier und Kanadierinnen sind „sehr stolz“, kanadische Staatsbürger und Staatsbürgerinnen zu sein (Clement 2016). Dabei zeigt die Realität, dass Kanada mit seinen Detention Centres, seinem Punktesystem für Einwanderer, der sozialen Schichtung der Bevölkerung etc. viel näher an den USA liegt, als den Kanadiern und ihrem Narrativ lieb sein kann.3
Ein umgekehrtes Bild ergibt sich für Deutschland, das im Vergleich zu anderen westlichen Ländern eine relativ hohe Zahl von geflüchteten Menschen aufnahm – obwohl sie natürlich im Vergleich immer noch verschwindend gering ist. Hier ist die Terminologie aber häufig negativ eingefärbt. Angela Merkels „Wir schaffen das“ wurde durch rechtspopulistische Terminologien wie Flüchtlingswelle, Flüchtlingskrise, Ansturm, oder auch Asyltourismus überdeckt. Menschen mit Migrations- und Fluchterfahrung wird ein eher negativer Einfluss auf die Gesellschaft zugeschrieben. Statistisch ergibt sich hierfür kein Anhaltspunkt, nicht einmal aus der Kriminalitätsstatistik, wie so gerne weisgemacht wird.
Zusammengefasst kann man also festhalten, dass die Situation in Kanada gemessen an der Realität positiver dargestellt wird, als sie tatsächlich ist, und in Deutschland negativer. Am Beispiel der beiden Länder wird deutlich, dass Sprache und Erzählungen bzw. Narrative bedeutsam und existenziell sind: Sie prägen die Stimmung unter Menschen in einer Bevölkerung, lassen Dinge in einem positiven Licht erscheinen und haben gleichzeitig das Potenzial, Fakten und Realitäten zu verbergen oder unsichtbar zu machen.
Um noch einmal auf Kanada und Deutschland zurückzukommen: In beiden Fällen werden Menschen durch Sprache unsichtbar gemacht, man nimmt ihnen ihre eigene Wirkung, ihre eigene Handlungsfähigkeit, da sie für politische Zwecke eingespannt werden. Beispielsweise verschwinden sie hinter den Absichten, für oder gegen eine offene Gesellschaft zu argumentieren. Menschen werden durch solche vulneranten Erzähl- und Sprechweisen in gewissem Sinne aus Gesellschaften und gesellschaftlichen Diskursen ausgeschlossen, da sie hinter den Rollen verschwinden, die ihnen sprachlich zugeschrieben werden und auf die sie sprachlich festgelegt werden. Sei es als positive oder negative Kontrastfolie.
2. Souveränität und Gouvernementalität: Die Produktion nichtautorisierter Vorsubjekte
Für die US-amerikanische Philosophin Judith Butler ist die Voraussetzung für einen solchen Ausschluss von Menschen aus einer Gesellschaft das eigentümliche Zusammenspiel von Souveränität und Gouvernementalität, das eine moderne, sehr zeitgenössische Form der Macht ergibt.
Mit Michel Foucault versteht sie die Gouvernementalität als eine Ausprägung von Macht, „die mit der Erhaltung und Kontrolle von Körpern und Personen, der Produktion und Regulierung von Personen und Bevölkerungen sowie der Zirkulation von Gütern befasst ist“ und die „durch staatliche und nichtstaatliche Institutionen und Diskurse, die weder durch direkte Wahlen noch durch althergebrachte Autorität legitimiert sind“ (Butler 2005, 70f.), ausgeübt wird.
Im Unterschied dazu ist die Souveränität die Form von Macht, die herkömmlicherweise mit der Legitimität eines Staates und der Form der Rechtsstaatlichkeit verbunden war, indem sie für eine einheitliche Quelle der Macht und deren Symbol sorgte. Allerdings funktioniert die Souveränität nicht mehr in dieser herkömmlichen Weise. Vielmehr taucht Souveränität unter Ausnahmebedingungen, in denen die Rechtsstaatlichkeit außer Kraft gesetzt ist, im Kontext der Gouvernementalität wieder auf, indem das Recht beispielsweise instrumentell als Taktik eingesetzt wird. So kann die Exekutive eines Staates sich judikative Gewalt anmaßen, exekutive und administrative Institutionen können sich Prärogativgewalt ohne Anspruch auf Legitimität vorbehalten.4
Kurz: „Die Gouvernementalität bezeichnet eine Funktionsweise der administrativen Gewalt, die außergesetzlich ist, selbst wenn sie zum Recht als einem Feld taktischer Operationen zurückkehren kann. (…) Das Recht selbst ist entweder ausgesetzt oder wird als ein Instrument betrachtet, das der Staat verwenden kann, um eine gegebene Bevölkerung im Zaum zu halten und zu überwachen“ (Butler 2005, S.74). In der Gouvernementalität entsteht eine Verbindung von Souveränität und Recht, die es erlaubt, Menschen der extremen Verletzbarkeit und der Traumatisierung auszusetzen; eine Verbindung, die Lebensformen an der einen Stelle produziert und gestaltet und an der anderen Lebensweisen verhindert und zerstört, über deren Verfügbarkeit und Vergänglichkeit gebietet (Butler & Athanasiou 2014, 37 & 51f.). Konkret verdeutlichen lässt sich diese Theorie an Transitzentren, Registrierungslagern und Abschiebegefängnissen für geflüchtete Menschen. Diese Lager sind in zweierlei Hinsicht Stätten der Gouvernementalität. Sie sind in zweierlei Hinsicht inexistente Stätten oder unsichtbare Orte: einmal als den Augen der Öffentlichkeit entzogene Stätten und zum anderen als exterritoriale Orte (Foucault 2005).
Der Staat – als gesetzliche und institutionelle Struktur zur Begrenzung eines Territoriums – hält die Bindemittel staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten bereit, unter denen Menschen juristisch gebunden sind. Wenn ein Staat aber bindet, dann kann er auch Bindungen aufheben, indem er bspw. die Bindung an Grundrechte mit einer bestimmten Form von Nationalität verknüpft. Geschieht dies mit Macht oder sogar Gewalt, werden Menschen aus dieser Bindung entlassen, verstoßen oder gebannt. Sie werden durch eine bestimmte Machtoperation des Staates in den Status von Enteigneten versetzt und dort auch gehalten. Somit gehören Geflüchtete dem Set von juristischen Rechten und Pflichten, das die Staatsbürgerschaft konstituiert, nicht an, können also auch ihre Persönlichkeit unter den durch einen Staat rechtlich geschützten Bedingungen nicht mehr entfalten bzw. ihre Rechte wahrnehmen. Dadurch entstehen „gespensterhafte Menschen“, die ihrer juristischen Zugehörigkeitsweisen und ihres „ontologischen Gewichts“ beraubt sind und „durch das Raster der für jede noch so kleine Anerkennung erforderlichen sozialen Wahrnehmung fallen“ (Butler & Spivak 2011, 8ff.).
Psychologisch resultiert aus diesem Verhältnis eine beinahe paradoxe Situation: die fast vollkommene Anonymität der Geflüchteten, die auch als Unkontrollierbarkeit begriffen bzw. dargestellt wird, erweckt bei den Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft Angst vor den unsichtbaren Fremden. Auch hier zeigt die aktuelle Debatte ein konkretes Beispiel: „In den Zentren kann sich jeder frei bewegen, raus darf aber niemand.“5
Wo Menschen sich nämlich grenzüberschreitend auf Wanderschaft begeben, wo sie fliehen, werden sie als Gefahr für